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Dorian Hunter - Unheilige Nacht: 9 Kurzgeschichten
Dorian Hunter - Unheilige Nacht: 9 Kurzgeschichten
Dorian Hunter - Unheilige Nacht: 9 Kurzgeschichten
eBook276 Seiten3 Stunden

Dorian Hunter - Unheilige Nacht: 9 Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

Nicht erst mit den Raunächten bricht eine besondere Zeit an. Es ist die Zeit der Einkehr. Die Dämonen werden mit zunehmender Dunkelheit von Nacht zu Nacht realer. Höchste Zeit also, Dorian Hunter und Coco Zamis in neun Geschichten auf ihrer Winterreise zu begleiten.

Mit Storys von Simon Borner, Catalina Corvo, Logan Dee, Jörg Kleudgen, Catherine Parker, Christian Schwarz, Michael Marcus Thurner, Uwe Voehl und Susanne Wilhelm.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Nov. 2016
ISBN9783955728205
Dorian Hunter - Unheilige Nacht: 9 Kurzgeschichten

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    Buchvorschau

    Dorian Hunter - Unheilige Nacht - Simon Borner

    Nacht

    Vorwort

    Der Winter kommt immer auf leisen Sohlen. Er ist eine Zeit der Dunkelheit, eine Zeit, in der den Menschen die Grenze zwischen der Realität und dem Übernatürlichen immer schon besonders dünn schien. Die Dämonen werden mit zunehmender Finsternis von Nacht zu Nacht realer. Und spätestens, wenn die ganz fiesen Alpträume uns um den Schlaf bringen, sollten wir sie mit passender Lektüre verscheuchen. Höchste Zeit also, Dorian Hunter oder Coco Zamis auf ihrer Winterreise zu begleiten – denn sie meinen es in der Regel gut mit uns, wenn sie diese Welt von dem einen oder anderen Dämon befreien. Aber Vorsicht: Nicht immer geht es gut aus, und mancher aus der Sippe der Zamis sieht die Sache wieder ganz anders, während Dorian Hunter auch mal seine inneren Dämonen bekämpft – aber das alles kennen Sie ja, die beiden sind Ihnen vertraut aus DORIAN HUNTER oder DAS HAUS ZAMIS, nicht wahr?

    Der ZAUBERMOND-Verlag startete einen Aufruf, dem alle Autoren folgten: Schreibt eine Geschichte, die zu einer der beiden Serien passt. Mindestens 5000 Wörter sollte sie lang sein. Ach ja, und möglichst zur Winterzeit spielen. Die Autoren ließen ihrer Phantasie freien Lauf – und herausgekommen ist diese Anthologie, die ganz besondere Geschichten exklusiv vereint:

    Simon Borner widmet sich in Das ABC des Teufels einem Zeitvertreib, der schon immer als teuflisch und sündig galt: Dem Glücksspiel.

    In Der Freak der Weihnacht erkundet Uwe Voehl ganz in Dickens’’scher Tradition Dorian Hunters vergangene, gegenwärtige und zukünftige Weihnacht.

    Catherine Parker entführt zu Hogmanay nach Schottland. Das titelgebende Fest ist die schottische Version von Silvester, hat hier aber wenig mit fröhlichen Feiern und Feuerwerk zu tun.

    In Loiwein gibt es zusammen mit Michael Marcus Thurner heidnische Opferstätten zu besichtigen.

    Christian Schwarz dagegen verstrickt Dorian Hunter in eine Fehde, die nicht ganz den Regeln der Schwarzen Familie entspricht.

    In Susanne Wilhelms Krampus wird Coco mit ihrer Vergangenheit auf Schloss Behemoth konfrontiert, aber auch mit einem wilden Gesellen, der im Revier ihres Onkels auf Menschenjagd geht.

    Jörg Kleudgen und Logan Dee lassen es in Black Snow jahreszeitlich gemäß schneien, nur fällt stattdessen schwarzer Schnee – und der ist auch noch tödlich!

    In Catalina Corvos bittersüßer Romanze Thomasnacht begegnen wir einem alten Bekannten, der sein schwarzes Herz an eine ganz ungewöhnliche Dämonin verliert.

    Und Michael Marcus Thurner klärt uns in Unheilige Nacht endlich darüber auf, wer eigentlich in den Etagen über dem Café Zamis haust.

    Sie sehen schon, so ganz friedlich verlaufen unsere Weihnachtsfeste nicht …

    Susanne Wilhelm & Uwe Voehl

    Erstes Buch: Dorian Hunter

    Das ABC des Teufels

    von Simon Borner

    Karten sind des Teufels ABC.

    - sorbisches Sprichwort

    Spanien, 1796

    Sein Name war Hugo Bassarak. Aber er hatte keine Bedeutung mehr. Er gehörte der Vergangenheit an – genau wie jedes andere Detail seines Lebens. Und die Vergangenheit war vorüber. Endgültig. Sie musste es einfach sein.

    Andernfalls wäre es vermutlich sein Tod.

    Die Straße war lang, staubig und kerzengerade. Bassarak wusste nicht, wie lange er sie schon beschritt. Tage? Wochen? Die Zeit verlor jegliche Bedeutung, wenn man stur nach Süden wanderte, nichts als den Himmel und das Gras am Wegesrand als Begleitung und nichts als das ferne Ziel im Sinn:

    Portugal. Die Atlantikküste.

    Dort würde er ein Schiff finden, das ihn noch weiter weg von all dem brachte, was er zu vergessen suchte. Wenn erst Ozeane zwischen ihm und Paris lagen … Vielleicht würde er dann endlich vergessen können. Endlich leben können. Endlich Frieden finden.

    Am Tag gelang ihm das schon recht gut. Die staubige Landstraße half, die Erinnerungen verblassen zu lassen. Sie bestätigte einem mit jedem zurückgelegten Schritt und jedem passierten Grashalm aufs Neue, dass es vorwärts ging und die Grauen des Gestern immer weiter hinter ihm lagen. Die Straße gab einem eine Beschäftigung und ein Gefühl von Fortschritt. Nur bei Nacht, wenn Bassarak allein auf seinem Lager ruhte, den Blick ins Dunkel gerichtet, kehrten die Erinnerungen zurück und überwältigten ihn wie Sturmwellen das schutzlose Ufer. Nachts bekam das Gestern Zähne, und sein Biss war noch so teuflisch wie eh und je.

    Nicht denken, tadelte er sich daher und richtete den Blick nun wieder stur gen Horizont. Handeln.

    Es war sein Mantra, seit Wochen schon. Er ging, um zu vergessen – das ja –, aber auch, um sich einen Neuanfang zu ermöglichen. Er ging, damit ein Schlussstrich gezogen wurde und ein neues Kapitel begann. Eines, in dem das Gestern keine Rolle mehr spielte, weil niemand es mehr kannte. Weil niemand Fragen stellte, die Bassarak nicht beantworten wollte. Und weil gefühlt Welten zwischen ihm und Paris liegen würden. Welten voller Sicherheit.

    Es war spät geworden an diesem Tag. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel über Spaniens Bergen. Bassarak war auf seiner Wanderung so in Gedanken versunken gewesen, dass er sie erst jetzt bemerkte. Ferner Donner drang nun an sein Ohr, und in der Luft lag eine drückende Schwüle, die ihm trotz der schon späten Stunde erneut den Schweiß aus den Poren lockte. Ein Sturm bahnte sich an. Sogar ein ziemlich starker, wenn er sich nicht irrte. Selbst das Zwitschern der Vögel – eigentlich eine Konstante auf seinem Weg – war inzwischen verstummt. Die gefiederten Tiere schienen bereits irgendwo Zuflucht gefunden zu haben.

    Da geht es ihnen besser als mir.

    Seufzend beschleunigte Bassarak seinen Schritt. Irgendwo würde er schon eine Scheune oder einen Gasthof finden. Wenn er Glück hatte und sich beeilte, erreichte er ihn noch, bevor das Wetter zur Gefahr wurde und ein Blitz an ihm beendete, was dem Grauen von Paris nicht gelungen war.

    Knapp eine Stunde später kam er nach Punto Final. Der so pathetisch betitelte Ort war wenig mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Eine Handvoll windschiefer Häuser, irgendwo im Hinterland des spanischen Nirgendwo gelegen, zwischen den Bergen und dem Wald, und rechts und links an ein und derselben staubigen Straße aufgereiht, der einzigen weit und breit. Schwarze Fenster, hinter denen sich nichts rührte. Krumme Schornsteine, aus denen kein Rauch aufstieg. Schmutzige Fassaden. Doch mittendrin: ein Gasthaus.

    Bassarak, inzwischen regennass bis auf die Knochen, atmete erleichtert auf. Schnell bog er von der Straße ab und steuerte auf das ebenso kleine wie unscheinbar wirkende Lokal zu. Es hieß genau wie der Ort, und zumindest von außen machte es selbst an diesem Unwetterabend einen alles andere als heimeligen Eindruck. Aber in der Not war jeder Hafen eine Rettung, und das Punto Final hatte der Straße und dem Sturm zumindest Wände und ein Dach voraus. Das war im Moment alles, was für Bassarak zählte. Dankbar betrat er den Schankraum.

    Auch das Innere des Gasthauses verdiente eigentlich keine Beschreibung. Schmucklose Wände, abgewetzte Tische und Stühle. Ein langer Tresen am hinteren Ende des Raumes wirkte so windschief wie der gesamte Ort, und die Handvoll schlicht wirkender Gestalten, die sich an ihm versammelt hatten, um ein Glas nach dem anderen zu leeren, waren sich selbst genug. Niemand von ihnen drehte sich nach Bassarak um.

    Das, fand dieser, war ein weiterer Glücksfall. Er achtete kaum auf sie. Schweigend nahm Bassarak an einem Ecktisch Platz, fuhr sich mit der Hand über das nasse Gesicht und streckte die Beine aus. Wie aus dem Nichts erschien der Wirt neben ihm – ein stämmiger Bär von einem Mann mit schwarzem Haar und vollem Bart –, stellte kommentarlos einen Krug Bier vor ihm ab und ging genauso kommentarlos wieder zum Tresen zurück. Unter anderen Umständen hätte Bassarak sich beschwert, schließlich hatte er nichts bestellt. Nun aber merkte er, wie durstig er war, und leerte den halben Krug in einem einzigen Zug. Das Gebräu schmeckte himmlisch.

    Zeit verstrich. Bassarak hatte die Stiefel ausgezogen und das Regenwasser aus ihnen gekippt. Sein kurzes Haar begann zu trocknen, die Kleidung ebenfalls. Eine wohlige Wärme und Ruhe machte sich in seinem Inneren breit. Vor den Fenstern des Punto Final tobte das Unwetter. Wind pfiff um die schiefen Häuser, und die restlos verlassene Straße schien im Nass zu versinken. Doch hier im Schankraum war es trocken und friedlich. Außerdem gab es Bier.

    Bassarak war bereits beim dritten Krug, als er sich endlich einmal nach den Gestalten am Tresen umdrehte. Zwei von ihnen waren tatsächlich eher simple Gesellen. In die Jahre gekommene Männer vom Land, mit wettergegerbten Gesichtern, schwieligen Händen und Hosen, die öfter geflickt worden waren als gewaschen. Stoisch und zügig leerten sie ihre Humpen, einen nach dem anderen. Sie redeten nicht viel, aber das taten sie draußen auf ihren Feldern vermutlich auch nie.

    Nur einer redete viel. Zu viel.

    »Herr Wirt, noch eine Runde für meine neuen Freunde! Und zwar das starke Zeug, hört Ihr? Dieser Sturm, der uns so unverhofft in Eurer Schänke zusammengeführt hat, soll uns ein Grund zum Feiern sein.«

    Sehr gestelzte Worte für einen so simplen Ort. Auch ihr Sprecher passte nicht ganz in die Umgebung. Der Mann dort in den Schatten am hinteren Tresenende war deutlich auffälliger gekleidet als die Landeier, fast schon städtisch. Er war gertenschlank und drahtig, wo sie eher durch Muskeln und klobigere Statur überzeugten. Außerdem hatte er feuerrotes Haar, eine unnatürliche Blässe und trug sogar hier im Haus noch einen Hut, dessen Krempe seine Züge zum Großteil in Dunkelheit hüllte. Der Kragen seines Mantels war hochgeschlagen, als würde er frieren. Und doch lag eine Herzlichkeit und Wärme in seinem Tonfall, die von allem anderen als von Kälte kündete.

    Sie war klebrig wie Honig und falsch wie der Tod.

    Bassarak begriff sofort. Denn er kannte solch einen Tonfall gut. Aus Paris … und aus den schlaflosen Nächten.

    Sofort sah er wieder weg. Sein Atem ging schneller, und die Hände, die seinen dritten Krug hielten, zitterten plötzlich leicht. Mit einem Mal war er stocknüchtern.

    Konnte es wirklich wahr sein? Einer von ihnen, so weit draußen im Nichts? So fern von Paris und dem pulsierenden Leben, nach dem diese elenden Ungetüme doch so sehr lechzten?

    Bassarak versuchte sich einzureden, dass seine Phantasie ihm Streiche spielte. Doch sein Instinkt sprach eine ganz andere, erschreckend deutliche Sprache. Die so menschlich anmutende Kreatur da am Tresen war keine Phantasie. Sie war echt. Und sie jagte!

    »Trinkt, Freunde. Trinkt. Ich lade euch ein. Eure Gesellschaft ist mir ein Segen. Wer hätte gedacht, dass ich hier draußen auf solch herrliche Kumpane stoße?«

    Bassarak biss die Zähne zusammen, dass ihm die Kiefer schmerzten. Sein ganzer Körper schien zu verkrampfen, so sehr ekelte und entsetzte ihn die Präsenz des blassen Ungeheuers dort am Tresen. Warum hatte er diesen Dämon nicht schon bei seiner Ankunft bemerkt? War er zu müde gewesen, zu erschöpft? Waren die alten Instinkte nach all den Wochen auf der Landstraße etwa eingerostet?

    Es änderte nichts: Der Blasse Mann war hier, und mit jedem Krug, den er den tumben Feldarbeitern spendierte, zog er seine Schlinge enger zu. Nicht mehr lange, und er würde sich einen der Zecher als Beute nehmen. Wenn nicht sogar alle. Die Gier war schließlich das, was seine elende Brut vor allem anderen auszeichnete. Sogar noch vor dem Mangel an Moral.

    »Was ist mit Euch, Freund? Wollt Ihr Euch uns nicht anschließen? In stürmischen Nächten wie heute kann man sich doch keine bessere Gesellschaft wünschen?«

    Bassarak wusste sehr genau, wem die Frage galt. So genau, wie er wusste, dass der Blick des Blassen plötzlich allein auf ihm ruhte. Dieser gierige, unmenschliche, elende Blick.

    »Wir haben noch Platz für Euch, mein Freund«, rief der Fremde in Bassaraks Rücken. »Kommt doch einfach her. Die nächste Runde geht auf mich!«

    Bassaraks Augen waren weit geöffnet. Doch obwohl er stur auf den Sturm jenseits der Fenster blickte, sah er nur die Bilder seiner Vergangenheit vor sich. Das Blut von Paris, die Toten und die dämonische, gierige Brut.

    »Freund?«, rief der Fremde. Falsche Freundlichkeit, falscher Charme. Trügerisch und verlogen. Lockend schlug er zwei Bierkrüge aneinander. »Trinkt mit uns, was sagt Ihr?«

    Ruckartig stand Bassarak auf. »Nein danke!«

    Sein Herz pochte wie wild, und hinter seiner Stirn kämpfte Wut mit Angst und Übelkeit. Er drehte sich nicht um, dachte nicht groß nach, als er nach seinen Stiefeln griff. Schroff warf ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Punto Final ohne ein weiteres Wort.

    Hass loderte in ihm wie Feuer, als er zurück auf die Straße trat. Der Regen, der Wind, die grellen Blitze am pechfinsteren Wolkenhimmel – all das scherte ihn mit einem Mal nicht mehr. Alles war besser als noch eine Sekunde länger in diesem von den Göttern verfluchten Gasthaus zu verbringen. Er hatte Paris verlassen, um die Vergangenheit zu vergessen und neu zu beginnen. Also durfte – und würde, verdammt! – er sich auch nicht von ihr einholen lassen. Auf gar keinen Fall. Die Gestalt dort im Schankraum … Sie kümmerte ihn nicht. Warum sollte sie? Er war schließlich nicht mehr der Mann von damals.

    Sein Wille war stark, doch der Sturm war stärker. Kaum eine halbe Stunde, nachdem Bassarak Punto Final verlassen hatte, musste er einsehen, dass ein Weiterkommen absolut unmöglich war. Zum einen lag das an der Uhrzeit. Es war nach Mitternacht, und die schmale Landstraße, die vom Ort in den Wald führte, schien kaum noch erkennbar. Zum anderen erschwerte auch das Unwetter Bassaraks Unterfangen. Der Sturm, der am frühen Abend aufgezogen war, hatte sich inzwischen in ein absolut apokalyptisches Inferno verwandelt. Pechschwarze Wolken türmten sich am Himmel, als wollten sie Mond und Sterne auf ewig in ihrer Schwärze verschlingen. Gleißend helle Blitze durchfuhren die Nacht, flink wie das scharfe Messer eines Mörders. Unbändiger, laut tosender Wind brachte die Bäume zum Schwanken und ließ wahre Fontänen aus abgerissenen Ästen, Blattwerk und Dreck auf die verlassene Landstraße prasseln. Und der elende, eiskalte Regen, der mittlerweile aus allen Richtungen zu kommen schien, tat sein Übriges, Bassarak am Weitergehen zu hindern.

    Bislang hatte sich der Wanderer nicht groß um das Wetter geschert. Der Hass und der Ekel, die die Begegnung in der Gaststätte in ihm geweckt hatten, waren ihm Antrieb genug gewesen, der Natur die Stirn zu bieten und einfach stur weiterzuziehen. Zu handeln, statt zu denken. Nun aber, nach knapp zwei Kilometern durch finsterste, unwirtliche Gewitternacht, musste Bassarak sich eingestehen, dass seine Sturheit nicht heroisch, sondern ganz und gar töricht war. Wenn er nicht bald zur Besinnung kam, wurde sie vermutlich sogar sein Tod.

    Als wolle er diese Erkenntnis noch unterstreichen, schlug just in dem Moment ein Blitz rechts von Bassarak in einen Baum ein. Der Knall war ohrenbetäubend, das Licht blendete – und selbst der immens starke Regen brauchte einige Augenblicke, um das prompt in Flammen stehende Holz wieder zu löschen. Zurück blieb ein verkohlter Baumstumpf und ein nicht minder verkohlter Stamm, der abbrach, seitlich umkippte und wenige Schritte vor Bassarak quer über die nasse Landstraße fiel.

    Das könnte ich sein, ging es dem Wanderer durch den Kopf. Und mit einem Mal kehrte die Vernunft endgültig in ihn zurück. Es nützt nichts. Ich brauche einen Unterschlupf. Schnell.

    Doch woher nehmen? Das Punto Final lag zwar nur eine halbe Stunde hinter ihm, doch wäre er lieber gestorben, als sich erneut der Gesellschaft des dort jagenden Monstrums auszusetzen. Die anderen Gebäude des kleinen Ortes waren gewiss eine Option, aber ebenfalls keine, die Bassarak angenehm war.

    Dieser Dämon wird sich vielleicht nicht mit den Zechern in der Schänke begnügen. Der ganze Ort wird seine Spielwiese. Der Ort … ist verseucht!

    Ja, das traf es, oder? Die Gegenwart des Blassen Mannes hatte das kleine Dorf Punto Final in Bassaraks Augen befleckt, es infiziert und unrein werden lassen. Der Blasse Mann machte es zu einem Stück aus Bassaraks Vergangenheit, nicht zu der Zukunft, die der nächtliche Wanderer so dringend suchte. Dorthin konnte er nicht zurück. Niemals. Sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen.

    Aber ich kann auch nicht hier stehen bleiben. So viel ist sicher.

    Donner grollte, hungrig wie ein Raubtier. Ratlos kniff Bassarak die Lider enger zusammen und ließ den Blick schweifen. Die Nacht und der Wald waren dunkel und ungastlich. Nirgends konnte er einen Unterstand ausmachen, keinen Felsvorsprung, keine Scheune, nichts.

    Bei der Finsternis ist das auch keine Überraschung. Selbst wenn da direkt vor mir ein mehrstöckiges Haus stünde, würde ich es nicht erkennen.

    Er wollte gerade weiterziehen und über den Baumstamm steigen, da bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel. Sofort übernahmen die alten Instinkte das Ruder. Bassarak spannte die Muskeln an, ballte die Hände zu Fäusten … und drehte den Kopf zur Seite.

    Nichts. Nur Schwärze und Dunkelheit.

    Bassarak runzelte die Stirn. War seine Phantasie mit ihm durchgegangen?

    Da! Wieder bewegte sich etwas. Bassarak hielt den Atem an, lauschte, hörte aber nur den Sturm.

    Und mit einem Mal sah er das Licht. Es befand sich vielleicht ein Dutzend Meter links von ihm, jenseits der Baumgrenze. Ein kleines, rötlich flackerndes Leuchten inmitten der Finsternis. Es wanderte nicht, es blieb dort, wo es war. Die Bewegung, die er meinte wahrgenommen zu haben, mussten die im Wind schaukelnden Baumkronen sein, die das Licht mal verdeckten und mal enthüllten.

    Bassarak trat einen Schritt näher, dann noch einen. Was war das? Eine Laterne? Das Fenster einer kleinen Hütte? Hier draußen im nachtdunklen Nichts?

    Oder handelte es sich um einen weiteren dämonischen Spuk?

    Vorsichtig hielt Bassarak auf das rötliche Licht zu. Er durchbrach die Baumgrenze, schlich weiter. Und ein neuer Blitz, der die Nacht kurz taghell werden ließ, schenkte ihm endlich Gewissheit. Das war eine Hütte!

    Sie war winzig klein und wirkte recht ramponiert. Vier Wände aus grobem Holz, ein schiefes Dach, auf dem das Moos wucherte. Licht, das aus einem Fenster fiel. Die hintere Wand wurde von einem gemauerten Schornstein dominiert, der von stattlichem Umfang war. Und rings herum wucherten Gras, Efeu, Büsche …

    Ein Köhler?, fragte sich Bassarak. Die Vermutung lag nahe. Wer sonst sollte so weit außerhalb der Ortschaft weilen? Und trotzdem … Irgendwie weckte sie neue Zweifel in ihm.

    Doch eine Hütte war eine Hütte. Und manchmal durfte man sein Glück nicht zu sehr hinterfragen. Klatschnass, wie er war, trat Bassarak an die Tür der vermeintlichen Köhlerhütte und klopfte an.

    Nichts regte sich, aber die Tür war unverschlossen und glitt einfach auf. Bassarak sah einen schlichten Raum, ein brennendes Kaminfeuer, einen Tisch mit zwei Stühlen.

    »Hallo? Ist hier jemand?«

    Stille. Nur der Sturm drang an sein Ohr. Vorsichtig trat Bassarak über die Schwelle, raus aus dem Unwetter.

    Das Haus – es schien tatsächlich nur aus dem einen Zimmer zu bestehen – war verlassen, obwohl das Kaminfeuer brannte. Eigenartig.

    Bassarak schloss die Tür hinter sich, und schon verspürte er eine angenehme Wärme, die die Nässe und Kälte des Unwetters vertrieb. Auch das Tosen des Windes vernahm er deutlich schwächer als vorhin. Das Prasseln des Feuers dort im gemauerten Kamin war deutlich lauter – und deutlich heimeliger.

    Ächzend ließ er sich auf einem der beiden Stühle nieder, nur für einen kurzen Moment. Er wusste nicht, welchem Wink des Schicksals er diese Oase inmitten der stürmischen Nacht verdankte, und er wollte seine unbekannten Gastgeber auch nicht über Gebühr belasten. Nein, er würde sich einfach kurz aufwärmen und den ärgsten Teil des Unwetters aussitzen. Dann würde er weiterziehen. Wem auch immer diese Hütte gehörte, bekam so vielleicht gar nicht mit, dass er hier gewesen war.

    Zufrieden und erleichtert legte Bassarak den nassen Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Mit einem Mal musste er gähnen.

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