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Seestadt
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eBook314 Seiten4 Stunden

Seestadt

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Über dieses E-Book

Nach dem Mord an seiner Frau zieht es Dr. Kittel-Kellermann in die Seestadt, einen eben erst hochgezogenen Stadtteil, wo er ein neues Leben beginnen will. Alles dort ist noch am Anfang, scheinbar ideal für einen wie ihn. Aber ausgerechnet an diesem Ort, wo alles so voller Verheißung ist, bricht das Grauen durch.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum21. Sept. 2016
ISBN9783902924650
Seestadt

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    Buchvorschau

    Seestadt - Fritz Lehner

    Inhalt

    Impressum

    Sonnenallee

    Susanne-Schmida-Gasse

    Agnes-Primocic-Gasse

    Schenk-Danzinger-Gasse

    Maria-Tusch-Straße

    Ilse-Arlt-Straße

    Janis-Joplin-Promenade

    Über den Autor

    unveränderte eBook-Ausgabe

    © 2016 Seifert Media GmbH, Wien

    1. Auflage (Hardcover): 2016


    Cover: Rubik Creative Supervison, unter Verwendung von zwei Fotos von Fritz Lehner

    Verlagslogo: Padhi Frieberger


    ISBN: 978-3-902924-65-0

    ISBN des Hardcovers: 978-3-902924-55-1


    Seifert Media GmbH

    Ungargasse 45/13

    1030 Wien


    www.seifertverlag.at

    facebook.com/seifert.verlag

    Sonnenallee

    Die Flammen loderten auf und erfassten die Papiere. Belangloses Zeug, aber doch aus Kellermanns Vergangenheit. Dann kamen die ersten Briefe, einer nach dem anderen wurde ins Feuer geworfen. Sie alle trugen noch die alte Anschrift und den Namen eines Menschen, der Kellermann nicht mehr sein wollte. Dr. Hannes Kittel verbrannte nicht nur auf Kuverts, sondern auch in einem Packen von Rechnungen, Dokumenten und Einladungen zu Ärztekongressen. Die Änderung seines Namens hatte Kellermann einiges gekostet, wenn es ihn auch erstaunte, wie leicht es war, ein anderer zu werden. Jeder in diesem Land konnte sich durch entsprechende Anträge bei den Behörden verwandeln, sein früheres Dasein abwerfen, ein neues Leben beginnen. Dr. Hannes Kellermann, bis zu seinem 40. Lebensjahr Dr. Hannes Kittel, war zur Verwandlung gezwungen gewesen, wenn er mit Zuversicht in seine Zukunft blicken wollte. Das betraf nicht nur das Äußere, auch der Mensch in ihm musste ein anderer werden. Dem glücklichen Leben zugewandt, weg von diesen Gedanken, die mit dem Tod zu tun hatten.

    Kellermann zögerte, aber dann warf er doch die Zeitungen auf den Scheiterhaufen. Sie fächerten und blähten sich auf, und für ein letztes Mal kamen die Schlagzeilen und Bilder zum Vorschein. Die Flammen ergriffen das Gesicht des Angeklagten, aber in keinem war Kellermann erkennbar, denn auf den Fotos trug er als Dr. K. schwarze Balken über den Augen, und er war in den letzten Jahren um einiges schlanker geworden. Das Training im Gefängnis hatte sich gelohnt. Er hatte nicht nur die sechs Jahre überlebt, sondern war attraktiver geworden. Noch mehr Anthony Perkins. So hatten ihn schon damals seine Studienkollegen genannt, später die Assistentinnen im Operationssaal, nur seine Zellengenossen waren nie auf diese Idee gekommen. Hier, in seinem neuen Leben, dachte bei seinem Anblick niemand an Anthony Perkins, dazu waren dessen Filme zu alt und das Schauspielergenie auch schon zu lange tot. In der Seestadt hätte er Bruce Willis ähnlich sehen müssen, um aufzufallen, oder Tom Cruise. Aber Dr. Kellermann war weder der eine noch der andere sondern ein neuer Mensch mit einem neuen Lebensgefühl in einer neuen Stadt.

    Kellermann konnte die Seestadt jetzt nicht sehen, weil es Nacht war, weil das Feuer ihn blendete und er sich zudem an die zehn Gehminuten entfernt in einer tiefen Baugrube befand. In dieses Loch, das so groß war wie zwei oder drei Häuser, die erst erbaut werden mussten, hatte es ihn verschlagen, weil es in seiner Wohnung in der Sonnenallee zwar alles gab, was man für das neue Leben brauchte, aber keinen herkömmlichen Ofen mit einem Abzugskamin für den Rauch eines Feuers, keine Möglichkeit, seine Vergangenheit zu verbrennen. Auch der Grill auf dem Balkon wäre keine Lösung gewesen, denn Papierstapel und Zeitungen machten höllisch viel Asche, und Teile flogen sogar durch den Auftrieb und bei leichtestem Wind davon. In den engen und blankgefegten Gassen der Seestadt könnte ihm das zum Verhängnis werden. Hier hingegen waren die halb verkohlten Blätter Krähen ähnlich, die irgendwohin flatterten, zerbrachen und keinen Schaden anrichteten. Der Flammenschein lockte nicht einmal Jugendliche an. Wenn sie Feuer sehen wollten, machten sie es sich normalerweise selbst, zu laut dröhnender Musik, irgendwo am Rand des Sees oder auch auf der winzigen Insel inmitten des grünlichen Wassers, das auf allen Prospekten im herrlichsten Blau schimmerte.

    Das Grundwasser der Baugrube hatte längst seine Schuhe durchnässt. Es war Zeit, dass er das von Baggern und Caterpillars gegrabene Tal mit den hohen Wänden aus Sand und Schotter verließ und nach Hause ging, vielleicht besser zurück in die Sonnenallee lief, denn er konnte es sich nicht leisten, zu spät in seine Wohnung zu kommen. Obwohl, noch gab es widerborstige Dokumente, die nicht brennen wollten, die keinem in die Hände fallen durften. Ein Blick darauf, und schon konnte ihm ein bis heute gut gesinnter Nachbar zum Feind werden. Jeder in der neuen Stadt. Jeder von den paar tausend neuen Bewohnern, die ihre Seestadt liebten, weil sie sich für sie entschieden hatten. Alles Pioniere, vor dem Einzug in die noch nach Farbe riechenden Wohnungen hatte keiner den anderen gekannt, und ihr Zuhause sah auch etwas nach Wildem Westen aus. Rundum Steppe, nichts als Ebene, und die hohen Häuser standen so eng beisammen, dass man an eine Wagenburg denken musste. In der man sicher war, nur umgeben von friedlichen Menschen. Da und dort vielleicht ein kleiner Überfall, eine Wand mit Graffities, eine heruntergerissene Fahne, ab und zu Schläge ins Gesicht eines Menschen, aber noch keine Messerstecherei, keine Schwerverletzten, nicht ein einziger Toter. Einen Mörder würde es in der Seestadt noch lange nicht geben. Vielleicht nie, denn auf dem Zeichenbrett der Planer und Architekten war ein solcher nicht vorgesehen, und auch in den Prospekten konnte Kellermann keinen entdecken. Er selbst war auch keiner. Verurteilt hatte man ihn wegen Totschlags. Aber das war ein Irrtum der Geschworenen gewesen. Acht Frauen und Männer hatten sich blenden lassen.

    Im Halbdunkel suchte Kellermann nach einem Ast oder Holzstock. Und er fand etwas, das viel geeigneter war: Ein verrostetes Stück Eisen, fast wie mit Korallen bewachsen, die es hier natürlich nicht gab. Das Ding war so lang wie sein Unterarm, dick wie drei oder vier Finger, vielleicht ein verwachsenes Rohr von der Baustelle oder eine abgebrochene Stange, wie sie aus anderen Gruben schon aus dem Stahlbeton ragte. Auf jeden Fall ein Fund, mit dem Kellermann die widerspenstigen Papiere bequem in die Glut drücken konnte. Auch die krähenartigen Aschenblätter am Rand des Feuers erschlug er damit. Er kam sich vor, als würde er Dr. Hannes Kittel so gründlich auslöschen, dass er nie wieder auferstehen konnte. Noch ein Hieb, dann noch einer und noch einer. Zum Abschied. Aber auch wie im Zorn. Das Stück Eisen in Kellermanns Hand fühlte sich gut an. Trotzdem warf er es weg. Es kollerte ins Sickerwasser, verschwand darin.

    Er blickte auf seine Uhr. Früher hatte er nicht einmal eine getragen, jetzt war sie einer seiner wichtigsten Begleiter. Neben dem Handy, das er ständig bei sich haben musste, auch nachts war es in der Reichweite seines Armes, sogar beim Duschen lag es statt der Seife in der Ablage aus Acryl. Jederzeit konnte es losschrillen, ihn aufschrecken, ihn daran erinnern, dass er Bereitschaft hatte. Dann kam stets eine Anweisung. Wo er sich einzufinden habe und wann. Dass ein neuer Zeitplan zu erstellen sei. Aber es wurde auch manchmal gefragt, wie er mit seinem neuen Leben zurechtkomme. Das war dann sein Betreuer. Oder sogar sein großer Mentor Hofstätter. Ihm hatte Kellermann alles zu verdanken. Was wie eine beglückende Freiheit aussah, war aber eine, bei der man ständig auf dem Sprung sein musste. Oft mit Herzrasen, nur weil man auf das Klingeln des Telefons wartete, das dann aber ausblieb. Und eine Stunde nach dem Einschlafen war es nicht nur einmal zu diesen schrecklichen Sekunden gekommen, in denen Kellermann aus Albträumen in eine noch bedrohlichere Welt gestoßen wurde. Durch das Versehen eines Beamten. Oder einen technischen Defekt. Weil in der Überwachungszentrale wieder einmal das Signal aufgeleuchtet hatte. Dann schrillte das Telefon, und sie kam, die Frage, die Kellermann so fürchtete: »Wo sind Sie?«

    Jetzt eben würde er alles unternehmen, um sie nicht zu hören. Aber dafür war es fast zu spät. Er hatte die Zeit übersehen. Schuld daran waren die widerspenstigen Papiere, das lahme Feuer, das sie nicht auffressen wollte, aber auch sein Herumrätseln, welches Stück Eisen er bis vor ein paar Minuten in der Hand gehalten hatte. Es war etwas Besonderes gewesen, kein magischer Stab, aber auch nicht bloß irgendetwas von einer der größten Baustellen Europas für eine Stadt der Zukunft, wie es in den Prospekten hieß. Bodenfunde wirft man nicht weg, man trägt sie nach Hause, reinigt sie, erforscht ihre Herkunft, taucht ein in ihre Geschichte, dachte er und merkte sich die Stelle in der Wasserlacke, wo er diesen geheimnisvollen Stachel versenkt hatte.

    10 vor 10. Er konnte es schaffen, er musste. Das war sein fester Wille. Man sollte ihm nichts anhängen können, keinen Schlechtpunkt in eine Liste eintragen, nach der man ihn dann negativ beurteilte. Ein anderer würde verzweifeln, weil die zusammengeschobene Seestadt zu weit weg war, doch er war als Sprinter gut. Zu seinem schnellen Denken kamen die schnellen Beine. Und eine Fantasie, die ihn dabei durch die Parks der Stadt, über Wiesen und sogar durch die Straßen von Los Angeles schweben ließ, hatte er ohnehin. Gerne stellte er sich dabei vor, neben dem dahintuckernden Peugeot Inspektor Columbos einherzulaufen und sich dabei sogar noch mit seinem liebsten Serienhelden zu unterhalten. Aber das waren nur Gedankenspiele gewesen, um sich die sechs Jahre zu verkürzen. Sie hatten trotzdem eine Ewigkeit gedauert.

    Kellermann lief noch schneller, weg von diesem Gedanken, hin zu seiner Stadt, in der er sein eigener Herr war, ohne Primar, ohne offene Herzen, dafür aber mit einer Heilmethode, welche die Medizin revolutionieren konnte. Mit Patienten, denen ohne Blutvergießen geholfen wurde, im größten Zimmer seiner neuen Wohnung, das Menschen mit schmerzverzerrtem Gesicht betraten und lachend verließen, mit Freudentränen in den Augen, mit einer unendlichen Dankbarkeit ihm gegenüber, dem Wunder Dr. Kellermann, dem Mann mit den heilenden Händen, dem Aura-Chirurgen, der mit seinen Skalpellen ohne Schnitt in das Fleisch in das Innerste der Menschen vordringen konnte. In das wahre Innerste. Auch die Adresse seiner Praxis hätte nicht besser klingen können. Sonnenallee.

    Kellermann kam sich wie ein Läufer bei olympischen Spielen vor, als er in die Sonnenallee einbog. Der Asphalt war griffig und glatt zugleich, ohne Spalt oder die üblichen Wasserrinnen, und Risse oder Narben gab es auch noch keine, ebenso wenig wie Schlaglöcher, denn es durften kaum Autos fahren. Wer hier stolperte, war selbst schuld. Die Sonnenallee war eben mehr Rennbahn in einem Stadion als Straße. Kellermann schätzte das. Statt Jubel von Publikum und Sportbegeisterten gab es aus den Fenstern das übliche Gezeter der Kinder, die noch nicht zu Bett gehen wollten, und von den Balkonen drang die Musik aus aller Herren Länder. Die Seestädter liebten die heißen Wochenenden, weil der See zur Geltung kam, aber Kellermann hasste diese Tage. Er war hier wohl der Einzige, dem es versagt war, in Sonnenöl getaucht auf den Schottersteinen am Ufer zu liegen oder ins warme Wasser zu gehen. Jeder hätte die Fußfessel bemerkt, die wie eine übergroße Armbanduhr locker und trotzdem fest genug am Knöchel saß. Auch hier sahen die Leute im Fernsehen genügend Kriminalfilme, um zu wissen, wie eine Fußfessel aussah und was sie bedeutete.

    Sein Mentor in der Justizanstalt hatte dafür gesorgt, dass er eine Wohnung in der Nähe der Kreuzung der Sonnenallee mit der Agnes-Primocic-Gasse bekommen hatte, im Zentrum des bisherigen Stadtteils, dem in den nächsten Jahren noch zwei oder drei weitere folgen würden, und für die man auch die Baugruben groß wie Fußballfelder und diese Wälder aus himmelhohen Kränen hinnahm, den Staub und Lärm aber verfluchte. Alles hier war am Anfang, nicht nur das Leben Kellermanns, und er fand es gut, dass die Seestadt mit ihm Schritt hielt, nicht zu langsam war, ihn aber auch nicht überholte. Neuland, wohin man blickte, und wahrscheinlich konnte er nirgendwo die Vergangenheit besser hinter sich lassen als hier. Aber es ging ihm weniger ums Vergessen als darum, sich mit dem zukünftigen Leben abzufinden. Vielleicht konnte sogar noch etwas Gelungenes aus ihm werden. Trotzdem graute Kellermann davor, nie wieder in einem Operationssaal mit einem Skalpell in Körper schneiden zu dürfen. Er könnte bestenfalls ein geliebter Heilpraktiker werden, wenn er auch mit der Aura-Chirurgie neue Wege betrat, in dieser Hinsicht ein Pionier war und sich so bestens in die Seestadt einfügte.

    Kellermann blickte auf die Uhr. Der Minutenzeiger rückte unbarmherzig voran, aber er hatte alle Chancen, es zu schaffen. Schon sah er den gelben Balkon seiner Wohnung im Hochparterre, über den sich noch sieben andere stapelten und ihn fast erdrückten. Aber so konnte man wenigstens bei einem Brand vom Balkon auf den Boden springen, ohne sich zu verletzen, und wenn Kellermann einmal die Schlüssel vergessen sollte oder sich aussperrte, würde er mit einem Klimmzug in sein Reich zurückehren. Jetzt aber fiel ihm ein, dass er auch am Balkongitter ein Schild anbringen sollte, das auf seine Praxis hinwies, und bald würde die Aura-Chirurgie in der Seestadt in aller Munde sein. Die Bewohner waren für alles Neue sehr aufgeschlossen, sonst wären sie auch wahrscheinlich nicht hierhergezogen, denn immerhin hatten sie die Absicht, ihr Leben in einer Retortenstadt zu verbringen, die am Reißbrett entstanden war. Doch wenn man in eine wirkliche Stadt wollte, brauchte man nur die nahe U-Bahn besteigen, und in einer guten halben Stunde war man im Zentrum von Wien. Kellermann hatte es noch nie getan. Auch andere machten es weniger oft als gedacht, weil sie am Abend meist zu müde waren und sie in der Seestadt ohnehin fast alles hatten. Bei ihm kam hinzu, dass er weder Arztkollegen begegnen wollte noch entlassenen Mithäftlingen.

    Jetzt war er endlich bei seinem Wohnhaus angelangt. Er hetzte die wenigen Stufen im Stiegenhaus hoch, weil der Lift zu lange gedauert hätte und für die paar Schritte auch nicht notwendig war. Oben öffnete er die Wohnungstür, sie schwang lautlos auf, aber ließ sich wieder nur mit einem satten Knall zudrücken. Kellermann hatte es geschafft. Auch heute war wie schon seit einem Monat der Fußfesselträger nicht auffällig geworden. In dieser Sekunde und exakt um 22.00 Uhr konnte der Sender an seinem Fußgelenk wieder mit dem Modem in seiner Wohnung Kontakt aufnehmen, und in der Überwachungszentrale würde kein Licht anfangen zu blinken, das sein Zuspätkommen gemeldet hätte.

    Kellermann verhielt sich mustergültig, aus Dankbarkeit Hofstätter gegenüber, oder vielleicht auch nur, um in seinem neuen Leben keine Schwierigkeiten zu bekommen. Manchmal dachte er, dass mehr dahintersteckte. Als müsste er sich beliebt machen. Genauso wie bei seinen Begegnungen mit anderen Menschen. Er war immer nett, hilfsbereit, und für Gespräche stets zu haben, auch wenn er die meisten selbst beginnen musste. Mit seiner Liebenswürdigkeit und seiner Unterwerfung an die Fußfessel baute er an einem Menschen, dem vielleicht noch Größeres bestimmt war, ein Weg hinaus über Grenzen der Seestadt. Damit meinte Kellermann nicht nur die der Seestadt, sondern auch die eigenen. Andererseits war er gerade deswegen hierhergezogen, um diese nie wieder zu überschreiten. Es musste doch möglich sein, ohne Tod auszukommen, dachte er bei sich.

    Er nahm ein Bad. Eigentlich durfte er nur duschen. Das war ihm beim Anlegen der Fußfessel eingetrichtert worden. Doch er roch derart stark nach der Einäscherung des Dr. Kittel, dass Wasserstrahlen aus einer Brause nicht genügt hätten. Es wäre für ihn unerträglich gewesen, seine Vergangenheit als Gestank mit sich herumzutragen und bei jedem Atemzug an diese dunkle Zeit erinnert zu werden. Obwohl sie ihm manchmal leuchtend vorkam. Nicht die Gefängnisjahre. Aber diese Sekunde vor dem Aufschrei. Dieser Augenblick, im wahrsten Sinn des Wortes. Kellermann hatte in seinem Leben nie etwas Aufregenderes gesehen. Ihren Augenblick. Brigittes Angst und Begreifen. Den Tod eines Patienten auf dem Operationstisch unter seinem Skalpell konnte man damit nicht vergleichen, denn diese Leute stierten mit leerem Blick narkotisiert und schmerzlos ins Leere. Brigitte hatte auch eine geweitete Iris, aber nicht weil sie entspannt war. Ein grüner Sternenkranz, der immer schöner wurde. Sie hatte in diesem Augenblick ihren Tod gesehen und vielleicht auch ihr ganzes Leben, zuletzt dann die vier Ehejahre mit ihm.

    Kellermann lächelte, streckte sich aus in der Badewanne, hob nur die Hand wie damals, bevor das Unglaubliche geschehen war, dachte jetzt weder an seine Vergangenheit noch Zukunft und hatte nur noch das größte Erlebnis seines Daseins vor sich. Er musste diesen besonderen Tod auskosten, weil Derartiges ihm nie wieder passieren würde und er auch alles unternahm, um einen anderen Weg zu gehen. Doch jetzt war es ihm erlaubt, in seine Erinnerungen einzutauchen, den Gebirgsbach in der Tiefe zu erblicken, den Wald der Rosengartenschlucht zu riechen, den Sprühregen und die Nebelschwaden des Wasserfalls zu spüren, Brigitte zum letzten Mal lebend zu sehen und dann ihren langen Schrei mit den vielen Echos von den Felsen zu hören.

    Das Telefon klingelte. Kellermann fluchte, griff aber nach dem Handy, das wie eine Klette an ihm hing, die er am liebsten im Badewasser versenkt hätte. Er nahm sich vor, artig zu sein. So war man es von ihm gewohnt, so sollte man ihn weiter erleben, darauf hatten die Menschen um ihn herum ein Anrecht, und wer weiß, wofür der höfliche Mensch in diesem Dr. Kellermann einmal gut war.

    »Wo sind Sie?«

    Die Stimme gehörte einem der schärferen Überwacher, die mehr bellten als redeten, auf nette Worte nicht reagierten und früher sicherlich einmal zu den meistgehassten Aufsehern im Gefängnis gezählt hatten. Die Frage traf Kellermann zudem wie ein Stich ins Herz, und sie war auch nicht ehrlich zu beantworten. Er konnte ja nicht sagen, dass er sich eben in der Rosengartenschlucht befand, und noch viel weniger konnte er dem bissigen Hund von der Schönheit des Todes von Frau Kittel erzählen.

    »Zu Hause.«

    »Das ist unmöglich.«

    »In der Badewanne.«

    »Das ist verboten. Ihre Fußfessel hat keinen Funkkontakt zum Modem.«

    »Durch das Wasser?«

    »Was sonst. Ich warte.«

    Kellermann streckte das Bein über den Rand der Badewanne und hoch hinauf.

    »Halten Sie sich in Zukunft an die Vorschriften.«

    Kein Danke, kein Gruß, nicht einmal eine Bestätigung, dass alles wieder in Ordnung war. Kellermann fragte sich, ob die wenigen Minuten des Funkausfalls in der Überwachungszentrale notiert wurden oder sein Versagen beim Beamten blieb, in dessen Gedächtnis. Würde sich der Mann mit der scharfen Stimme noch in ein paar Tagen daran erinnern können? Kam so etwas oft vor oder war er bereits auffällig? Dabei war er bestimmt der sorgfältigste Fußfesselträger. Andere gingen in Bars und Konzerte. Allerdings meistens angekündigt oder im Wochenplan vermerkt. Oder in ihrer Freizeit. Die hatte Kellermann ja auch. Von 17.00 Uhr bis 22.00 Uhr. Um die Dinge für das tägliche Leben zu besorgen. Um in einer Baugrube die Zeitungsartikel über den Tod seiner Ehefrau zu verbrennen, Bilder von einem Prozess in Flammen aufgehen zu lassen.

    Dabei hatte Kellermann gehofft, mit fahrlässiger Tötung davonzukommen, das hätte höchstens ein Jahr Gefängnis bedeutet. So aber wurden es durch einen wild gewordenen Staatsanwalt und unfähige Geschworene Totschlag und sieben Jahre, das letzte davon mit Fußfessel in der Stadt mit dem See, in der Kellermann nicht einmal in seine Badewanne steigen durfte. Auch der Balkon war ihm verboten worden. Weil es von dort aus keinen Kontakt zum Modem gab. Durch diese verdammte Schiebetür und den Rahmen aus Metall oder sonst eine Barriere, eine funktechnische Abschirmung oder ein anderes elektronisches Mysterium. Die Lösung des Problems blieb Kellermann überlassen. Er durfte seinen Balkon nur in seiner Freizeit betreten und nicht nachts nach zehn. Die Seestadt war eben nicht für Fußfesselträger entworfen worden, nicht für ehemalige Verbrecher und sicher noch weniger für zukünftige. Kellermann war der einzige Totschläger hier. Aber auch das traf nicht zu. Frau Kittel war von einem gewissen Herrn Dr. Kittel in die Tiefe gestürzt worden, ein Herr Dr. Kellermann hatte damit nichts zu tun. Er müsste nur nochmals hinaus, in die Baugrube, um die übriggebliebenen Belege einer finsteren Zeit zu verbrennen.

    Kellermann stieg aus der Badewanne. In Zukunft würde er in seinem Bett von Brigitte träumen müssen. Nicht das Leben mit ihr war so schön gewesen, sondern ihr überwältigendes Ende. Auch ihr zerschmetterter Körper hatte es in sich gehabt. Ein Traum für einen Chirurgen. Aber bei einem Bündel aus Haut, Fleisch, Knochen und Blut ohne einen Funken von Leben hätte auch Dr. Kittel nichts mehr ausrichten können.

    In Kellermann stieg jetzt wieder der Zorn auf. Wie schon so oft all die Jahre im Gefängnis. Weil Brigitte ihn mitgerissen hatte. In eine viel entsetzlichere Tiefe, verheerender als die Schlucht in diesem Tiroler Gebirge. Sie hatte ihn in die Bedeutungslosigkeit gestürzt. Welches Spital würde einen Totschläger beschäftigen? Welcher Patient würde sich von einem Chirurgen mit einer derartigen Vergangenheit öffnen lassen? Da hieß es, sich etwas einfallen lassen. Als Aura-Chirurg brauchte man eigentlich kein Studium, kein Doktorat, keine Praxis in einem Operationssaal, es genügte ein Kurs bei einem dieser Gurus. Auch den konnte man sich ersparen, ein paar Bücher taten es ebenso. Man konnte sie sogar im Gefängnis lesen, wie es Kellermann getan hatte, und seine heilenden Hände an Mithäftlingen ausprobieren. Über die Erfolge hatte er sich selbst am meisten gewundert. Seinen Mentor Hofstätter hatte Kellermann sogar von den wöchentlichen Migräneanfällen befreien können. Jetzt kamen die Seestädter zu ihm, weil er bereits eine kleine Legende war. Noch dazu ein richtiger Arzt, der von sich behauptete, das Vertrauen in die herkömmliche Medizin verloren zu haben und nur noch an die Aura-Chirurgie zu glauben.

    Aber vielleicht gab es doch etwas Besseres als diese Lüge, ein Zurück, wieder ein Leben als angesehener Arzt, Operationssaal statt Hinterzimmer, Großstadt statt Seestadt. Kellermann setzte sich nackt an den Schreibtisch seiner Aura-Chirurgen-Praxis, holte Papier und Stift hervor, überlegte, welchen seiner beiden Namen er schreiben sollte. Seine neue Unterschrift hatte er schon oft genug geübt, auch wenn er sie kaum noch brauchte, und Rezepte waren auch nicht auszufüllen. Doch jetzt kam es auf Klarheit an, auf gerade Linien, auf perfekte Kurven, da hatte die unleserliche Schrift eines Arztes nichts zu suchen. Blockbuchstaben mussten her, und wenigstens dieses eine Mal noch wollte er seine Vergangenheit nicht verleugnen und der sein, der er in Wirklichkeit war, ein Mann mit einem Doppelleben, mit einem Doppelnamen. KITTEL-KELLERMANN stand vor seinem inneren Auge.

    Aber noch hatte er diesen wunderschönen Schriftzug nicht vollständig zu Papier gebracht, da missfiel ihm schon der erste Strich. Er atmete durch, wie er es sonst nur als Aura-Chirurg seinen neuen Patienten empfahl, er schob die letzten Jahre fort, er strich die Worte Fußfessel und Badewanne aus seinem Gedächtnis und setzte von Neuem an. Als Volksschüler hatte er seine ersten Buchstaben auch geschafft, doch jetzt ging es nicht darum, eine unbeholfene Kritzelei zu Papier zu bringen, sondern das Werk musste aussehen wie gedruckt. Präzision war gefragt, und der Stift in seiner Hand war nichts als eine Krücke, ein Behelf, um nicht ein Skalpell nehmen zu müssen. Strich neben Strich, Schnitt neben Schnitt, Buchstaben ohne Blut, und es gab auch keine Äderchen zu durchtrennen und keine Herzwand zu öffnen.

    Das Ergebnis war schrecklich, niederschmetternd. Sein Name auf dem Blatt sagte Kittel-Kellermann alles. Er ekelte sich vor dem Anblick, er hasste die zittrigen Linien von einer heilenden, aber für die Chirurgie unbrauchbaren Hand. Brigitte hatte sie ihm verdorben, und im Gefängnis war sie ihm vollends verdorrt. Kellermann erstellte eine Diagnose über seine versteiften Gelenke und verlorene Feinmotorik und kam zu einem Ergebnis, das man einem Kranken nur schonend mitteilt. Tatsache war, was er seit Jahren im Gefängnis sich nicht nur einmal gesagt hatte: Er würde in seinem Leben nie wieder mit einem Stück Stahl in seiner ruhigen, fast schwebenden Hand in einen Menschen eindringen können. Einer wie er taugte höchstens dazu, mit einem Skalpell die Luft zu durchschneiden, die seine Patienten für ihre Aura hielten. Kellermann ging unblutigen Zeiten entgegen.

    Auch am nächsten Tag zogen keine Wolken auf, wie Kellermann gehofft hatte. Dieser Juli war unerbittlich heiß. Auch dieses Wochenende wieder strahlend schön. Wer immer es sich leisten konnte und die Lust dazu hatte, war an den See gegangen,

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