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Mausohrnächte: Ein Kriminalroman aus Norddeutschland
Mausohrnächte: Ein Kriminalroman aus Norddeutschland
Mausohrnächte: Ein Kriminalroman aus Norddeutschland
eBook379 Seiten4 Stunden

Mausohrnächte: Ein Kriminalroman aus Norddeutschland

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Über dieses E-Book

Das Leben der norddeutschen Samtgemeinde Klosterthal plätschert beschaulich dahin – sieht man einmal vom Lärm der Bundesstraße ab. Als der junge Biologe Robert Zerg den Auftrag erhält, die Fledermäuse im Vorfeld der Planung einer Umgehungsstraße zu untersuchen, ändert sich das. Zusammen mit der Volontärin der örtlichen Zeitung entdeckt er in einem Mausohrquartier auf dem Dachboden des Gutshofes das Skelett eines Mannes. Die beiden lösen mit ihren Nachforschungen heftige Reaktionen aus, die ein Drama aus Hass, Eifersucht, Gier und Verzweiflung heraufbeschwören. Davon unberührt fliegen Fledermäuse über dem Ort und helfen auf ihre Art bei der Suche nach der Wahrheit. Ein Fremder, der nachts durch die Gegend schleicht und Fledermäuse auskundschaftet, ist schon Unruhe genug. Dass nun auch noch genau dieser Fremde eine Leiche finden muss, lässt die friedliche Fassade Klosterthals bröckeln. Nach kürzester Zeit stehen in dem einst so friedlichen Städtchen nicht nur die Fledermäuse Kopf. Ein Kriminalroman, in dem Geschichte zur Gegenwart wird und die Gegenwart in der Vergangenheit versinkt.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Mai 2020
ISBN9783960451037
Mausohrnächte: Ein Kriminalroman aus Norddeutschland

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    Buchvorschau

    Mausohrnächte - Axel Roschen

    Ina

    Prolog

    Um ihn herum herrschte Stille. Eine fette Ratte mit struppigem braunem Fell kam zwischen Mauerresten hervor, langsam, unschlüssig, vorsichtig. Sie setzte sich auf die Hinterpfoten, der Schwanz stützte den Körper, schnupperte dabei, die Augen wachsam, in alle Richtungen und watschelte schließlich dicht an der Mauer aus seinem Blickfeld. Er lag, tief versteckt, unter einer der gewaltigen, verbogenen Stahlplatten, die von dreifachen Nietnähten überzogen waren und wohl einmal zum Rumpf eines Schiffes gehört hatten. Wie von einem wütenden Riesen in Stücke gerissen, lagen die Schiffsteile jetzt auf dem Kai verstreut. Direkt vor ihm blickte er durch bultige Grasbüschel auf die ausgeglühten, verbogenen Träger und Streben eines Ladekrans. Die Reihe der Lagerschuppen dahinter war ausgebrannt. Er meinte, der sanfte Wind trüge noch immer Brandgeruch in seine Nase, obwohl der Krieg nun schon zwei Jahre beendet war.

    Sein Versteck war unbequem, doch so gut gelegen, dass er aus dem Hafengebiet heraus auf kürzestem Weg in die sichereren Straßenzüge der Stadt gelangen konnte. Aber er müsste äußerst vorsichtig sein. Wenn er heute erwischt würde, wäre eine Reise nach Sibirien das Mindeste, was er zu erwarten hatte, wenn nicht kurzerhand die Hinrichtung als Verräter.

    Trotz der Hitze, die ihm nach dem gnadenlosen Winter jetzt, Anfang Juni, schwer zu schaffen machte, liefen ihm bei jedem unerwarteten Geräusch kalte Schauer über den Rücken. Ein Fahrzeug näherte sich und hielt. Der Mann sah in seinem eingeschränkten Gesichtsfeld die verdreckten Reifen und die untere Karosserie eines Jeeps, dann ein Paar Militärstiefel dahinter. Drei, vier Schritte, dann stoppten die Stiefel auseinandergestellt und ein satter Urinstrahl spritzte gegen einen eisernen Poller. Komisch, dachte er, dass Männer beim Pinkeln immer ein Ziel brauchen.

    Es wurde nur langsam dunkel, vielleicht eine Stunde müsste er noch hier verharren, aber er war sich sicher, dass er noch nicht vermisst würde, sonst würden sie ihn suchen. Die dicke Ratte lief wieder zwischen den Trümmern der Schuppen umher. Er schloss die Augen und dachte an seine Flucht und an das glückliche Leben danach.

    Mit dem Überfall der Deutschen auf Russland war er seinem Sinn für Gerechtigkeit und Ehre gefolgt und hatte sich freiwillig zum Dienst in der Roten Armee gemeldet. Sein damaliger Idealismus zerbarst unter der alltäglichen Brutalität, mit der der Krieg auf beiden Seiten geführt wurde. Als Ingenieur für Maschinenbau und Anlagetechnik, gebildet und kunstsinnig, blieb er ein Außenseiter. Die Kameraden legten seine Feinfühligkeit als Schwäche aus, seine Vorgesetzten sahen darin Feigheit und schikanierten ihn. Das hatte er beim langen Vormarsch nach Deutschland zu spüren bekommen. Ständig wurde er als einfacher Soldat in dem Pionier­Bataillon für die gefährlichsten oder widerlichsten Aufgaben eingeteilt. Mehr als einmal, zuletzt beim Brückenkopf über die Oder, hatte er nur mit Glück überlebt. Narben und ein geplatztes Trommelfell waren Erinnerungsmale.

    Wäre sein Bataillonskommandeur Hauptmann Viktor Ivanowitsch nicht gewesen, ein Verwandter im Geiste, wäre er längst desertiert. Wann immer möglich, rief der ihn zu sich und entriss ihn damit dem Sumpf von Mordlust, Hass und Not, mit Gesprächen über die bessere Zukunft nach diesem schmutzigen Krieg, über Kunst und Musik.

    Dann trat Anne-Marie in sein Leben.

    Auch diese Begegnung, die sein Leben fortan bestimmen sollte, hatte er seinem Gönner Viktor zu verdanken, der von seinen Fähigkeiten als Ingenieur und von seinen Deutschkenntnissen wusste, die er in den zwanziger Jahren bei einem Studienaufenthalt in Berlin erworben hatte. Viktor nutzte seine Verbindungen, um ihn weg von der Truppe an die Kommission zu versetzen. Nicht ganz ohne eigenen Hintergedanken, wie er am Tag seiner Abreise erfuhr, als der ihm den festen großen Umschlag anvertraute und den geheimen Auftrag gab. Einen Umschlag, von dem er wusste, was er enthielt und der seinen Rucksack zu einer bleischweren Last werden ließ.

    Das war vor über einem Jahr. Damals gelangte er, zusammen mit den anderen Mitgliedern der Kommission, die meisten Offiziere, andere Ingenieure in Zivil, in ein Zwischenquartier, wo sie mehrere Wochen verbringen mussten, bevor der Befehl zur Weiterfahrt in die Hafenstadt kam. Während seine Genossen nach ihrer Ankunft die langen Abende in dem prächtigen Gebäude bei wilden Gelagen verbrachten, zog er sich meist in die ländliche Stille des Parks zurück, um dem dröhnenden Lärm und dem rohen Gehabe zu entgehen. Dort traf er sie.

    Anne-Marie. Eines Abends sah er sie auf einer steinernen Bank vor der von Efeu überwucherten Mauer in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne sitzen. Anne-Marie. Blass, schlank und zart, wie eine zerbrechliche Glasfigur kam sie ihm vor, mit sanften Augen, deren dunkle Tiefen ihn sofort in den Bann zogen. Die langen Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten und in Schnecken gelegt, an jeder Kopfseite festgesteckt. Er sprach sie an, so sanft er konnte, um sie mit seinem fremdartigen Deutsch nicht zu erschrecken. Sie blickte auf, lächelte, und er setzte sich in einigem Abstand zu ihr auf den noch sonnenwarmen Stein. Ihr Lächeln und die unverbrauchte, fast noch kindliche Weiblichkeit ihrer Jugend ließen ihn Krieg und Gegenwart vergessen.

    Sie sprachen an diesem Abend nur über Belangloses, den friedlichen Sonnenuntergang, die Wolken, den ersten Stern am Abendhimmel. Er war bemüht, das Gespräch am Leben zu erhalten und ihre leisen Worte in der fremden Sprache richtig zu verstehen. Sie dagegen war glücklich, weil sich ein wunderschöner Ritter zu ihr herabgelassen hatte, dessen Haare und Bart von der tief stehenden Sonne durchstrahlt wie ein Glorienschein leuchteten. Sie, die Prinzessin in dem verwunschenen Schloss, träumte schon lange von dieser Begegnung. Der strahlende Ritter würde sie entführen. Sie wünschte nur, ihr Herz würde nicht so laut klopfen, um ihn nicht zu verschrecken.

    Als es dunkler und kälter wurde, legte er ihr seinen Armeemantel über die Schulter und begleitete sie zu einem Nebengebäude, wo sie mit ihrem Vater, dem Verwalter, der Mutter und dem jüngeren Bruder wohnte. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zur gleichen Stunde auf der Bank. Ihre Liebe zueinander wuchs mit jedem Abend, an dem sie sich heimlich trafen.

    Nachdem die Verlegung der Kommission befohlen wurde, versprach er ihr am letzten Abend, sie abzuholen und zu heiraten, sobald er die Armee verlassen könne. Nur wenige Monate, bat er, müsse sie warten.

    Anne-Marie beherrschte seine Gedanken von da an, auch wenn er von ihr getrennt seine neuen Aufgaben in Bremen erfüllte. Hier, in der amerikanischen Enklave, lernte er den für seine Vorstellung unermesslichen Reichtum der Amerikaner kennen, von dem er bisher nur eine vage Vorstellung gehabt hatte. Er sah die Schiffe und Laster voller Lebensmittel, Zigaretten, Schokolade, frischem Obst, Fleisch, Getreide, Anzügen, Hemden und Stiefeln. Der nicht enden wollende Warenstrom, der aus den Bäuchen der Versorgungsschiffe floss, ließ einen Entschluss in ihm reifen. In ihm wuchs die feste Überzeugung, dass es dort, wo die Quelle dieses Reichtums ihren Ursprung hatte, keine Not geben könne. Er beschloss, nach Amerika zu gehen, zusammen mit Anne-Marie.

    Um seinem Ziel näher zu kommen, lernte er Englisch in einem Sprachkurs für deutsche Verwaltungsbeamte und wurde Kontaktmann zur amerikanischen Militärverwaltung. Die Freundschaft zu einem der Adjutanten des Stadtkommandanten General Clay eröffnete ihm eines Tages die Möglichkeit, mit einem Truppentransporter von Bremerhaven aus nach New York zu kommen. Allerdings gab es nur einen Platz, nur für ihn, so die Bedingung. Er musste sich sehr schnell entscheiden, denn das Schiff sollte bereits in vier Tagen ablegen.

    Er entschied, die Gelegenheit zu nutzen und zu desertieren. Trotz des Risikos wollte er allerdings nicht abreisen, ohne Anne-Marie noch einmal zu sehen und sie in seine Pläne einzuweihen. Sein Freund, der Captain, gab ihm die notwendigen Papiere für eine Passage als Zivilperson auf dem Truppentransporter und die Anweisungen, wo und wann er in drei Tagen spätestens sein müsste, um auf das Schiff zu kommen. Ein Bündel mit Zivilkleidung schob er ihm über den Schreibtisch, eine letzte Geste zum Abschied.

    Das war gestern. Jetzt lag er in seiner alten Militäruniform, von der er sich als Vertreter der Siegermacht etwas Schutz versprach, in seinem Versteck. Das Kleiderbündel steckte zusammen mit Viktors Paket im Rucksack. Er hatte viele Nächte wach gelegen, um einen Weg zu finden, die Bitte seines Freundes zu erfüllen ohne seine eigenen Pläne zu gefährden. Er entschied sich für die Zukunft mit Anne-Marie. Das schlechte Gewissen blieb.

    Jetzt wurde es Zeit. Er musste die kurze Phase der Dunkelheit nutzen. Trotz der fremden Geräusche, die er nicht sehr weit von seinem Versteck entfernt zu hören glaubte, kroch er unter der Stahlwand hervor, setzte seinen Rucksack auf und lief, tief gebückt, nahe der Schuppenmauern Richtung Osten. Er folgte den von Schutt freigeräumten Pfaden durch die Ruinen einer Stadt, die nur aus geflammten Fassaden mit toten Fensterlöchern zu bestehen schien. Selten sah er Lichter hinter den Vorhängen. Um den Weg durch die Trümmerlandschaft zu finden, richtete er sich nach dem Kompass, einer seiner wenigen Habseligkeiten, von denen er sich nie trennen würde. Noch vor Sonnenaufgang war er sicher, den englischen Sektor erreicht zu haben.

    Der Mann beschloss, zunächst die Straßen zu meiden und sich ein Versteck für den Tag zu suchen. So nutzte er Heckenzüge und Baumreihen als Deckung, lief eine Zeit in einem fast ausgetrockneten Graben und kämpfte sich durch Brombeerranken im Unterholz eines kleinen Waldstücks, immer den Peilungen mit dem Kompass folgend. Im Licht des abnehmenden Mondes, die dichte Wolkendecke hatte sich inzwischen fast aufgelöst, fand er eine windschräge Feldscheune, mehr ein Verschlag, als Unterschlupf für den Tag.

    Zwar unbehelligt, aber deutlich später als geplant traf er in der folgenden Nacht am ehemaligen Quartier, einem Gutshof, ein. Das Dach des Herrenhauses zwischen den hohen Bäumen hob sich wie ein Scherenschnitt vor dem nächtlichen Himmel ab. Müde, schmutzig und zerstochen lag er unter einem süßlich duftenden, blühenden Holunderstrauch im Park und beobachtete das große Haus eine Weile. Alles war still, das Herrenhaus schien verlassen. Er beschloss, oben in der kleinen Kammer zu übernachten. Morgen würde er Anne-Marie treffen und bei den Eltern um ihre Hand bitten.

    Er fand die Eingangstür angelehnt, was ihn wunderte, denn das alte Türschloss schien noch intakt. So leise es ihm seine dicken Stiefel erlaubten, ging er durch die Halle und nahm den Bogen der Freitreppe in das Obergeschoss. Sein damaliges Zimmer lag am Ende des Flures zur Linken, abseits der prachtvoll ausgestatteten Räume. Die Hand schon am Türdrücker, hörte er hinter sich gedämpft Stimmen. Ein Schreck durchfuhr ihn und er griff zur Waffe, seiner alten Tokarev TT33. Er schob die nur angelehnte Tür auf der gegenüber liegenden Gangseite auf und sah hinein. Schwaches Mondlicht beleuchtete leere Schränke an den Wänden. Da war was.

    „Nun zeig schon, was wir haben, mach auf den Sack!"

    Ganz deutlich hörte er den Satz oben und sah im gleichen Moment die schmale Holztreppe. Der Bodenraum, zu dem die Treppe führte, war ebenfalls nur sehr spärlich durch Erker in den Dachschrägen erhellt. Das meiste Licht kam von einer Blendlaterne, die einige Meter entfernt von ihm auf den Holzdielen stand und eine Bretterwand anstrahlte. Außerhalb des Lichtkegels konnte er zwei Schatten ausmachen, die sich über etwas bückten.

    „Hol mal die Laterne!", sagte der eine gerade. Die Stimme klang jugendlich.

    „Was macht ihr hier?, brüllte er so laut er konnte und fast akzentfrei, während er die letzten Stufen der Treppe mit zwei Schritten nahm und auf die beiden Gestalten zuging. „Los, die Hände hoch und stellt euch ins Licht! Er spannte knackend den Hahn der Halbautomatik, um seiner Aufforderung Nachdruck zu geben.

    Zwei Gestalten traten zögernd ins Licht, die Hände über dem Kopf. Es waren Jungen, vierzehn, fünfzehn Jahre alt vielleicht. Der Größere dunkelhaarig und kräftig, der Kleinere mit lockigen blonden Haaren und auffällig abstehenden Ohren an dem schmalen Gesicht, beide ängstlich.

    „Wir, wir, wir … suchen einen Platz zum Schlafen, wir haben kein Haus mehr", stotterte der Größere zusammen, während der kleinere nickte oder zitterte, das war nicht zu unterscheiden.

    „Und warum seid ihr nicht unten im Ort, warum habt ihr dort niemanden nach einem Schlafplatz für die Nacht gefragt? Warum geht ihr einfach in ein unbewohntes Haus?", blaffte er die beiden an.

    „Bitte tun Sie uns nichts. Im Ort …, im Ort ist doch alles voller Flüchtlinge, ganze Trecks sind heute gekommen. Wir haben da nichts gefunden, keiner wollte uns nehmen. Die Leute haben uns zum Gut geschickt. Hier sei Platz, haben Sie gesagt", antwortete wieder der Größere. Im gleichen Moment schienen die beiden zu erstarren. Die Augen weit aufgerissen stand Überraschung in den Gesichtern.

    Sie blickten an ihm vorbei, bemerkte er, dorthin, von wo er ein leises Rascheln hörte. Er drehte den Kopf, allerdings verloren sich die elektrischen Impulse seiner Sehnerven schon im schwarzen Nichts. Er sah nicht, wie der Boden auf ihn zukam. Er spürte nicht den Schlag und auch keinen Schmerz. Er war tot, bevor er den Boden berührte.

    1

    „Näii, so wat gift dat nich bi us", quäkte es aus der Richtung zweier riesiger Ohren, die – getrennt von einer fleckigen Schirmmütze mit Karomuster, deren Grundfarbe einmal grün gewesen sein mochte – neben einem lächerlich kleinen, koboldartigen Gesicht schwebten. Zwischen den vom Frost geröteten Ohrlappen fielen die knollige Nase und der fast lippenlose Mund, aus dem die kalte Luft kleine Atemwölkchen zauberte, kaum weiter auf, zumal die wetterbraune Haut, ein Gewebe unzähliger Falten und Fältchen, alles wie ein Tarnnetz überdeckte. Erst aus der Nähe, nachdem das kleine Männchen in großen, schwarzen Gummistiefeln den Hofmatsch durchpflügt hatte, sah Robert zwei wache, wässrig grüne Augen, die dem Kopf doch noch ein Gesicht gaben und mit denen er nun von Kopf bis Fuß gemustert wurde.

    Der könnte ohne weitere Verkleidung als Hauptzwerg im Weihnachtsmärchen von Schneewittchen auftreten, dachte Robert, nee, besser den Alberich als Wächter des Nibelungenschatzes abgeben, so wie er da mit seiner Forke steht. Vier Zinken gegen mich.

    Robert sah und spürte den Argwohn und das tiefe Misstrauen in den Augen und in der Haltung seines Gegenübers, den er wohl bald um zwei Köpfe überragte. Die Beinröhren der blauen, verschlissenen Drillichhose steckten in Kniehöhe in den Gummistiefeln und beutelten sich dort so auf, dass sie bei jedem Schritt aneinanderflappten. Eine geflickte Blaujacke aus dem gleichen Material war zwei Nummern zu groß, denn obwohl die Ärmel umgeschlagen waren, trug er jeweils einen Gummiweckring als Ärmelhalter über den Ellbogen.

    „Kiek man bi de Naber in de ole Schün, door geft dat bannig Fladdermus", kam jetzt noch hinterher.

    Immer die gleiche Leier, dachte Robert, während er sich möglichst freundlich bedankte und seinen Kopf in die gezeigte Richtung drehte.

    Ich hätte besser die Analyse von Vielfalt und Verbreitung bäuerlicher Kopfbedeckungen als Auftrag bekommen sollen, dann wäre ich heute schon fertig mit der Arbeit. Oben auf der Geest, gab es viel fesche Strohhüte mit hochgezogener Krempe und Pepitahüte jeder Machart. Näher an der Niederung war der Typ ‚Landser‘ mit ein oder zwei Hirschhornknöpfen an den zusammengelegten Ohrenklappen vorn über dem Mützenschirm verbreitet. Elbsegler gab es nur einen, dafür aber alle Varianten von Prinz­Heinrich­Mützen. Jungbauern trugen Baseballcaps, selbst gestrickte Pudelmützen mit und ohne Bommel fanden noch diverse Köpfe, um dieselben zu schützen. Keinen Vertreter der bäuerlichen Zunft hatte er bei seiner ersten Runde im Ort ohne Kopfbedeckung angetroffen. Er riss sich aus den Gedanken, als ihm auffiel, dass er die ganze Zeit ohne ein Wort zu sagen dem Gnom gegenübergestanden war, der sich seinerseits wohl Gedanken machte, wie er diesen Lästling nun loswerden würde.

    Robert gelang es schnell, in das Hier und Jetzt zurückzukehren und rekapitulierte den Grund, weshalb er gerade auf einem von Schneematsch und Mist bedeckten Hof vor der großen Scheune mit den weißen Pferdeköpfen im Giebel links und rechts vom Tor stand.

    Eine große, füllige Frau von vielleicht vierzig Jahren hatte ihm vorhin auf sein Klingeln hin die Eingangstür am Wohntrakt des Hofes geöffnet und ihn mit fragendem Blick angegefalteten Zeitung mit der Überschrift „Vermietungen: „Gemütlich möbliertes Zimmer mit Familienanschluss langfristig zu vermieten, und fragte, ob das angebotene Zimmer noch frei sei. Sie nickte offensichtlich freudig überrascht und führte ihn eine schmucklose, unter ihrem Gewicht knarrende Holztreppe hinauf ins Dachgeschoss.

    Die einfache Einrichtung des offerierten Zimmers hätte er akzeptieren können, doch als er auf seine Frage nach einer Waschgelegenheit den Teil „Familienanschluss" aus der Annonce kennenlernen durfte, zerschlug sich jegliche Kompromissbereitschaft. Der jungen Frau schien dieses Thema ebenfalls unangenehm, weshalb sie wohl begann, schneller zu reden.

    Sie war die Jungbäuerin, wie Robert ebenfalls erfahren durfte, hatte mit ihrem Mann den Hof vor einigen Jahren von ihrem Schwiegervater übernommen und für den verwitweten Altenteiler das Dachgeschoss ausgebaut. Dessen Bad sollte Robert mitbenutzen.

    Trotz der Beteuerung der Vermieterin, ihr Schwiegervater sei sauber, liefen Robert bei den Gedanken an ein Wasserglas mit Zähnen auf der Glasablage vor dem Spiegel, wie er es noch von seiner Oma her kannte, und anderer Berührungspunkte mit dem menschlichen Verfall, Schauer des Ekels den Rücken hinunter. So floskelte er sich mit: „Entscheidung erst, wenn alle Angebote besichtigt" und so weiter die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, wo er auf dem großen Hofplatz auf den gemütlichen Hausanschluss in persona traf.

    Im Moment jedenfalls wiesen ihm die spitzen Zinken der Forke die Richtung für den Abgang. Er schwang sich auf sein altes Brennabor­Damenfahrrad, das er in seinem Kombi mitgebracht hatte, und radelte den Geestweg hinab Richtung Ortsmitte, die im Tal der Liene auf der anderen Seite der Bundesstraße lag.

    Irgendwo nahe der Kirche St. Marien musste der Nonnenkamp liegen, die letzte Adresse auf seiner Liste, die er an den Schluss seiner Suche gelegt hatte, weil dort weder eine Telefonnummer noch eine weitere Angabe außer „Zimmer möbliert zu vermieten, Nonnenkamp 4" zu lesen stand. Er suchte sich seinen Weg durch das kleine Zentrum von Klosterthal und begann trotz dicker Jacke, Handschuhen und der Bewegung beim Radfahren zu frösteln, denn der Wind hatte an diesem späten Märztag zugenommen und brachte eine unangenehme feuchte Kälte mit sich, gegen die keine Bekleidung half. Er fand den Nonnenkamp etwas südlich der Kirche, eine schmale mit Kopfsteinen gepflasterte Straße, die in einem Bogen zum Wald oberhalb der Ortsbebauung führte, wo auch die Klosterruine stand.

    Mit einiger Mühe entdeckte er schließlich die Hausnummer auf einem emaillierten Schild am Briefkasten, der fast vollständig in eine über zwei Meter hohe Weißdornhecke eingewachsen war. Gleich daneben befand sich ein schmiedeeisernes geschwungenes Gartentor. Robert musste einige Kraft aufwenden, um das quietschende Tor über die aufgeworfenen Pflastersteine des Gehwegs zu heben, um es wenigstens so weit zu öffnen, dass er sich hindurchzwängen konnte. Er fand sich in einem halbverwilderten, für ihn wunderschönen Garten wieder. Es brauchte wenig Phantasie, sich diesen Ort anstelle der herrschenden trüben Zeit mit den schmutzigen Schneeresten im satten Grün des Sommers vorzustellen. Rechts standen prächtige alte Obstbäume auf einer wenig gemähten Wiese, die von großen Staudenbeeten eingefasst wurde. Links demonstrierten die wuchernden Buchsbaumsäume eines Gemüsegartens für mehr Grün im Winter.

    Um auf dem bemoosten Pflasterweg zum Haus zu gelangen, musste er ein Rosentor durchqueren und in seiner Vorstellung konnte er fast den schweren Duft der üppigen dunkelroten Blütenpracht riechen. Robert hielt sich nur mit Mühe davon ab, diesen Garten sofort für sich zu entdecken.

    Hier möchte ich wohnen, dachte Robert, egal wie das Zimmer aussieht. Er nahm die Stufen zum Eingang. Fünf blattartig geformte, facettierte Scheiben waren zu einer Blüte mit in Holz geschnitzter Nabe gestaltet, darunter waren zwei fein gearbeitete Holzkassetten. Das Ganze grün­weiß abgesetzt machte die Haustür zu einem prächtigen Einzelstück. Mittig neben dem massiven Türdrücker war ein drehbarer Klingelknopf eingelassen. Auf dem Messingschild daneben stand „Drees". Sinnig, dachte Robert, gleich mit Bedienungsanleitung. Er drehte und ein schrabbelndes Klingelgeräusch tönte innen.

    Es dauerte eine kurze Weile, bis Licht durch die Scheiben zu sehen war und ein trotz seines krummen Rückens immer noch großer Mann mit schlohweißem Haar die Tür halb öffnete. „Ja, bitte?"

    „Ich heiße Robert Zerg. Ich habe in der Zeitung Ihre Annonce für ein Zimmer gelesen und möchte fragen, ob es noch frei ist?", begann er vorsichtig und hoffte inständig, dass dies auch noch so sei.

    Der große Mann drehte sich ohne zu antworten halb um und rief, den Türflügel fest in der Hand, „Meta, da ist jemand wegen der Wohnung von unserm Walter."

    Eine Tür seitlich gleich links neben dem Hauseingang wurde geöffnet und Robert konnte im Halbdunkel des Gangs eine kleine Gestalt wahrnehmen. „Hinni, nun lass den jungen Mann doch erst mal reinkommen und mach die Tür wieder zu, die ganze Kälte kommt doch ins Haus. Der Winter ist schon teuer genug", schimpfte sie.

    Kein Zweifel, sein Kommen war schon durch die Gardinen bemerkt worden. Er war froh, nicht seinem ersten Verlangen nach einer Entdeckungstour durch die Gartenwildnis gefolgt zu sein. Der Mann öffnete die Tür ganz und bat Robert hinein. Die Frau vor ihm war klein, höchstens einsfünfundsechzig groß, schlank, mit einem von Lachfältchen übersäten Gesicht in denen dunkelbraune Augen lebhaft funkelten, das weiß­graue Haar zu einem Knoten zurückgebunden. Sie trug eine dicke, wollene rote Weste, die von drei länglichen Hornknöpfen zusammengehalten wurde, über einer weißen Bluse. Unter dem dunklen Rock schauten bunte gestrickte Wollsocken hervor, die in braunen Filzpantoffeln steckten. Der Mann, mit gleichen Filzpantoffeln beschuht, trug erdbraune Cordhosen mit dunkelblauer grober Strickjacke unter der ein weißes, fein gestreiftes Hemd mit altmodischem Stehkragen hervorlugte. Er wolle Robert in den Raum links führen, doch die Frau verhinderte dies resolut, bevor sie mit den Worten: „Hinni, nun wies den jungen Mann doch in die gute Stuv, ich sett noch eben Water op", ins Hintere des Hauses verschwand.

    „So. Na, denn kommen Sie man hier herein", sagte der große Mann langsam und öffnete dabei die Tür zur Rechten. Robert betrat den Raum, wo ihn die schlichte Pracht der fast ebenholzschwarzen, reich verzierten Möbel überraschte. Alles war alt, aber sehr gepflegt, der Dielenboden neben dem dicken Teppich auf dem die Sitzgruppe stand, blank gebohnert. Allein die Kunststoffabdeckungen auf dem Plüschsofa an der Wand und auf den drei schweren, ebenso plüschigen Sesseln irritierten ihn.

    „Nun setzen Sie sich man hin, nich, Meta muss ja gleich kommen. Damit war klar, wer hier im Haus das Sagen hatte, schloss Robert. „Wo kommen Sie denn her?, fragte der große Mann, der immer noch neben der geschlossenen Tür stand.

    „Aus Bremen, antwortete Robert, „ich habe hier in Klosterthal für das nächste Jahr Arbeit und suche jetzt ein Zimmer für die Zeit.

    „So, antwortete der Alte nicht unfreundlich und dachte sich dabei anscheinend seinen Teil, ohne weiter auf das Thema einzugehen. Dann überwog aber wohl doch seine Neugier als er fragte: „Und was sind Sie von Berufs wegen?

    „Ich bin Biologe und habe gerade meine Promotion an der Universität Bremen beendet und jetzt hier einen Auftrag angenommen."

    „So", sagte wieder der Große, ohne seinen Stehplatz neben der Tür zu verlassen.

    „Sie haben aber einen wunderschönen Garten, eine gepflegte Wildnis", steuerte Robert ein anderes Thema an, um sich dem Thema Mietobjekt zu nähern.

    „Oach ja, wir sind ja man alt und versuchen noch man alles ein büschen in Ordnung zu halten. Den Garten, den hat mein Vater schon angelegt", kam die Antwort.

    Also Garten, dachte Robert. „Im Vorbeigehen habe ich schöne alte Obstbäume gesehen. Das sind sicherlich Apfel­ und Pflaumenbäume. Ist die Obstwiese auch schon von ihrem Vater angelegt worden?"

    „Ja, Obst gab es dies Jahr auch viel. Ich komm ja man nich mehr so gut auf die Leiter auf wie früher. Die meisten Äpfel haben wir der Schule gegeben, so fünf, sechs Zentner waren das wohl, damit die man Saft daraus machen lassen, wir essen ja auch nicht mehr so viel."

    Nicht ganz die Antwort auf seine Frage, aber immerhin kam jetzt langsam ein Gespräch zustande: „Was, sechs Zentner und die haben Sie alle gepflückt?"

    „Oach ne, wo denken Sie hin, das war das gute Fallobst, das gepflückte Obst haben wir eingelagert und ein paar Nachbarn, die holen sich immer mal ein paar Stiegen. Wir haben ja mehr als genug, nich. Dies Jahr hat der Boikenapfel gut getragen und der Rote Boskop war spät."

    „Boikenapfel, die Sorte kenn ich nicht, kommt der von hier?"

    „Oach, mein Vater, der hat ja viel mit dem Obst gemacht, der konnte das noch, so veredeln und pfropfen. Der Boikenapfel, den hat er mal aus Bremen mitgebracht und ihn zusammen mit dem Wohlschmecker auf eine Stammunterlage gebracht. Im September gib es dann erst den Wohlschmecker, der kommt von der Elbe, und dann kommt der Boikenapfel. Immer wenn er unterwegs war, hat er nach alten Obstsorten gesucht und sich dann Reiser mitgebracht. Aber unser Boden, der gibt nicht so viel her, hat er gesagt, da sei man zu wenig Lehm inn."

    „Und wie viel Apfelsorten haben Sie hier im Garten?"

    „Oach, man so dreißig Äpfel und sieben Birnen, verschiedene Pflaumen und Zwetschgen, macht man alles viel Arbeit und wir können nun ja nicht mehr so."

    „Hinni, hast du dem Herrn Doktor noch nicht einmal die Jacke abgenommen? Nun sei doch nicht so stieselig und sett die man op die Bank", kam der Befehl von der Tür.

    Klare Sache, dachte Robert, sie waren belauscht worden, den Doktortitel hatte er doch ihr gegenüber gar nicht erwähnt, oder?

    Mit: „Sind Sie denn schon verheiratet?", wurde ein scharfes Kreuzverhör eröffnet, dem Robert sich nicht entziehen konnte, bis er seine Familiengeschichte und seinen persönlichen Werdegang ausführlich beschrieben hatte. Wohl

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