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Nachsaison endlich!: 120 zwielichtige Geschichten
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eBook426 Seiten3 Stunden

Nachsaison endlich!: 120 zwielichtige Geschichten

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Über dieses E-Book

Vetters Prosa gleicht seiner Lyrik. Es scheint, als wären seine Gedichte zu Geschichten angewachsen, hätten sich entfaltet und gleichsam ausgebreitet. Die Texte sind intensiv, schaffen beim Lesen Bilder, in die man magisch hineingezogen wird.

Harald W. Vetters neuer Erzählband enthält 120 Kurzgeschichten, die sein Können eindrucksvoll zeigen.
Es ist, als wäre jede Geschichte nur Essenz, aus der sich mühelos ein ganzer Roman entwickeln ließe.

… Irgendwann gab es keinen Wellensittich mehr, keine Hamster, keine Tante Marianne und auch die Wellen hatten längst aufgehört, Tintenfische ans Ufer zu werfen. …

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Aug. 2022
ISBN9783903442290
Nachsaison endlich!: 120 zwielichtige Geschichten

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    Buchvorschau

    Nachsaison endlich! - Harald W. Vetter

    VORWORT


    In diesem neuen Prosaband gelingt dem Lyriker und Zeichner Harald W. Vetter auch das Kunststück, aus dem verdichteten Material seiner Poems gleich einem Kokon, worin sich Beflügelndes in jedem Augenblick Geburtstag feiert, (Seiden)Fäden verschiedenster Zusammenhänge in konzentrierter Wortarbeit zu entwickeln und daraus erstaunliche „Kubinesken zu weben, worin die Zeit, Vexierbildern ähnlich, auf dem Wechselsprung in alte und neue Räume ist, während so manches, präzis auf der Ebene des Faktischen vermessen, sich doch als Spuk enttarnt, und die Vorläufigkeit von Welt und Ich unabweisbar vor Augen geführt wird. Und so legt sich immer wieder Zwielicht wie Mehltau um vertraute und auch „liebgewordene Dinge, woraus jäh das Un-heimische mit dem Leser und der Leserin dieser Geschichten Bock zu schauen beginnt, da zwischen den Zeilen schon das Grauen seine Morgen aufschlägt und „Frau Schwermut" ankommt …

    Untermalt und beleuchtet aus was für einem Hintergrund wird all dies von jenem goldenen Lächeln des Wissenden und manchmal auch von olympischen Gelächtern – also, endlich auf zur Nachsaison!

    Joachim G. Hammer

    Mir träumte von diesem abseitigen, tiefen Bergwerksstollen, der plötzlich von einem Schlagwetter erhellt wurde. Gleichsam blitzartig erkannte ich meine Silhouette an der Grubenwand, aber schon war es damit wieder vorbei. Und die schwarzen Hunte fuhren grollend auf ihren glatten, eisernen Schienen einer Endlosigkeit entlang, wo diese irgendwann einmal angeblich wieder zusammen treffen würden.

    Ach, dieses andauernde Zwielicht, in dem unsere Wahrnehmung nur ein lächerliches, kleines Zwischenspiel gibt, jedenfalls nur bis zum Kopfbahnhof, wo schließlich alles endet. Und das Riedgras raschelt noch leis über die Brachen hin und niemand weiß, was für eine Dämmerung gerade erst begonnen hat. Naturgemäß sind Personen und Handlungen frei erfunden, doch hat es schon deswegen damit seine Richtigkeit.

    H. W. V.

    1962


    Die Krise hatte sich schon seit Wochen, ja Monaten angekündigt, doch wir Kinder bekamen davon recht wenig mit. Alles war nach diesem letzten unseligen Krieg endlich wieder im Aufbruch begriffen, uns ging es immer besser. Vater war in Persien und wir kamen gerade aus St. Anna zurück, das herbstlicher nicht sein hätte können, wie uns ein damals gedrehter Film erst viel später zeigen würde.

    Irgendwann gegen Ende Oktober muss es gewesen sein, als Großmutter morgens in unser Zimmer kam und sagte: „Kinder es wird wieder Krieg geben, aber diesmal wird’s wohl das Ende sein." Natürlich wussten wir um die Atomwaffen, die uns in vielen Wochenschauen gezeigt worden waren. Riesige, beängstigende Pilze, die sich weiter und weiter ausbreiteten und alles unter sich mit einem ungeheuren Sog zerstörten. Wir waren ziemlich betrübt darüber und dachten, dass wir uns in unserem Keller vor all dem schützen könnten. Die Angst wurde größer, gewann vor allem vor dem stets eingeschalteten Radio so an Umfang, so dass wir schließlich zu weinen begannen. Im Kino sahen wir dann den wild gestikulierenden Castro mit seinem Rauschebart, ein neues Schrecknis!

    Irgendwann einmal verkündete uns Großmutter, dass Kennedy doch ein guter Mann sei, weil er den Dritten Weltkrieg abgewendet hätte. Als er im darauffolgenden Jahr umgebracht wurde, war sie darüber ziemlich betrübt und trauerte um ihn. Damals wussten wir lange noch nicht, dass uns allen ein sowjetischer U-Boot-Offizier namens Wassili Archipov vermutlich das Leben gerettet hatte, als er sich in einer schlimmen Lage weigerte, Atomwaffen abzufeuern.

    Als Halbwüchsige schauten sie 1969 gebannt auf die etwas schneeige Flimmerscheibe, die ihnen die Mondlandung zeigte. Dazu waren alle Freunde aus dem Bergdorf eingeladen worden, das für die Geschwister eine zweite Heimat gewesen war. Auch sie kam mit, die er immer heimlich und unsinnig geliebt hatte, war sie doch viel zu alt für ihn und hatte längst entsprechende Erfahrungen gesammelt, von denen er nicht einmal erst träumen konnte. Sie hatte ein scharf geschnittenes, gleichermaßen anrührendes Gesicht mit ausdrucksvollen Lippen, das von langen hellblonden Haaren oft ganz verdeckt war. Sie, die Schulleiterstochter sollte ihm später nie wieder begegnen, aber dass sie einander im Zelt, das sie im Garten des Schulhauses aufgebaut hatten, einmal nachts an den Händen hielten, das sollte er nie mehr vergessen und es war viel schöner als alles andere, was nachher noch kommen sollte. Die Unwiederholbarkeit jener Zeit ist eine Tragödie, die man erst viel später zu spüren bekommt, wenn fast alles vorbei ist. Auch die, welche unbeholfen aus dem Raumschiff sprangen und dann über die Staubwüste hoppelten, sind längst auf der Rückseite des Mondes gelandet oder brabbeln jetzt im Altersheim nur noch vor sich hin. Wozu sollte denn der Zeitenstrom auch sonst gut sein?

    PIRSCHGÄNGE


    Das Haus des Aufsichtsjägers lag am Rande der Stadt. Er lebte dort mit Frau und den beiden Kindern, die ihm, dem Stadtkind zu Spielgefährten wurden. Sie sollten viel später an der gleichen Krankheit schrittweis und elend zugrunde gehen, auch er, der Aufsichtsjäger, ein gutmütiger stämmiger Mann, wurde dann nicht mehr zu seinem Mitarbeiter, denn dieser war einige Jahre vor der Museumsübernahme an Lungenkrebs verstorben. Doch das lag noch alles weit in der Zukunft. Trotz seiner vielleicht 10 Jahre und etlichen Aufenthalten im Süden, stellte er sich am Saumweg des sogenannten Pfarrgrabens vor, dass gleich hinter den westlichen Bergen das Meer zu sehen wäre. Manchmal durfte er mit auf die Pirsch oder wurde beim Rehriegeln in sicherer Entfernung angestellt. Seinen ersten Schuss mit einer leichteren Doppelflinte, Kaliber 16, gab er auf einen Gegenhang ab, wobei der Jäger ihn sicherheitshalber an den Schultern hielt, um den Rückstoß abzufedern. Die karminrote, nach Pulverschmauch riechende Papphülse hatte der Junge dann noch lang aufbewahrt. Im Hochsommer schafften sie einmal eine alte Rehgeiß aus dem Graben herauf. Drei Jäger standen um das erlegte Stück herum, während sich immer mehr schillernde Schmeißfliegen über dem Reh versammelten. Der älteste Schütze zog schließlich seinen Rock aus und machte sich daran, den Körper aufzubrechen. Unter vielem Ächzen schärfte er das Reh auf und vollzog schließlich mit beinahe gleichgültiger Routine das, was man die rote Arbeit nennt. Er erinnerte sich noch an sein Staunen, als aus dem offenbar getroffenen Gescheide dessen spinatgrüner Inhalt austrat. „Der Rest ist für die Füchse", sagte einer und schmiss den Aufbruch mit Ausnahme der Leber ins Gebüsch. Man legte den Wildkörper dann in den Kofferraum des Volkswagens, der sich nahebei befand und fuhr davon. Als später einmal im Frühwinter der Dackel eines Gehilfen im Fuchsbau verschwand und nicht mehr hervorkommen wollte, grub man den ganzen Bau auf, aber es war umsonst. Danach legten die erbosten Jäger einen Luderplatz im Dickicht nicht weit weg von der Straße an, die zu einem kleinen See führte. Es mag die Stunde vor der Dämmerung gewesen sein, jedenfalls fiel nur noch etwas schwaches Licht durch die Fichtenzweige. Auf der freigetretenen Stelle mitten im ersten Schnee lagen ein paar Fleischfetzen und eine weißschwarz gefleckte Katze, aus deren Maul noch frisches Blut sickerte. Zu seinem Schrecken schien sich die Katze aber wieder zu bewegen, doch es waren nur die Jungen im Bauch des hochträchtigen Tiers. Den Männern schien das jedoch nichts auszumachen, die Köder lagen in Schussweite eines Hochsitzes, auf den er öfters heimlich geklettert war. Wie die Sache dann ihren Ausgang genommen hatte, wer kann es denn wissen? In der Hütte hinter dem Jägerhaus hingen auf einem alten Schragen öfters die abgebalgten Hasenleiber, die mit ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr das Geringste zu tun hatten. Groteske Fleischklumpen waren das, purpur und rosa geädert, vor allem streng riechend hingen sie dort so bis zu ihrem Verzehr ab, und die Hasenfelle waren sorgsam auf graue Bretter zum Trocknen gestiftet. Hasenbraten, auf den sie von der Familie gelegentlich eingeladen wurden, mochte er einfach nicht, und so legte er manchmal die schwarzen Schrote demonstrativ auf den Tellerrand, was der Hausherr meistens mit einem gemütlichen Lachen quittierte. Kann es sein, dass uns das Echo eines Schusses mehr beeindruckt als dieser selbst? Und da sind auch noch diese regelmäßigen, widerhallenden Geräusche der Äxte aus dem Pfarrgraben, das Rauschen und das wuchtige Niederschlagen der gefällten Buchen und Schwarzföhren, das man nicht mehr aus den Ohren bekommt.

    DAS FEST


    Möglicherweise einer wohlmeinenden Empfehlung oder aber auch nur einem dummen Zufall hatte er es zu verdanken, dass er, der berufliche D ebütant, nach einer quälenden Anhörung diese Stelle bekommen hatte. Jetzt war er mit dieser verfluchten Kleinstadt dort unten im Talschluss verhakt wie es die Hunte taten, wenn sie in den halbdunklen Stollen aufeinandertrafen, sich sogleich mit hartem metallischen Klang in die lange Kette einreihten. Als Quartier bot man ihm eine vollkommen devastierte Bergmannswohnung an, die längst verwaist, in einem grauen, hässlichen Reihenhaus am Stadtrand steckte. Anfangs irrte er mit einem lächerlichen Stadtplan bewaffnet durch die absurd engen Gassen, die da und dort noch vom einstigen Reichtum künden wollten. Es waren Bauten aus der Gotik, dem Barock und der Vorkriegszeit in einer Verkommenheit, die auch nicht der allerhellste Himmel über dem Pass mehr verleugnen konnte. Endlich fand er ein halbwegs annehmbares Wirtshaus, das sich Volkskeller nannte. Doch dort begafften ihn schon die Einheimischen und so zahlte er bald und inspizierte seine zukünftige Arbeitsstätte, deren eigentlich wertvollen Objekte als Inventarnummern nirgendwo vorhanden waren, ebenso wenig wie die Mitarbeiter, welche man ihm vollmundig in Aussicht gestellt hatte. Schließlich kam er vorerst bei der Familie eines Gemeinderats unter, die ziemlich in der Nähe des Tagebaus ein Haus besaß. Dort hörte er nachts in fast regelmäßigen Abständen die dumpf hallenden Sprengschüsse vom Berg her.

    Eines Abends war es dann so weit. Man hatte die Honoratioren der Stadt und des Bergwerks – diese in ihrer schwarzen Traditionskluft – zusammengetrommelt, in der Ratsstube waren Blumentöpfe aufgestellt, auch ein Rednerpult gab es. Von dort wurde er vom noch jungen Bürgermeister mit hilflosen Worten begrüßt und er bedankte sich dafür mit einem kurzen historischen Exkurs. Dann ging man schnell zum sogenannten geselligen Teil über, wobei er, der Begrüßte, sich gleich in eine Ecke verdrückte, um nicht dauernd ausgefragt zu werden. Dort, wo die Getränke waren, stand auch ein evangelischer Pastor, mit dem sich dann ein gutes Gespräch entwickelte, denn dieser war in der Stadt ebenso ein Neuling. Ein leutseliger Stadtrat mit verwittertem Gesicht und immer unsicherer werdenden Sprache gesellte sich dazu und am Ende dieses Festabends hatte der tatsächlich eine ganze Bierkiste ausgesoffen. Nach Mitternacht nahm der Hauswirt den Neueingestellten im Auto mit. Beide hatten natürlich auch zu viel getrunken, was das Gespräch vor dem Haus wahrscheinlich noch etwas befeuerte, denn der Gemeinderat stellte nach eingehender Befragung voller Entsetzen geradezu aufheulend fest, dass der Hausgast weder seiner Partei, noch irgendeiner anderen angehören wollte. Den Rest der Nacht verbrachte der Gast wiederum unter hallenden Sprengungen schlaflos. Am anderen Morgen ging er ins Rathaus, das sich rußig und etwas bedrohlich an den Hang drückte. Er verlangte den Bürgermeister zu sprechen, der ihm verschlafen den Vertrag über den Tisch zuschieben wollte. Nein, den könne er nun wohl nicht unterschreiben, sagte er und ließ den verblüfften Mann in seinem verknitterten Trachtenanzug augenblicklich stehen. Mittags packte er seine Sachen zusammen, verstaute sie im Fahrzeug und überquerte rasch die Passhöhe in Richtung Süden. Nur wenige Male war er später noch so glücklich gewesen wie damals, als er daheim ankam. Und er schrieb einmal ein Gedicht über jenes Fest, das es sogar bis ins Radio brachte. Die Wut dort unten soll darüber groß gewesen sein.

    AUF DIESER STRASSE


    Die Annenstraße durchneidet im rechten Winkel zwei Bezirke der Stadt und reicht vom Bahnhof fast geradewegs bis zum Hauptplatz. Längst hat sie jegliche Magie, ja Herzeigbarkeit verloren und ist zu einem Basar getäuschter Hoffnungen und nie erfüllter Wünsche geworden. Damals hatte das Viertel entlang der Marienstraße noch offene Wunden, von ganzen Häusern standen nur mehr schrundige Fassaden und man konnte etagenweise in die ehemaligen Küchen sehen. Auf der großen, schnurgeraden, etwas abschüssigen Geschäftsstraße rasselte dann und wann ein Mann ohne Beine auf einem mit Rollen versehenen Brett dahin, wobei er sich mit zwei Stöckchen abstieß. Einarmige waren keine Seltenheit.

    Im Winter lag der Schnee noch länger auf der Marienstraße und dämpfte so die Geräusche der klingelnden auf- und abfahrenden Straßenbahnen. Überhaupt, wenn die Lichter angingen und die Waren in den Auslagen verführerisch beleuchtet waren: Die fremdländisch anmutenden Briefmarken in der Querpassage, die Schallplatten, Eisenbahnmodelle, die neuesten Radiogeräte, Kleider, Herrenanzüge, die erste Taschenbuch-Handlung mit ihrem fast verführerischen Duft nach frisch bedrucktem Papier. Auch mehrere Schuhgeschäfte gab es und die Kinder konnten beim Anprobieren ihre Füße in ein Pediskop stellen, einen halbmannshohen Holzkasten mit einer Sehscheibe oben darauf. Grün fluoreszierend sah man dann die eigenen Zehnknöchel bis zum Schuhrand. Niemand dachte sich dabei sonderlich viel über diese Röntgenstrahlen. Vor dem größten Kaufhaus stand auch abends immer die Lavendelfrau, die klein und gebückt vor sich einen riesigen Korb mit in buntem Seidenpapier verpackten Lavendelblüten stehen hatte. Großmutter kaufte stets aus Mitleid etwas davon; daheim in den Schränken wusste sie mit den angenehm duftenden Säckchen nicht mehr wohin. In der Quergasse sprangen dann und wann Selbstmörder von der zwölfgeschossigen, nach dem Krieg wieder aufgebauten Gebäudezeile, was schimpfende Hausmeisterinnen dazu veranlasste, die Blutlachen rasch in den Kanal zu schwemmen. Noch in der Finsternis blitzten aus den Fenstern der Kunstschlosserei blauweiße Lichtkaskaden, die an den Hauswänden hochtanzten und oben am Bahnhof konnte man manchmal die quietschenden und schleifenden Rangiergeräusche der Waggons hören, vor allem, wenn es nach Mitternacht war. Dann machte sich so etwas wie Fernweh breit, auch der Vollmond, wenn er über dem Hofgarten stand, mochte dazu beigetragen haben.

    Indessen veränderte sich in der Annenstraße allerhand, und wenn man rund ein halbes Jahrhundert dort nicht mehr gewohnt hatte, umso mehr. Aus den honorigen Kaufgeschäften sind heruntergekommene Läden geworden, Konditoreien und Restaurants bestehen nicht mehr und sind Schnellimbissen und zweifelhaften Wettcafés gewichen. Geschwindigkeiten, Gerüche und Farben haben sich drastisch verändert. Jede Straße, jede Gasse hat ihren Rhythmus, jene lang schon nicht mehr. Natürlich sollten die Dinge so hingenommen werden wie sie sind, wie man auch immer so sagt. Möglich wäre es, dass manche in der Straßenbahn ihn für einen Schläfer oder Betrunkenen gehalten haben, wenn er dort durchfahrend manchmal die Augen geschlossen hielt.

    BEGEGNUNG


    Gegen Herbst fuhren sie nochmals nach Venedig, denn, so die Mutter, das Kind sollte doch noch was zu sehen bekommen, bevor der Winter endgültig über die Grenzberge käme. Das kleine Hotel auf der Guidecca war wenig frequentiert und schien schon viel bessere Tage gesehen zu haben. Die Marmorböden waren blind geschruppt, auf den zerkratzen Mahagoni-Tischen standen Kristallschalen mit Südfrüchten, über die man etwas Eiswasser gegossen hatte. Am Vormittag vor der Abreise entschied die Großmutter, dass das Kind noch ein wenig frische Luft brauchte und so spazierten sie an der grauen Mole entlang. Der Weg war gepflastert und alte Villen standen zwischen verwilderten Gärten umher, das Meerwasser schwappte ans Ufer. Die mächtigen Steinblöcke dort waren veralgt und manchmal konnte man große verrostete Eisenringe darauf sehen, an denen einmal Schiffe festgemacht hatten. Draußen an der Kimm fuhren Wolken wie riesige Galeonen auf, der Wind begann böig zu werden, alles roch nach Abschied. Großmutters seidenes Kopftuch flatterte ein wenig und verhüllte manchmal fast ihre Augen, die nur ein Jahr später für immer geschlossen sein würden. Das Kind ging also neben ihr her und wollte ihr durchaus nicht die Hand geben, denn dafür schien es sich ja doch bereits zu alt zu sein. Landeinwärts erhob sich die Stadt als fast durchscheinende Silhouette, bekannt aus allen Tourismusbroschüren der Welt. Ob und was sie miteinander redeten? Sicher nur Belangloses wie „Geh nicht zu nah an den Rand! oder „Übermorgen fängt die Schule wieder an, freust du dich? Nein, so war sicher es nicht. Wenige Menschen kamen ihnen entgegen, die Saison war schließlich vorbei. Der Mann, der nun auf sie zukam, war hager und von mittelgroßer Gestalt. Er ging an einem zierlichen Stock und hatte einen weiten Mantel an, am Kopf eine Art Kosakenmütze aus schwarzem Pelz. Sein Gang war nicht recht einzuschätzen, vielleicht etwas zögerlich, wenn er auf das Meer hinausblickte. Man passierte einander und das Kind schaute in ein wunderliches, sehr scharfes Gesicht, das aus tausend Falten und einem wild wuchernden weißgrauen Bart bestand. Er musterte die beiden scharf, ja geradezu spöttisch und war vorbei. Das Kind drehte sich um und meinte, dass der Herr sich nochmals nach ihnen umgesehen hätte, aber der ging nur ruhig weiter seines Wegs. Großmutter murmelte, dass der eben wie Odysseus ausgesehen hätte, was wiederum ihm keinen Eindruck machen konnte. Die Begegnung hatte lediglich ein paar Sekunden gedauert und versank bald darauf in einem Leben, das sich solchen Erinnerungen längst noch nicht stellen wollte, warum denn auch? Es muss vier Jahrzehnte später gewesen sein, als ein holländischer Autorenkollege ihm einen Fotoband über Old Ez in Italy schenkte. Darin fand sich ein Bild des einsamen, längst verstoßenen Dichters auf jener Mole der Guidecca. Er geht seines Wegs, stoisch, wohl auch mit listigem Blick, gleichem Gewand, Mütze und Stock. Vor allem das Antlitz tauchte plötzlich wieder aus dem Vergessen auf, so wie es der feindlich gesonnene Gott Poseidon mit seinem Dreizack in den uns bedrängenden

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