Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das dunkle Geheimnis in der Brauerei
Das dunkle Geheimnis in der Brauerei
Das dunkle Geheimnis in der Brauerei
eBook265 Seiten3 Stunden

Das dunkle Geheimnis in der Brauerei

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Es ist ein reichlich mysteriöser Fall, mit dem sich die Polizei auseinander zu setzen hat: Bei Abrissarbeiten auf dem Gelände einer alten Brauerei wird in einem Kühlschacht eine wohl erhaltene Leiche gefunden. Beim ersten Anblick scheint es sich um ein Mädchen zu handeln – tatsächlich ist es aber ein junger Mann in Frauenkleidern. Bei den Ermittlungen stellt sich im Lauf der Zeit heraus,dass es sich um ein Verbrechen handelt, das schon Jahrzehnte zurückliegt ...
Dieser Krimi bietet mehr als nur eine spannende Handlung. Er offenbart menschliche Hintergründe und macht mit den Abgründen eines Geschehens bekannt, dem kein Leser unbeteiligt gegenüberstehen kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783475546402
Das dunkle Geheimnis in der Brauerei

Ähnlich wie Das dunkle Geheimnis in der Brauerei

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Das dunkle Geheimnis in der Brauerei

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das dunkle Geheimnis in der Brauerei - Bernd Grashoff

    Verhör

    1.

    Primadonna sendet weiter

    Es ist eine Geschichte zu erzählen, deren Anfang und Ende mehr als fünf Jahrzehnte auseinander liegen: die eines Kriminalfalles aus dem Kreis R. in Oberbayern, in seiner Art weniger mysteriös als vielmehr einmalig. Auch muss vorab gesagt werden, dass es nach der Aufklärung eines Mordes wie diesem natürlich kaum das geben kann, was im Mindesten das Wort vom »Happy End« rechtfertigen würde, obwohl manche Leute von einem freilich seltsamen Wiedersehen zweier Liebender nach über fünfzig Jahren sprechen mochten. Ob das Auffinden des Täters nach dieser langen Zeit so etwas wie Gerechtigkeit wieder herstellen kann – nun, da müssen wir ein Fragezeichen machen.

    Beginnen könnte unsere Geschichte am 22. Februar 1945. An diesem ungewöhnlich milden Vorfrühlingstag saßen in einer kleinen Elektrowerkstatt in einer von den Zerstörungen des Krieges noch weitgehend verschonten mitteldeutschen Kleinstadt ein in Ehren ergrauter alter Meister, den wir Herrn Caspary nennen wollen, und Helmut Gutzeit, sein einziger ihm noch verbliebener Lehrling, beisammen und unterhielten sich über Reparaturen an verschiedenen Geräten, wie Lampen mit defekten Kabeln, Heizstrahlern mit durchgeschmorten Drähten, an kaputten Bügeleisen, Toastern und Radios. Da im sechsten Kriegsjahr jede zivile Güterproduktion längst zum Stillstand gekommen war, hieß es, Vorhandenes immer wieder zu flicken oder irgendwie in Gang zu bringen – hinsichtlich der Bedürfnisse des täglichen Lebens also entweder zu improvisieren oder zu verzichten.

    Zur kurzen Erinnerung an dieses Frühjahr wenige Wochen vor dem endgültigen Zusammenbruch der deutschen Kriegsmaschine: Am 7. März fiel die Brücke von Remagen in die Hände der Amerikaner, was ihnen den ersten Brückenkopf über den Rhein ermöglichte. Drei Tage später war das gesamte linksrheinische Gebiet in alliierter Hand. Der Sturm über den Rhein und die Einkesselung der letzten intakten deutschen Armee im Ruhrgebiet folgten unmittelbar.

    Seit einigen Wochen hatte sich Meister Caspary angewöhnt, gleich morgens einen bestimmten Sender einzuschalten, den man mit den damals üblichen und weit verbreiteten Volksempfängern nicht empfangen konnte, sondern nur auf Kurzwelle im Zwölfmeterband ganz links außen (was übrigens nicht ausdrücklich verboten war), und der weder Musik noch Unterhaltung oder Propaganda – auch keine falschen militärischen Erfolge –, ›sondern nur die ständig aktualisierten Berichte über die jeweilige Luftkriegslage anzubieten hatte. Und die war für die Bevölkerung schlichtweg bedrückend: Luftangriffe mit Bombern, Tieffliegern und Schlachtflugzeugen waren keine Seltenheit. Der Ring um das Land schloss sich immer enger. Und so stellte sich für die Menschen – noch bevor sie feindliche Soldaten in ihrer Stadt würden einrücken sehen – die letzte, die entscheidende Frage: Wer ist wieder mit einem Luftangriff dran – oder, wie manches Stoßgebet morgens lauten mochte: Werden wir wenigstens heute verschont bleiben? Das merkwürdige, hastige Pausensignal – putt-putt-putt-putt – wurde immer häufiger durch den Einleitungssatz »Primadonna sendet weiter« unterbrochen. Und immer häufiger hatte der Sprecher das böse Wort von der Feindtätigkeit – in einem bestimmten Planquadrat – benutzen müssen, was akuten Angriff bedeutete. Ortsangaben gab es dabei nicht, nur chiffrierte, aber leicht zu deutende Codeworte über Anzahl und Bauart der angreifenden Flugzeuge. Sonst nur seltsame Botschaften wie »Colorado Taschenlampe« oder »Emma Auslauf Blendax zwo«. Namentlich Schuljungen zwischen sieben und vierzehn Jahren hingen gebannt an den Lautsprechern und versuchten, die kryptischen Nachrichten zu interpretieren – sie hatten gelernt, die feindlichen Flugzeuge zu unterscheiden.

    Caspary markierte auf der großen, mit Buchstaben und Zahlen durchnummerierten Karte alle Punkte der Feindtätigkeit, die der Sender durchgab. Stück für Stück kristallisierte sich an jenem 22. Februar ein Plan, ein genau kalkulierter Großangriff auf alle Eisenbahnknotenpunkte östlich des Rheins heraus. Systematisch sollte ein Großverband zunächst in Nord-Süd-Richtung alle Bahnstrecken lahm legen, um dann etwa im Raum Würzburg durch den nächsten abgelöst zu werden, der nun die parallel verlaufende Süd-Nord-Strecke ausschalten sollte.

    »Da braut sich was zusammen!« Caspary sagte es so leise, fast zu sich selbst, wie verlorene flüchtige Gedanken, dass der Junge nicht darauf reagierte.

    »Der Lötzinn ist alle, Chef«, bemerkte der stattdessen und legte die Platine auf den Tisch.

    Caspary starrte schweigend auf die Karte. Seit Stunden herrschte öffentliche Luftwarnung. Aber die Bewegungen der feindlichen Verbände schienen noch an ihrer Region vorbeizuzielen.

    »Wenn dieser Verband«, er deutete auf ein Fähnchen, das sie in den letzten Minuten auf Grund der Rundfunkmeldungen mehrmals in östliche Richtung umstecken mussten, »so weitermacht, dann kriegen wir Vollalarm. Und wenn die blinde Henne doch noch ein Korn findet – ich meine unsere Jäger – und die schießen tatsächlich einen bei uns ab, und falls der dann abladen muss, wie neulich dieser Irrläufer bei dem Höllenangriff auf Dresden, dann …«

    Der Junge schaute ihn fragend an.

    Caspary fasste sich an die Stirn: »Lötzinn! Entschuldige, wenn ich meine Gedanken ganz anderswo habe. Geh in den Keller. Nach hinten, wo wir unsere Spezialvorräte versteckt haben.«

    ›Die Luftmine vorige Woche, alle Scheiben und Dächer im Umkreis von sechshundert Metern kaputt – wann hört der Schrecken endlich auf?‹, dachte Caspary. In plötzlichem Entschluss ging er an die Ladentheke, zog eine Schublade auf, entnahm ihr einen Brief und legte ihn aber sofort wieder zurück.

    ›Ich kann’s ihm nicht sagen‹, dachte er, ›nicht in diesem Moment, vielleicht später, am Nachmittag!‹ Doch dann der Widerspruch: ›Es bleibt mir keine Wahl.‹ Er horchte an der Tür, die zum Keller führte und die der Junge halb offen gelassen hatte. Er hörte die Geräusche des Suchens, das Klappern von Schrauben in einem der metallischen Kästen, etwas fiel zu Boden, wurde aufgehoben.

    Caspary atmete tief durch, kehrte zurück an den Ladentisch, an die Schublade, riss sie jetzt auf, hielt den Brief in der Hand – und steckte ihn in eine der Taschen seines weißen Arbeitskittels.

    Der Junge war zurückgekehrt. Wortlos brach er ein paar Zentimeter vom Draht ab, stöpselte das Kabel des Lötkolbens wieder in die Steckdose und wartete darauf, dass er sich erhitzte. Caspary wanderte ziellos hin und her, vom Ladentisch zu den seit Jahren leeren Verkaufregalen, zur sich direkt daran anschließenden Werkstatt und wieder zurück. Beim dritten Mal blieb er hinter dem Jungen stehen, der gerade zwei abgebrochene Metallteile in einem alten französischen Philips-Radio zusammenzulöten versuchte. Er legte beide Hände auf die Schultern des Jungen. Helmut hielt mit seiner Arbeit inne und drehte sich erstaunt um.

    »Ich muss dich um Verzeihung bitten, Helmut. Ich hab einen wichtigen Brief an dich – nun nicht gerade unterschlagen … ich habe ihn dir nur nicht weitergegeben, als der Postbote gestern hier war. Ich hab ihn einfach an mich genommen. Ich wollte ihn vermutlich nicht existent werden lassen – was absoluter Unsinn war.«

    »Was für einen Brief?«, fragte der Junge.

    Caspary zog ihn hervor: »Es ist dein Stellungsbefehl.«

    Helmut senkte den Kopf.

    »Nein, du brauchst ihn nicht zu öffnen. Der Termin wird nicht gleich morgen sein. Wir beide wissen, was drin steht … und«, Caspary deutete auf die Fotos an der Wand, »genauso begann es mit Anselm«, sagte er leise, »vor drei Jahren. Flakhelfer. Bei einem Luftangriff gefallen.« Er nahm ein zweites Foto mit dem Porträt eines Marinesoldaten mit einem kleinen schwarzen Streifen in der linken unteren Ecke ab.

    »Ludwig – von dem ich gehofft hatte, dass er eines Tages den Laden übernehmen würde. Die Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Sein Meisterstück: das voll funktionsfähige Magnetofongerät. Oder hier: Frank! Na gut, mein schwächster Geselle in vielen Jahren, mit zwei linken Händen, aber eine Berliner Schnauze, die sich gewaschen hatte. Wie oft wollte ich ihn rausschmeißen. Und dann steht eines Tages Frau Windscheit mit der Post in der Tür – so wie gestern der alte Müller. Frank lachte noch: ›Da können Sie ja froh sein, Meister, dass Sie mich endlich los sind.‹ Und ich hab noch gerufen: ›Klar doch, beim Barras werden sie dich zurechtschleifen. Wenn sie das geschafft haben, nach dem Endsieg, kannst du zu mir zurückkommen.‹«

    Caspary wischte eine Träne fort.

    »Irgendwo in Italien geblieben, Salerno. Man weiß nicht mal genau wo.«

    Helmut hielt die Hand zum Meister hin. »Ich müsste es wohl selbst lesen, Chef.«

    Erst zog er den Stecker heraus und wischte sich umständlich die Finger an der Hose ab, als dürfe er das staatliche Schreiben, das über Tod und Leben entscheiden würde, nur mit sauberen Händen anfassen. Dann las er es langsam durch, Wort für Wort, um es danach vor sich auf den Tisch zu legen. Beide schwiegen.

    Endlich fragte Caspary: »Wann?«

    »Heute in einer Woche, Donnerstag, den ersten März, in der alten Kaserne, Infanterie-Regiment 82.«

    Urplötzlich schoss es wie ein Vulkanausbruch aus Caspary heraus. Er griff nach dem Brief und schlug wütend mit beiden Fäusten darauf: »Sie brechen ihre eigenen Gesetze! Du bist gerade erst vor zwei Monaten 17 Jahre geworden! Die Wehrpflicht erfasst alle Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Nur im Krieg kann sie erweitert werden. Das gilt aber nur für Männer über 45, für den so genannten Landsturm. Sie haben mit einem Federstrich durch eine einfache Verordnung deinen gesamten Jahrgang wehrpflichtig gemacht!«

    Helmut war erstaunt über den Zornausbruch seines Meisters. Und Casparys Wut steigerte sich noch. Er begann zu toben und zu schreien: »Nein, nein, nein, ich will nicht, dass du dort an der Wand als Vierter hängst – ein kläglicher Hauch trauriger Erinnerung an meinen letzten Lehrbuben, mit einem schwarzen Bändchen über dem Foto deines Kindergesichts! Sag mir noch einmal: Was war mit deinem Vater?«

    Helmut vermied es, an die Wand mit den Fotos zu schauen. »Am Wolchow gefallen.«

    »Siehst du! Für einen verlorenen Krieg! Du wirst mir nicht mehr losziehen als letztes Aufgebot, als Kanonenfutter für eine Rotte von Gangstern, die ihr sicheres Ende nur um ein paar Wochen hinauszögern wollen.« Caspary wischte sich den Schweiß von seinem kahlen Schädel. Immer wenn er hochgradig erregt war, schwitzte er und bekam feuchte Hände. Das hatte ihm bei der Arbeit an elektrischen Geräten schon manchen Stromschlag eingetragen.

    Helmut begann langsam zu sprechen, und es klang nicht sonderlich überzeugend: »Auf dem Kameradschaftsabend am Samstag hat Ortsgruppenleiter Goldmann eine Rede gehalten. Dass wir fürs Vaterland in der Stunde der höchsten Not …«

    »Goldmann! Goldmann!«, schrie Caspary, »dass ich nicht das große Kotzen kriege, dieser Drückeberger mit seinem rechten Arm in der Schlinge. Bin neugierig, was sich darunter verbirgt!«

    »Nur eine schwere Nervenerkrankung hält ihn davon ab …«

    »… sich zum letzten Gefecht zur Verfügung zu stellen«, höhnte Caspary. »Aber jetzt, da es auf das Ende zugeht, rühmt er sich wohl nicht mehr ganz so laut seiner Heldentaten in der Kristallnacht, da er die Juden über die Betten springen ließ, bei diesen so genannten Hausdurchsuchungen, die in Wahrheit nackte Plünderungen waren.«

    Wieder nahm der alte Mann seinen Marsch um Ladentheke und Arbeitstische bis zur Ladentür und zurück auf. Wenn er sich den beiden schmalen, mit Brettern zugeschlagenen Schaufenstern näherte, fiel ein dünner Sonnenstrahl auf seinen kahlen Schädel und brachte ihn zum Glänzen. Er war bald siebzig Jahre alt und ungewöhnlich groß und dürr. Er galt nicht nur als einziger Katholik in einer rein protestantischen Gegend als Außenseiter. Schon 1923 war er als Erster in der Stadt in die NSDAP eingetreten, was allgemeines Kopfschütteln hervorrief. Und diese Außenseiterrolle setzte er fort, als er – wiederum als Erster – nach dem 30. Juni 1934, nach dem so genannten Röhmputsch, unter lautem Protest sein Parteibuch zerriss. Das trug ihm tiefe Feindschaft ein.

    Schon in der Schule hatte er sich anstarren lassen müssen. »Unser Römling« hatte ihn der Lehrer genannt, ein Spitzname, der an ihm haften geblieben war. »Steh doch mal auf, lass dich betrachten!« Ein Erstklässler hatte aufgeregt gefragt: »Haben die alle keine Haare, die Katholischen?« Und er musste, wie so oft, erklären: »Mir ist kein einziges Haar ausgefallen. Ich bin so geboren.« Und, jedenfalls als Junge nicht ohne Stolz, wenn er wieder von einer erfolglosen Behandlung in der Universitätsklinik der Nachbarstadt zurückgekommen war: »Die Professoren sagen: Ich bin ein medizinisches Wunder.«

    Nun baute sich Caspary fast bedrohlich vor seinem Lehrling auf: »Ich will kühl und sachlich sein. Hör mir also gut zu. Ich weiß, du wirst mich nicht verpetzen – bei diesem sauberen Goldfasan. Ich gestehe es offen: Ich höre nachts den englischen Sender.«

    Und er klopfte vier Mal mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf die leere Plastikwand des Apparates, an dem Helmut gerade arbeitete. »Bei der BBC klingt es natürlich besser: viermal dieses bedrohliche dumpfe Pochen auf eine Pauke, dann leichter Nachhall, very remarkable.« Er zeigte auf die große Karte: »Was da im Gang ist – gerade heute, gerade jetzt in diesen Stunden –, ich sage dir: Sie spielen auf zum letzten Galopp! Und sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie es klipp und klar und unverblümt verkünden: Sie warnen alle Orte, die an Eisenbahnknotenpunkten liegen – und noch besser: Sie nennen schon den Termin, wann sie in Berlin ihren Einzug zu halten gedenken, zusammen mit den Russen: im Mai!« Caspary senkte seine Stimme und sagte fast beschwörend: »Was sie bisher gemeldet haben, ist immer eingetroffen, Helmut. Es ist aus und vorbei mit den Nazis. Aber ich will, dass wenigstens du überlebst.« Er schlug seinem Lehrling auf die Schulter, dass dieser zusammenfuhr: »Hast du kapiert?«

    Der schoss von seinem Schemel hoch und stand nun da, wortlos erstarrt, nicht fähig zu antworten.

    »Wir werden dich verstecken. Frag jetzt nicht, wo und wie!«

    Endlich wagte Helmut zu widersprechen: »Aber ich muss mich doch stellen. Alle tun es. Sonst – sonst …«, er fing an zu stottern, »sonst bin ich … bin ich fahnenflüchtig, bin ein Feigling, ein Deserteur, ein Abschaum.«

    Caspary strich dem Jungen fast zart über sein kastanienbraunes, leicht gelocktes Haar: »Vorgestern konnte ich endlich mal eine gute Nachricht loswerden. Du weißt vielleicht, dass sie jeden Abend eine Liste von Kriegsgefangenen vorlesen. Der Altmeier Gustav, du kennst den kleinen Dicken aus der Litzmannstraße, der war in der Normandie – und jetzt ist er in Kanada. Sie nennen immer eine Reihe von Namen, die bei uns als vermisst gelten. Und am Anfang und am Ende darf sich einer mit einem direkten Gruß nach Deutschland melden. Ich hab seine Stimme erkannt. Ihm geht es gut. Ist kein Schwindel. Das, was sie bei uns im Rundfunk seit einiger Zeit auch machen – Mikroaufnahmen, die auf Tonband gespeichert werden –, ich meine: so läuft es rein technisch …«

    Helmut nickte.

    »Aber Sie konnten es seiner Mutter doch nicht direkt sagen, weil …«

    »Klar. Abhören feindlicher Sender wird mit dem Tod bestraft. Unter dem tun sie es ja nicht mehr. Ich bin zu Frau Altmeier gegangen, hab ihr zugezwinkert: Hab wieder gependelt. Und siehe da – das Lot ist justament über der Landkarte von Kanada stehen geblieben. Da hat sie genickt, geweint vor Freude. ›Dann lebt er!‹, hat sie geflüstert, und sie hat mich verstanden.«

    Helmut schüttelte traurig den Kopf: »Ich hab Angst. So oder so.«

    Caspary schaute Helmut fest in die Augen: »Du hast eine Freundin?«

    Der Junge nickte schüchtern.

    »Mit der habe ich dich schon ein paar Mal gesehen. Die aus dem Salon Knittel.« Er machte eine Pause, bevor er wieder ansetzte: »Ich weiß, ihr Jungen redet nicht gern über so was. Ich sag dir nur eins: Wenn du sie lieb hast und du hast Vertrauen, so wie ich zu dir, oder du zu mir, dann sprich mit ihr.«

    Helmut antwortete nicht.

    Caspary fuhr eindringlich fort: »Du musst überleben, Junge. Und du wirst es, das verspreche ich dir. Im Sommer ist der Spuk vorbei. Aber vorher wird es noch einen Höllentanz geben. Und im Feuerofen, wie es in der Bibel heißt, wollen wir beide nicht singen, oder?«

    Der Junge drehte den Kopf hilflos zu Seite: »Ich kann doch nicht, Meister, ich kann nicht anders.«

    2.

    Erbschaft mit Hypothek

    Primadonna? Längst verstummt, und reicht nicht mal für eine Fußnote in der Historie dieses Krieges. Natürlich hatte keiner der damals Beteiligten ahnen können, dass der Sender nur noch 68 Tage zu hören sein würde. Dann kam ein englischer Sergeant in den Keller des Senders, der längst verstummt war, und schaltete das elektrische Aggregat einfach ab. Die vier Männer in Luftwaffenuniformen, die sich nicht mehr hatten verkrümeln können, mussten mit erhobenen Händen auf dem Hof antreten. Primadonna … aus.

    Freilich muss das erwähnt werden, wenn jetzt versucht werden soll, den Faden dieser Geschichte von der anderen Seite her in die Hand zu nehmen – mehr als 55 Jahre später, in einer oberbayerischen Kreisstadt am Inn.

    Es ist eine andere Zeit, eine veränderte, fast heile Welt, verglichen mit der Kriegszeit. Erinnert sich noch irgend jemand an ›Primadonna‹? Ganz gewiss nicht die beiden Männer, die an einem Spätsommernachmittag im Wartezimmer des Notariats von Staatsanwalt Dr. Fabricius saßen: ein Anwalt, sportlich und elegant gekleidet, und sein junger Mandant mit struppigem, verwildertem Blondhaar, das er am Morgen wohl mit einer zu großen Portion Gel zu bändigen versucht hatte. Vor ihnen auf dem Tisch lag ein Vertrag zur Unterzeichnung. Der junge Mann hatte eine Erbschaft gemacht, die gleichwohl mit dem unseligen Krieg und all seinen Folgen zu tun hatte – wie sich im Folgenden nach und nach, Stück für Stück herausstellen wird.

    »Und was werden S’ mit dem vielen Geld anfangen?«, versuchte der Anwalt ein Gespräch mit dem in dieser Umgebung verschüchtert wirkenden jungen Mann in Gang zu bringen. Der Angeredete musste erst schlucken, bevor er antworten konnte: »Die Mutter verdirbt mir die Freude. Tag und Nacht liegt sie mir in den Ohren mit der Erbschaftssteuer. Des fallt doch in Ihr Gebiet, oder?«

    »Kommen S’ später in meine Kanzlei«, erklärte Lindenmeier, »da können wir die Steuertabellen nachschlagen. Sie sind – als Enkel der Schwester des Erblassers – Steuerklasse zwei.«

    »Steuerklasse …«, der junge Mann ließ bei geschlossenem Mund, zusammen mit diesem unwillig artikulierten Wort, ein leises Pfeifen hören, was dem Anwalt auffiel, genauso wie die breite Narbe auf seiner Oberlippe, die sich nach links schwang, zur Nase hin, die war stupsartig nach oben gebogen, als habe sie irgendwann einmal einen kräftigen Schlag erhalten.

    »… was die mir abgezogen haben! Wenn Sie das wüssten! Ich meine, als ich noch den Job beim Höhensteiger hatte.«

    Die Stimme klang deutlich nasal. Anwalt Lindenmeier wusste, woran das lag. »Ich hab als Baby einen offenen Rachen gehabt«, hatte Peter Wagner, so hieß der junge Mann, gleich beim ersten Besuch in seinem Anwaltsbüro ungefragt erklärt. »Wenn Sie mich reden hören … Ich müsste noch einmal operiert werden. Und ich graule mich davor, verstehen Sie?«

    »In Ihrem Fall sind die Freibeträge allerdings klein. Ich will Ihnen nicht die Freude des Augenblicks verderben, Herr Wagner. Das Finanzamt wird seine gierigen Hände noch früh genug aufhalten.« Der Anwalt schaute auf seine Uhr und wandte sich an die ältere Angestellte, die mit einem Stapel Blätter aus dem Kopierraum herauskam: »Jetzt sind S’ wohl

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1