Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ihr Mord, Mylord: Lord Merridew ermittelt
Ihr Mord, Mylord: Lord Merridew ermittelt
Ihr Mord, Mylord: Lord Merridew ermittelt
eBook268 Seiten3 Stunden

Ihr Mord, Mylord: Lord Merridew ermittelt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

»Was haben wir denn da Feines?«
»Eine Tote auf dem Friedhof, Sir.«
»Ach, gehört die nicht genau da hin?«
»Das schon, aber sechs Fuß tiefer, Sir.«
»Ein Unfall?«, fragte Merridew unschuldig.
»Wohl kaum, Sir. Es sei denn, die Dame ist versehentlich in die Flugbahn einer Großwildpatrone gestolpert.«


Dieser übergewichtige Snob kann bisweilen eine richtige Nervensäge sein. Trotzdem ist Reginald Lord Merridew unbestritten einer der klügsten Köpfe Englands. Er löst seine Fälle ganz ohne die Hilfe von Computer oder Handy, denn wir befinden uns mitten in den Nifty Fifties, den Swinging Sixties und den Super Seventies.

Egal, ob jemand nach Shakespeare-Manier meuchelt, ob die Lösung zum Rätsel im Pie-Rezept verborgen ist, oder ob eine gestohlene Oscar-Statuette als Mordwaffe dient – Lord Merridew ist seinem Freund und Begleiter Nigel Bates stets um mehrere Nasenlängen voraus.

Diese amüsanten Kriminalerzählungen stecken voller raffinierter Anspielungen auf Literatur, Film und Fernsehen und sind durch-drun-gen von der tiefen Liebe des Autors zum British way of life.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Nov. 2016
ISBN9783954413362
Autor

Ralf Kramp

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt »Tief unterm Laub« erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-­Literatur-Festivals. Seither erschienen zahlreiche Kriminalromane und Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-­Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. Im Jahr 2023 wurde er mit dem Ehren-­Glauser für »herausragendes Engagement für die deutschsprachige Krimi­szene« ausgezeichnet.

Mehr von Ralf Kramp lesen

Ähnlich wie Ihr Mord, Mylord

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Ihr Mord, Mylord

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ihr Mord, Mylord - Ralf Kramp

    Walküre

    DAS GEHEIMNIS DES

    FÜNFKÖPFIGEN HUNDES

    Eine Reise an die Küste hatte mir bislang immer eine Menge Vergnügen und ein gewisses Maß an Entspannung in einem unserer Seebäder versprochen. Ich war nie ein Sonnenanbeter, und am Mittelmeer oder am Karibikstrand hätte mir die Angst vor einem Sonnenbrand von vorneherein jeden Spaß madig gemacht. Ich bin Engländer. Mir reichen 100 Sonnentage im Jahr. Ein wenig schlendern auf dem Pier, ein bisschen auf der Kiesbank in der Sonne dösen, salzige Seeluft und fangfrischer Fisch, das lockte mich üblicherweise an die Südküste, aber meine Reise nach Shoreham-by-the-Sea im beginnenden Herbst des Jahres 1951 war von anderen Vorzeichen getrübt. Das Wetter war scheußlich, die Seeluft roch modrig, mir war eher nach einem gemütlichen Kaminfeuer als nach ein paar kräftigen Schwimmzügen im grauen Wasser des Ärmelkanals.

    Was mich nach Sussex führte, war ein unerquicklicher kleiner Urheberrechtsstreit. Ein Bühnenkomödiant hatte sich gegen einen lächerlich geringen Betrag die Rechte an einem Theaterstück angeeignet, und der Verfasser dieser Klamotte versuchte jetzt, den Vertrag wieder rückgängig zu machen. Ich war noch sehr jung und neu im Geschäft und versuchte stets, allen Mandaten, mit denen mich unsere Anwaltskanzlei bedachte, etwas Positives abzugewinnen. In diesem Fall wollte mir das noch nicht so recht gelingen. Eine wenig erbauliche kleine Geschichte, die noch trübsinniger wurde, je mehr ich mich dem derzeitigen Wohnort des Stückeschreibers näherte.

    Lauri Wylie lebte offenbar an der Mündung des Flusses Adur. Es war Ebbe, und die meisten der Kähne, die im und um den Hafen von Shoreham aufgereiht waren, lagen trocken. Die Hafengebäude und Fabriken, die ringsherum angesiedelt waren, verstärkten das Gefühl von Trostlosigkeit. Immer wieder dröhnten die Flugzeuge, die auf dem nur einen Steinwurf entfernten Flughafen verkehrten, so niedrig über mich hinweg, dass ich das Gefühl hatte, ihre Tragflächen könnten mir einen Scheitel ziehen.

    An der angegebenen Adresse befand sich zu meiner Überraschung kein Wohngebiet, sondern eine schier endlos erscheinende Reihe von Wohnwagen und kleinen Hütten in verschiedenen Stadien des Niedergangs. Ich blätterte verunsichert in meinen Akten. Es war kalt, und der Wind spielte mit den Papieren. Doch, ich war hier offenbar richtig.

    Ratlos schritt ich die Reihen der Wohnwagen ab. Vor einem giftgrünen Vorkriegsmodell war jemand damit beschäftigt, Müll in einer rostigen Tonne zu verbrennen. Er war dick und unrasiert und trug trotz der Kälte nur ein fleckiges Unterhemd. Ich sprach ihn an. Er stand inmitten seines fürchterlich stinkenden Qualms und kratzte sich im Nacken, während ein junger Bursche, offenbar sein Sohn, weiteren Müll ins Feuer kippte. Ich glaubte, inmitten des Unrats sogar etwas zappeln zu sehen.

    »Wylie?« Der Mann deutete mit seinem glimmenden Holzspieß nach rechts. »Sechs Buden weiter. Der blaue Bedford isses. Un nich nur die Karre is blau«, mummelte er.

    Ich folgte seinem Hinweis und schritt, begleitet von ein paar ausgelassen kreischenden Möwen, die Reihe der Campingwagen ab. Schließlich fand ich das verrostete, alte Wohnmobil, um das ein altersschwacher Lattenzaun gezogen war. Das kleine Tor stand weit offen, und ich ging zwischen den vertrockneten Hortensienbüschen und Dahlien hindurch auf die schmale Eingangstür zu. Ich schrak zusammen, als ich erkannte, dass das, was dort zusammengeknüllt auf einem Klappstuhl ruhte, nicht nur ein Berg von zerschlissenen Decken war. Der kleine, kahle Kopf eines alten Mannes ragte aus dem Wust heraus. Er bewegte in einem fort die Lippen, als schnappe er nach Luft.

    Als ich näher kam, hörte ich ein kehliges Stöhnen.

    »Mister Wylie?«, fragte ich vorsichtig.

    Ich bekam keine Antwort. Stattdessen kam jetzt ein weiterer, stöhnender Laut, der von einem alarmierenden Gurgeln abgelöst wurde. Zwei dünne, weißliche Hände gruben sich unter den Decken hervor und zuckten durch die Luft. Die eine hielt einige kleine Zettel umklammert, die im Wind flatterten, und die andere wies unmissverständlich zur Wagentür. Die schmalen Lippen des Alten leuchteten so blau wie Heidelbeerkompott. Ich vermutete sogleich einen Herzinfarkt. Da galt es keine Zeit zu verlieren!

    Hastig riss ich die Tür auf und sprang ins Innere des Wagens. Wenn es Herzprobleme waren, fand sich hier sicher irgendwo eine Medizin. Drinnen empfing mich ein jämmerliches Szenario der Verwahrlosung. Ich sah halbvolle Schnapsflaschen, überquellende Aschenbecher und schmutziges Geschirr. Leere Büchsen und zerknüllte Zeitungen lagen in den Ecken aufgetürmt. Die hölzernen Wände und Schrankoberflächen waren mit vergilbten, zerknitterten Theaterplakaten dekoriert. Ich versuchte, irgendwo Medizin zu entdecken, aber alles was mir in die Hände fiel, waren zwei restlos leere Fläschchen, die einmal mit Herztropfen gefüllt gewesen waren.

    Schließlich stolperte ich unverrichteter Dinge wieder hinaus. Der Alte röchelte wieder, also lebte er immerhin noch.

    »Hören Sie, Mister Wylie, ich werde einen Krankenwagen rufen!«, rief ich, und wollte ihn beruhigend an der Schulter fassen, die ich da irgendwo unter dem Schottenmuster vermutete, da schnellte seine Linke plötzlich auf mich zu und packte unerwartet kraftvoll mein Handgelenk. Die zweite Hand überließ die kleinen Zettel, die ich in diesem Moment als Fotografien identifizierte, dem Wind, der sie sogleich davontrug, und griff nach meiner Krawatte. Der Alte zog mich zu sich hinunter und krächzte: »Tenterden! Sie müssen rasch nach Tenterden!«

    »Hören Sie, ich bin der Anwalt aus London. Ich werde jetzt …«

    In diesem Moment ertönte hinter mir eine donnernde Stimme: »Loslassen, Bürschchen!«

    Ich befreite mich aus dem Griff des Alten und fuhr herum.

    Der Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und breitbeinig auf dem kleinen Trampelpfad zwischen dem Gestrüpp stand, war groß, dick, und steckte in einem Dreiteiler aus Harris-Tweed. Er mochte etwa um die fünfzig Jahre alt sein und ballte seine Rechte um den Knauf eines Gehstocks. Sein pausbäckiges Gesicht war zornesrot, und sein bärtiges Kinn hatte er angriffslustig fast noch weiter nach vorne gereckt als seine deutlich zu krumm gewachsene Adlernase. So wie der Wind seine grauen Haare und die goldene Uhrkette, die sich über seinen prallen Bauch wand, hin und her tanzen ließ, sah er ein bisschen aus wie ein aufgeblähter Zeus, der im Begriff war, gleich ein paar glühende Blitze zu mir herüber zu schleudern. »Was zum Teufel machen Sie da?« Er kam näher. »Finger weg von dem Mann!«

    »Ich bin Anwalt«, sagte ich verzweifelt. »Nigel Bates von der Kanzlei Harringfield, Harringfield und Partner, London.« Ich reckte ihm meine Akten entgegen. »Ein Rechtsstreit. Ich habe Mr. Wylie nichts getan. Er hat offenbar einen Herzinfarkt oder so was.«

    Ruppig schob mich der Mann zur Seite, griff nach einem von Wylies Handgelenken, zog seine Taschenuhr hervor und blickte mit auf die Brust gelegtem Kinn auf das Zifferblatt.

    »Hm«, machte er. »Brauchen wohl einen Krankenwagen. Kümmern Sie sich mal. Rasch, es ist keine Zeit zu verlieren. Treiben Sie irgendwo am Hafen ein Telefon auf. Ich bleibe hier.« Ohne, dass ich es wagte, Protest einzulegen, nahm er mir die Akten ab und trieb mich mit einer unwirschen Geste an loszulaufen.

    »Und wer sind Sie?«, rief ich ihm im Fortgehen über die Schulter zu.

    »Mein Name ist Reginald Lord Merridew. Und jetzt legen Sie endlich einen Zahn zu, wenn Sie hier mit diesem Wrack noch ein Geschäft machen wollen!«

    »Tenterden? Wo soll das sein?«, fragte mich Lord Merridew, nachdem der Krankenwagen mit dem nur noch stoßweise atmenden Lauri Wiley davongefahren war.

    »In Kent, glaube ich.« Ich klemmte mir meine Aktenordner unter den Arm und nickte ihm zu. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Sir.«

    Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe. »He, Moment, was soll das heißen?«

    »Nun, ich muss wieder zurück nach London. In der Kanzlei wartet man auf meinen Bericht.«

    »Aber wir haben Freitagmittag!«

    Ich blickte auf meine Armbanduhr. »Gut, Sie haben recht. Das werde ich am Montag klären müssen.«

    »Na fein!«, trompetete er gut gelaunt. »Dann ist es also abgemacht. Wir unternehmen gemeinsam eine kleine Spritztour nach Kent! Mit dem Automobil werden wir in etwa zwei Stündchen da sein. Sie haben doch ein Auto, oder?«

    »Ja schon, aber ich …«

    »Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass es Sie gar nicht interessiert, warum der Alte Sie unbedingt nach Tenterden schicken wollte. Außerdem liegt es doch für Sie fast auf dem Weg.«

    »Also, wenn ich ehrlich bin …«

    »Hören Sie, ich bearbeite einen Kriminalfall, in dem dieser Mr. Wiley eine gewisse Rolle zu spielen scheint.«

    »Kriminalfall?«

    »Nun ja …« Er warf sich mit wichtiger Miene in die Brust. »Ich bin Detektiv. Genauso wie mein Vater, Gott hab ihn selig. St. John Lord Merridew, Sie werden sicher von ihm gehört haben.«

    Von einem Detektiv dieses Namens hatte ich keine Kenntnis. Ich kannte im Grunde genommen nicht einen einzigen dieser kettenrauchenden Schnüffler, die tagelang in ihren Autos hockten und fremde Wohnungen belauerten. Aber ich kam gar nicht dazu, das zu verneinen. Er drängte mich ungeniert weiter den Weg an den Wohnwagen entlang.

    »Tja, meinen Vater kannte ja nun wirklich jeder. Er war es immerhin, der Oleg Graysinski an den Galgen gebracht hat. Der Mord auf dem Tennisplatz? Hm?«

    Ich zuckte mit den Schultern.

    »Oder die Affäre um den Druse-Diamanten? Na sehen Sie! Hat seinerzeit alles mein Vater aufgeklärt. Ein Genie! Aber jetzt lassen Sie mich doch lieber mal zu unserem armen, todkranken Mr. Wiley kommen. Ich erhielt gestern einen telefonischen Hinweis, dass ich diesen Bühnenautor mal unter die Lupe nehmen soll. Ein ganz harmloser Bursche, wie es scheint. Aber eine gute Tarnung ist ja bekanntlich alles.«

    »Ach, Unsinn. Ich habe Wylie auch unter die Lupe genommen, wie Sie das nennen. Sein Konto ist so leer wie seine Medizinfläschchen, und hat er lediglich versucht, einen Urheberrechtsvertrag rückgängig zu machen, weil er sich über den Tisch gezogen fühlt. Da gibt es kein großes Geheimnis.«

    Eine übelriechende Wolke wehte über den Weg. Der Mann von vorhin blickte von seiner Feuertonne auf, kam ein paar Schritte auf uns zugeschlurft und fragte: »Krankenwagen bei Wylie, was? Hat’s den alten Zausel jetzt endgültig aus den Latschen gehauen?«

    Der Junge an seiner Seite bohrte ungeniert in der Nase, und im Hintergrund begann eine verlottert aussehende Frau damit, gleich neben der qualmenden Tonne Wäsche aufzuhängen.

    »Das Herz wahrscheinlich«, gab ich bereitwillig Auskunft.

    Er lachte schnarrend. »Herz, jaja. Vorhin, als die Frau da war, hat er jedenfalls noch munter Schnaps gepichelt.«

    »Welche Frau?«, fragte Merridew rasch.

    »So ne Frau eben. War zu Besuch bei ihm. Gute Laune. Haben nen Schnaps getrunken. Un als sie wieder weg is, hat er ihr hinterhergewunken. Da hinten, beim Gartentörchen.«

    »Wie sah diese Frau aus?«

    Der Mann rieb sich das filzige Kinn und guckte seinen Jungen an. »Könn’ wir uns gar nicht dran erinnern, was, Junior?«

    Missmutig schnaufend zog Lord Merridew die Brieftasche aus dem Jackett und reichte dem Mann daraus eine Pfundnote hinüber. Der griff mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit danach, aber der Geldschein wurde einen Moment lang in der Luft hin und her gezerrt.

    »Junges Ding, braune Haare, griffiges Figürchen«, ergänzte der Mann. Seine Frau im Hintergrund räusperte sich vernehmlich.

    »Weiter«, sagte Merridew und hielt das Geld unerbittlich fest.

    »Hatte nen Mantel an. So ne Farbe wie …«

    »Wie so Himbeerlollis«, sagte sein Sohn schnell und versuchte jetzt ebenfalls nach dem Schein zu grabschen.

    »Nee, eher wie so’n schön gebrutzeltes Steak innen drin rosa is!« Der Mann schlug seinem Sohn auf die Finger.

    »Alles Quatsch! Malvenfarben, so wie das Kleid von der Begum, als die letztens in London war«, blaffte die Frau, schnappte sich den Schein und stopfte ihn in den Ausschnitt ihrer fadenscheinigen Bluse.

    »Die hatte nen Fotoapparat dabei«, sagte der Junge. »War vonner Zeitung oder so, garantiert.« Er streckte erwartungsvoll die flache Hand aus, aber seine Mutter versetzte ihm eine Ohrfeige und jagte ihn in den Wohnwagen.

    »Mehr is nich«, sagte der Mann jetzt und begann wieder in der Tonne herumzustochern.

    Lord Merridew nickte zufrieden und zog mich sanft am Arm weiter in Richtung Parkplatz.

    »Fotoapparat«, brummte er und hielt mir ein paar aufgefächerte Fotografien vor die Nase. »Schauen Sie mal hier.«

    »Sind das etwa die Bilder, die …«

    »… Lauri Wiley in der Hand hatte. Als ich vorhin zu Ihnen stieß, war gerade der Wind dabei, sie im Vorgarten zu verstreuen. Ich bin auf allen Vieren durch diese Steppe von einem Garten gekrochen, um sie wieder aufzusammeln. Erkennen Sie, was darauf zu sehen ist?«

    Während des Gehens fiel es mir nicht leicht, Einzelheiten auszumachen. »Grabsteine?«

    »Ganz recht!« Er blieb abrupt stehen und tippte auf die Bilder. »Drei Fotografien, drei Grabsteine … und nur ein einziges Datum!«

    Ich betrachtete die Fotos genauer. Die eingemeißelten Namen und Geburtsdaten waren völlig unterschiedlich, aber das jeweilige Sterbedatum war stets der 17.7.1936.

    »Warum fotografiert jemand Grabsteine?«

    Er schnaufte verächtlich. »Mit solch plumpen Fragen kommen wir hier nicht weiter, mein lieber Nigel, wenn ich Sie so nennen darf. Warum sammelt jemand Lokomotivnummern? Warum bannt jemand gräulich klingende Vogelstimmen auf Tonband? Warum kleben Menschen Apfelsinenpapier in dicke Sammelalben? Unsere Welt ist doch voll von Beklopptheiten. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass es sich hier nicht um einen simplen Spleen handelt. Dass diese drei Personen exakt am selben Tag zu ihren Ahnen abgedampft sind, scheint mir ein wichtiger Aspekt des Rätsels zu sein! Ich werde Ihnen im Auto alles Wissenswerte erzählen. Wo steht der Wagen?«

    Ich deutete in die Richtung des Parkplatzes. »Der dunkelrote da.«

    »Was?« Er öffnete verblüfft den Mund und deutete mit der Spitze seines Stocks auf meinen Wagen. »Dieses Ding da?«

    »Es ist ein fabrikneuer Nash-Healey«, sagte ich beleidigt. Ich war unglaublich stolz auf mein schnittiges, kleines Cabriolet und würde es mir nicht von diesem aufgeblasenen, feisten Aristokraten madig machen lassen.

    »Wo haben Sie denn den Büchsenöffner, um da reinzukommen?«

    Ich protestierte. »Hören Sie, Sir, ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen nach Tenter… Dings zu fahren. Da müssen Sie sich einen anderen Chauffeur suchen. Ich freue mich auf ein entspanntes Wochenende, auf Besuch von Freunden, aufs Kino, auf …«

    Er klopfte mir auf die Schulter und lachte dröhnend. »Na, jetzt werden Sie mal nicht gleich kratzbürstig. War ja nur ein Scherz. Tolles Auto, wahrscheinlich klasse Kurvenlage. Vielleicht brauchen wir damit sogar nur anderthalb Stunden bis Tenterden!«

    Warum ich letzten Endes dann doch nachgab, weiß ich heute gar nicht mehr zu sagen. Dieser Lord Merridew hatte die Gabe, jede Gegenwehr platt zu walzen wie ein Panzer.

    Wenig später saßen wir also nebeneinander in meinem Auto und fuhren in Richtung Nordosten. Merridew füllte den Beifahrerraum passgenau aus. Er hatte keinerlei Möglichkeiten, sich zu bewegen, hatte sich aber offenbar entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

    «Nun mal aufgemerkt«, begann er fröhlich, »Wie gut kennen Sie sich in der Geschichte unseres Landes aus?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er gleich fort: »Das Attentat von 1936? Hm?«

    Ich wackelte unsicher mit dem Kopf hin und her, und er füllte sogleich ungefragt meine Wissenslücke: »Im Juli jenes Jahres hat ein kleiner irischer Faschist namens Jerome Brannigan den täppischen Versuch unternommen, Edward VIII. zu töten. Er lauerte dem König nach der Parade im Hyde Park auf und hatte offenbar die Absicht, ihn zu erschießen. Ein anderer Passant aber durchschaute sein Vorhaben und verpasste ihm kurzerhand eine ordentliche Backpfeife. Danach war Brannigan wohl dermaßen durch den Wind, dass es ihm nur noch gelang, seinen Revolver nach dem König zu werfen. Albern, sowas. Er bekam ein Jahr Zwangsarbeit aufgebrummt und war danach wieder auf freiem Fuß. Seitdem ist der Störenfried nur noch dann und wann durch unbedeutende Umtriebe und fragwürdige Kontakte zu den deutschen Nazis aufgefallen. Man hat ihn wohl jahrelang an der langen Leine laufen lassen, weil man gemerkt hat, dass er für ernst zu nehmende Störfälle zu unterbelichtet ist. Meiner persönlichen Meinung nach hat diese Episode unseren König damals derart nachhaltig verwirrt, dass er ein paar Monate später dieser Wallis Simpson zum Opfer fiel. So ist er dann auf viel perfidere Weise aus dem Verkehr gezogen worden. Aber das nur am Rande. Apropos Verkehr: Sie fahren zu dicht auf, Nigel!«

    Ich schickte einen giftigen Blick zum Beifahrersitz hinüber. »Wollen Sie fahren?«

    Er grunzte vergnügt. »Das wäre das erste Mal. Aber wenn Sie es mir gestatten? Vielleicht macht es ja sogar Spaß.«

    »Erzählen Sie lieber weiter«, sagte ich und versuchte, mich wieder auf die Straße zu konzentrieren.

    »Gerne. Sagt Ihnen ›Der fünfköpfige Hund‹ etwas?« Darauf erwartete er nicht wirklich eine Antwort.

    »Dieser Brannigan schwor damals vor Gericht Stein und Bein, dass eine fremde Macht ihm 150 Pfund für den Mord an Edward VIII. bezahlt habe.«

    Ich lachte. »Für 150 Pfund würde ich ja nicht mal meinem Milchmann eine Flasche vom Wagen klauen. Sie etwa?«

    »Ich bitte Sie! Ich kenne Ihren Milchmann ja nicht mal. Wie dem auch sei, Brannigan gab an, alle Instruktionen und auch den Revolver von diesem ominösen ›fünfköpfigen Hund‹ erhalten zu haben. Vorsicht, der will überholen!«

    Diesmal verkniff ich mir sogar den Seitenblick. Ich würde diesen seltsamen Vogel jetzt gleich einfach in Tenterden rauswerfen und weiter nach London brausen. Eine halbe Stunde Wegs hatten wir immerhin schon hinter uns.

    »Seltsamerweise ist es dem Geheimdienst angeblich nicht gelungen, diesen ›fünfköpfigen Hund‹ aufzuspüren. Niemand weiß etwas darüber. Bis jetzt!« Es klang ungemein bedeutungsschwanger.

    »Und jetzt kommen Sie ins Spiel, was?«

    »Ganz recht, mein Bester. Wie ich vorhin erwähnte, habe ich einen Anruf bekommen.« Er hob seine krumme Nase einen Deut höher. »Ein Spezialauftrag, über den ich Ihnen vielleicht Näheres sagen kann, wenn wir uns erst ein bisschen besser kennen. Ich ziehe also am Morgen unverzüglich in die Schlacht, und dann komme ich an der – na, nennen wir es mal Behausung von Wylie an und finde Sie vor, wie Sie sich da in scheinbar schurkischer Absicht über den gurgelnden Greis beugen.«

    »Ich sagte Ihnen doch schon, dass ich …«

    »Ruhig Blut, zügeln Sie Ihr Temperament und geben Sie dafür lieber mal Ihrem Blechgaul die Sporen. Ich glaube Ihnen ja. Was ist das für eine Sache mit diesem Theaterstück?«

    Ich berichtete ihm die Dinge, die ich weitergeben durfte, ohne mit meinem Kodex als Rechtsanwalt in Konflikt zu geraten.

    »Und wie heißt dieses Machwerk?«, fragte er anschließend.

    »Es trägt den klangvollen Titel

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1