Dorian Hunter 33 - Die Pestburg
Von Ernst Vlcek, Neal Davenport und Uwe Voehl
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Über dieses E-Book
Der 33. Band der legendären Serie um den "Dämonenkiller" Dorian Hunter. - "Okkultismus, Historie und B-Movie-Charme - ›Dorian Hunter‹ und sein Spin-Off ›Das Haus Zamis‹ vermischen all das so schamlos ambitioniert wie kein anderer Vertreter deutschsprachiger pulp fiction." Kai Meyer
enthält die Romane:
152: "Die rote Hexe"
153: "Die Pestburg"
154: "In der Folterkammer des Hexenjägers"
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Buchvorschau
Dorian Hunter 33 - Die Pestburg - Ernst Vlcek
Die Pestburg
Band 33
Die Pestburg
von Ernst Vlcek, Neal Davenport, Uwe Voehl und Oliver Fröhlich
© Zaubermond Verlag 2013
© Dorian Hunter – Dämonenkiller
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur
http://www.zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Was bisher geschah:
Die Gefahr, die von dem Kinddämon Baphomet ausging, ist gebannt. Mit dem Tod des Kinddämons, in dessen Körper der Geist des dämonischen Schiedsrichters Skarabäus Toth steckte, hat seine einstige Schülerin Rebecca ihre Stellung innerhalb der Schwarzen Familie gefestigt und ist ihrem Ziel, den Erzdämon Luguri zum Kampf um den Thron herauszufordern, wieder ein Stück näher gekommen.
In Wien baut Rebecca ihre Macht aus, basierend auf der Unterstützung der Vampire, die nach mehr Einfluss in der Schwarzen Familie streben. Rebeccas Absicht, auch die Hexe Coco Zamis vor ihren Karren zu spannen, misslingt jedoch. Es gelingt Coco, ihren Sohn Martin endgültig aus dem Bann der Vampirin zu befreien. Rebecca jedoch sinnt auf Rache. Sie weiß, dass der Tag, an dem sie die Macht über die Schwarze Familie an sich reißen wird, nicht mehr fern ist.
Zuvor jedoch wird Dorian Hunter abermals von Erinnerungen übermannt. Diesmal sind es die Geschehnisse aus seinem sechsten Leben, die die Ereignisse der Gegenwart auf unselige Weise beeinflussen und ihre Schatten auf den Zweikampf zwischen Rebecca und Luguri werfen ...
Erstes Buch: Die rote Hexe
Die rote Hexe
von Neal Davenport und Uwe Voehl
1. Kapitel
Der Dämon glotzte Ira Marginter aus schmalen Augen an. In seinem weit aufgerissenen Maul prangten zwei Reihen spitzer, blutverschmierter Zähne. Eine Mähne aus Flammen rahmte den gigantischen Schädel ein, nur durchbrochen von zwei geschwungenen Widderhörnern. Dazwischen hing der aufgespießte, zerfetzte Leichnam eines nackten Mannes. Feuerspitzen züngelten über den Leib des Toten, sodass Ira fast glaubte, den Gestank verbrannter Haut und Haare riechen zu können.
Die Restauratorin aus Köln hatte im Castillo Basajaun schon etliche schauderhafte Fresken gesehen und ihnen zu neuer zweifelhafter Brillanz verholfen, aber das Wandgemälde, dem sie seit ein paar Tagen ihre Aufmerksamkeit widmete, gehörte zu den scheußlichsten. Kein Wunder, dass der ... nun ja ... Künstler es in einem schmalen Seitengang versteckt hatte. Andererseits, wenn man die Geschichte des alten Gemäuers betrachtete, hätte es besser in die Haupthalle gepasst.
Ira blinzelte. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Die Armbanduhr verriet ihr, dass Mitternacht gerade vorüber war. Seit fast zwanzig Stunden auf den Beinen! Und den größten Teil der Zeit mit Blick auf die Malerei, auf Blut, Feuer und Dämonenspeichel. Ihre Schultern fühlten sich steinhart an, der Nacken war eine einzige Verspannung. Sie brauchte dringend ein heißes Bad und ein paar große Mützen Schlaf.
Oder reichte ein Kaffee aus? Schön stark und so schwarz, dass sie damit die dunklen Stellen des Freskos ausbessern könnte.
Sie schüttelte den Kopf. Auch wenn sie mit diesem grässlichen Stück so schnell wie möglich fertig werden wollte, würde sie ihrer Aufgabe nicht gerecht, wenn sie vor Müdigkeit kaum noch zu stehen imstande war.
Sie legte den Pinsel zur Seite, betrachtete die aus den Dämonennüstern steigenden Rauchwolken, an denen sie gearbeitet hatte, und nickte zufrieden. Noch ein Tag Arbeit, allerhöchstens zwei, dann war das Gemäl...
Ira stockte.
Was zum Teufel war denn das?
Im linken Auge des Monstrums schimmerte ein roter Fleck, der dort nicht hingehörte. Ein Farbspritzer? Das wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, der ihr noch nie unterlaufen war. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, sah erneut hin – und der Klecks war verschwunden.
Zu müde. Du bist ganz eindeutig zu müde.
Sie gähnte so heftig, dass Tränen ihr den Blick verschleierten und über die Wangen liefen. Durch den Feuchtigkeitsfilm sah sie ein rötliches Schimmern. Erneut auf Höhe des linken Dämonenauges.
Das ist unmög...
Sie wollte die Tränen wegwischen, aber noch bevor sie mit der Hand ihr Gesicht berührte, explodierte der rote Fleck. Fetzen von Purpur, Scharlachrot, Blutrot, Karminrot, Zinnoberrot legten sich auf sie, hüllten sie ein und trugen sie davon.
Als sich ihr Blick klarte, starrte sie wieder auf die Dämonenfratze. Nur dass es sich diesmal nicht mehr um ein Gemälde handelte. Ohne einen Körper zu besitzen, schwebte die Visage einen Meter über dem Boden, groß wie ein Mittelklassewagen. Und sie kam auf Ira zu. Langsam nur, aber unaufhaltsam.
Ira roch den Qualm aus den Nüstern, den Gestank nach der verbrannten Haut des Opfers zwischen den Widderhörnern, die Ausdünstung nach Verwesung und Verfall. Die Hitze des Flammenkranzes schlug ihr ins Gesicht, raubte ihr den Atem.
Sie wollte sich herumwerfen und weglaufen, doch sie war zu keiner Bewegung fähig. Sie blickte an sich hinab und erkannte mit Entsetzen den Grund: Ihre Beine steckten bis über die Knie im steinernen, rissigen Boden. Lavafäden krochen aus den Spalten, umschlängelten Iras Oberschenkel, arbeiteten sich in die Höhe.
Nun erst nahm sie bewusst wahr, in welche Höllenlandschaft es sie verschlagen hatte. Vor ihr erstreckte sich eine grenzenlos erscheinende Ebene. Stalaktiten hingen aus dem grauen Nichts des Himmels. Von ihnen tropfte Blut, das zischend verdampfte, sobald es den Boden berührte. Felsformationen, nein: Skulpturen, die an schmerzverkrümmte Menschenleiber erinnerten, bevölkerten das Land, so weit das Auge reichte. Die Arme erhoben, die Finger zu Krallen gekrümmt, die Münder zu ewig währenden Schreien geöffnet. Sie alle steckten bis zu den Knien im Boden.
O nein!
»Ira!«, dröhnte eine Stimme über die Ebene.
»Jetzt gehörst du mir«, donnerte ihr die Dämonenfratze entgegen.
»Nein!«, schrie sie. »Was willst du von mir?«
»Dich!«
»Lass mich in Frieden!«
Der Dämon lachte. Knapp über Armlänge von Ira entfernt verharrte die Fratze. Die Hitze und der Gestank wurden immer unerträglicher. Die Lavafäden, die ihre Beine hochkrochen, spürte sie hingegen nicht.
»Nun bist du mein«, grollte es zwischen den Hauern der Bestie hervor.
»Ira!«, ertönte da wieder die erste Stimme.
Armdicke Stränge einer mehrfach gespaltenen Zunge quollen aus dem Maul des Monstrums und zuckten auf Ira zu. Sie drehte den Oberkörper zur Seite, versuchte auszuweichen, doch es war vergebens. Die Zungenenden packten sie an den Schultern und schüttelten sie durch.
»Mein! Mein! Auf ewig mein!«
»Ira!«
»Du gehörst mir bis ans Ende der Zeit.«
»Ira!«
Das Rütteln wurde immer stärker.
»Ira, wach auf!«
Sie schlug die Augen auf. Vor ihr stand Abi Flindt, die Hände auf ihren Schultern, und schüttelte sie.
»Na endlich«, sagte er. »Ich dachte schon, du willst die Nacht auf diesem Stuhl verbringen.«
Stuhl?
Ira blinzelte und sah sich um. Tatsächlich, sie saß auf dem Klappstuhl, den sie vor der Arbeit an dem Dämonenfratzenfresko für kurze Pausen an die gegenüberliegende Wand gestellt hatte.
Das Fresko!
Ihr Blick zuckte zu dem Gemälde, das sie bis in den Traum verfolgt hatte. Kein rötlicher Fleck im Auge der Bestie. Keine Zungenspitzen, die sie bedrohten. Alles ganz normal.
»Was ist denn los?«, fragte der Däne.
»Ich ... ich bin wohl schon etwas zu lange auf den Beinen. Ich muss eingeschlafen sein. Und dann habe ich von diesem Scheusal geträumt.«
Aber stimmte das wirklich? Es hatte sich so echt angefühlt, so bedrohlich und beängstigend.
Natürlich war es ein Traum!, schalt sie sich selbst. Was sollte es sonst gewesen sein? Das Castillo ist gegen Dämonenangriffe gesichert.
Abi warf einen Blick über die Schulter. »Ist aber auch ein entzückendes Geschöpf. Kein Wunder, dass es deine Gedanken beschäftigt, wenn du es den ganzen Tag vor Augen hast. Und jetzt sieh zu, dass du ins Bett kommst.«
Sie lächelte. »Du hast recht.«
Ira stemmte sich hoch, dabei fiel ihr Blick auf Abi Flindts Schuhe. »Was sind denn das für Treter?«
»Ich muss doch sehr bitten!«, gab er sich empört. Doch in der nächsten Sekunde grinste er und hob einen Fuß. »Stiefel mit Silberbeschlägen. Ich habe beschlossen, meine Ausrüstung ein bisschen aufzustocken. So kann ich auch im Nahkampf gegen einen Dämon bestehen und einem Werwolf so richtig in den Arsch treten. Gefallen sie dir?«
»Sie sind sehr – gewöhnungsbedürftig. Aber zweckmäßig.«
»Und ich dachte, gerade eine Frau könnte sich für neue Schuhe begeistern.«
»Chauvi.« Sie lächelte ihm noch einmal zu, dann wandte sie sich ab und ging in ihr Zimmer. Sie beschloss, das Bad auf den nächsten Tag zu verschieben. Ohne sich umzuziehen, ließ sie sich ins Bett fallen.
Eine Minute später schlief sie tief und fest.
So tief, dass sie nichts von den weiteren Besuchern dieser Nacht mitbekam.
Abi sah der ausnehmend hübschen Kölnerin mit der Traumfigur nach. Er musste sich eingestehen, dass sie ihm sehr, sehr gut gefiel. Und dass er sie wirklich gerne mochte.
Aufgepasst, Abraham Flindt!, ermahnte er sich. Verlieb dich bloß nicht in sie.
Nein, natürlich nicht. Das würde er ihr nicht antun. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass es einer Frau nicht gut bekam, wenn er ihr zu große Gefühle entgegenbrachte. Inzwischen hatte er zwar die Ursache für diesen ominösen Fluch herausgefunden, von dem er geglaubt hatte, dass er auf ihm laste. Er wusste, dass eine zukünftige Lebensgefährtin davon nicht mehr betroffen wäre, dennoch wagte er es noch nicht, sich auf dieses Risiko einzulassen. Dazu saß die Erfahrung früherer Tage zu tief.
Abi drehte sich zu dem Fresko um, das Ira nach dem Aufwachen so angstvoll betrachtet hatte. Er streckte die Hand danach aus, verspürte den Drang darüberzustreichen, zuckte aber zurück. Schließlich wollte er Iras Arbeit nicht ruinieren.
Er seufzte. Was trieb er hier eigentlich? Er sollte auch zu Bett gehen, anstatt hier mitten in der Nacht in Teilen seiner neuen Ausrüstung durch das Kastell zu schleichen.
Aber er konnte nicht anders. Er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas in der Luft lag. Zu ruhig, zu friedlich war es in den letzten Tagen gewesen. Zumindest wenn man von Dorian Hunters Gereiztheit absah, mit der er in der vergangenen Woche seiner Umwelt gegenübergetreten war. Der Dämonenkiller schob es auf wiederkehrende Albträume, die ihm den Nachtschlaf verdarben und ihn tagsüber unausgeglichen machten. Dabei sollte Dorian lieber froh sein, dass sein Sohn Martin dank Cocos Einsatz endlich nicht mehr unter dem Einfluss der Vampirin Rebecca stand.
Abi trat einen Schritt zurück, um den Dämonenkopf in seiner gesamten Scheußlichkeit bewundern zu können. Hatte Iras Albtraum mit denen des Dämonenkillers zu tun? Nein, gewiss nicht. Beruhigen konnte das den Dänen aber auch nicht.
Etwas würde geschehen, dessen war er sich sicher. Aber was?
Er beschloss, weiterhin die Augen offen zu halten. Denn Dorian, so sehr er ihn bewunderte, erschien ihm in der letzten Zeit zu abgelenkt, um sich dieser Aufgabe ausreichend widmen zu können.
»Wer ins Castillo Basajaun will, muss erst an mir vorbei.« Er grinste, als ihm ein alberner Begriff einfiel. »An mir, Abraham Flindt, dem Vollstrecker.«
Coco Zamis schreckte hoch. Geräuschlos setzte sie sich auf und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Es war ruhig im Schlafzimmer. Nur Dorians gleichmäßiges Atmen war zu hören.
Sie knipste das Nachttischlämpchen an und blickte auf den Wecker. Es war genau ein Uhr.
Seit einer Woche wachte sie regelmäßig um diese Zeit auf. Und ein paar Minuten später begann dann stets Dorian zu stöhnen und sich wie verrückt im Bett hin und her zu wälzen. Es war klar, dass ihn Albträume verfolgten. Doch sobald sie ihn geweckt hatte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wovon er geträumt hatte. Coco blickte ihren Gefährten besorgt an. Irgendetwas hatten diese Albträume zu bedeuten – und sicherlich nichts Gutes. Ihre Ahnungen hatten sie selten getäuscht. Coco hatte einige Beschwörungen vorgenommen, um in Erfahrung zu bringen, ob ihnen Gefahr drohte. Doch ihre Bemühungen waren erfolglos geblieben. Sie hatte nichts erfahren.
Dorians Aussehen hat sich in den Jahren, seit wir uns kennen, nicht verändert, dachte Coco und lächelte leicht. So wie damals, als sie ihn in Wien kennengelernt hatte, trug er jetzt wieder den gewaltigen Schnauzbart. Sein Gesicht war gebräunt und das schwarze Haar ziemlich lang. Von der Gesichtstätowierung war nichts mehr zu sehen.
Ihr Lächeln erstarb, als sie an die Gefahren dachte, die sie in den vergangenen Wochen zu bestehen gehabt hatten. Die Situation innerhalb der Schwarzen Familie war verworren. Luguri schien durch den magielosen Zustand, der vor ein paar Wochen in New York geherrscht hatte, noch immer geschwächt zu sein. Anders war es nicht zu erklären, dass er sich nicht Rebecca vorgenommen hatte, die eifrig bemüht war, alle Vampire der Welt um sich zu scharen.
Aber das soll nicht meine Sorge sein, dachte Coco. Sie war glücklich, dass sich ihr Sohn bei ihr im Castillo Basajaun befand. Martin hatte sich zu ihrer größten Überraschung unglaublich schnell an seine neue Umgebung gewöhnt und alle Bewohner lieb gewonnen. Auch die Schrecken der letzten Monate hatten nicht die erwarteten Spuren in seinem Seelenleben hinterlassen. Seit fast drei Wochen befanden sie sich nun in der alten Burg in Andorra. Sie und Dorian hatten die ruhigen Tage genossen. Kein Angriff der Dämonen war erfolgt. Es war ruhig – fast zu ruhig, wie auch Abi Flindt nicht müde wurde, ständig zu wiederholen.
Dorian Hunter stöhnte. Seine rechte Hand stieß die dünne Decke zur Seite. Er ballte die rechte Hand zur Faust und keuchte. Seine Brust hob sich rascher.
Coco beugte sich über ihn. Seine Augäpfel bewegten sich heftig unter den geschlossenen Lidern. Er öffnete den Mund und stöhnte lauter. Dann warf er sich wild im Bett hin und her.
»Dorian«, sagte Coco laut.
Die Bewegungen des Dämonenkillers wurden langsamer.
»Dorian!«
Der Dämonenkiller stieß ein Seufzen aus, gähnte geräuschvoll und öffnete die Augen. Verschlafen blinzelte er Coco an.
»Libussa«, sagte Dorian und unterdrückte ein Gähnen.
»Libussa?«, fragte Coco verwundert. »Du hast wieder einen Albtraum gehabt. Kannst du dich erinnern?«
Dorian nickte langsam. Er schloss die Augen und strich sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Ich kann mich undeutlich erinnern«, sagte er stockend.
»Erzähle«, bat sie.
»Eine Schlacht«, flüsterte Dorian. »Überall das Krachen von Kanonenschüssen. Das Schreien von Verwundeten. Eine Burg. An einem Baum hingen Gehenkte. Und überall Wölfe. Fledermäuse. Dazwischen war immer ein Mädchengesicht zu sehen. Sie hatte rotes Haar, das wie Feuer glühte. Rotes Haar.«
»Kennst du das Mädchen?«
»Es war Libussa«, antwortete Dorian.
»Wer ist Libussa?«
Der Dämonenkiller setzte sich auf und griff nach den Zigaretten. Er steckte zwei an und reichte eine Coco.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Dorian verärgert. Er legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.
»Ist es nicht seltsam, dass du plötzlich von Libussa träumst?«, erkundigte sich Coco.
»Allerdings. Ich bin sicher, dass es eine Warnung sein soll. Ich habe die Szene, die ich eben geträumt habe, vor ein paar Monaten schon einmal gesehen. Es war im Tempel des Hermes Trismegistos. Damals hatte ich aber das Gesicht des Mädchens nur einen Sekundenbruchteil gesehen und es nicht erkannt. Ich hätte schwören können, dass das Mädchen blondes Haar gehabt hatte.«
»Versuche dich zu erinnern, Dorian. Es könnte wichtig sein. Wann hast du in deinem sechsten Leben gelebt?«
»Als Schwarzer Samurai starb ich 1610. Ich muss also im gleichen Augenblick geboren worden sein. Besser gesagt, meine Seele schlüpfte in den Körper eines in dieser Sekunde zur Welt kommenden Kindes. Aber so sehr ich mich auch bemühe, mir fällt nicht ein, wer ich damals gewesen bin.«
»Du hast aber einmal erwähnt, dass du dich an die Szene irgendwie erinnert hast.«
»Stimmt. Es muss während des Dreißigjährigen Krieges gewesen sein. Ich befand mich damals in Deutschland. Libussa muss eine Rolle in meinem damaligen Leben gespielt haben. Aber welche?«
»Das würde ich zu gerne von dir wissen, Dorian. Ich kann dir nicht helfen.«
Wütend sprang Dorian aus dem Bett und drückte die Zigarette aus. Missmutig ging er im Zimmer auf und ab.
»Der Dreißigjährige Krieg begann 1618«, sagte Dorian. »Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits acht Jahre alt.«
»Vielleicht hilft es deiner Erinnerung nach, wenn wir uns über diese Zeit unterhalten?«
»Schaden kann es nicht«, brummte Dorian.
»Begonnen hatte alles mit dem Prager Fenstersturz«, sagte Coco. »Wenn ich mich recht erinnere, muss das im Mai 1618 gewesen sein.«
»Es war der 23. Mai. Die böhmischen Protestanten waren in den Hradschin eingedrungen und warfen die beiden von Ferdinand eingesetzten Statthalter und ihren Sekretär aus einem Fenster des Ratssaals. Die drei landeten zwar auf einem Misthaufen und blieben am Leben, aber dieser Sturz war nur der auslösende Faktor für den Dreißigjährigen Krieg. Die Ursachen dafür lagen viel tiefer.«
»Ich weiß es«, sagte Coco. »Es war eine Frage von Religion. Auf der einen Seite war es der katholische Glaube und auf der anderen Seite die protestantische Religion.«
»Genau genommen waren es sogar drei Parteien«, erklärte Dorian. »Die Reformation hatte zwei Führer gehabt. Luther und Calvin. Und die Lehren dieser beiden ergänzten sich nicht, das Gegenteil war der Fall. Und dazu kamen noch andere Dinge. Die Menschen waren völlig verunsichert. Es gab auch viele Anhänger, die an die Macht des Übersinnlichen und Unerklärlichen glaubten. Tausende fanden Zuflucht im Okkultismus und gaben sich der Schwarzen Magie hin. Die Bewohner Deutschlands glaubten an Hexen, und viele beteten den Teufel an.«
»Ich habe gelesen, dass der Fürst von Anhalt in seinem Tagebuch von Geistererscheinungen geschrieben hat. Der Kurfürst von Brandenburg glaubte an die ›Weiße Frau‹, die angeblich vor Todesfällen warnen sollte. Und der Herzog von Bayern hat sogar seine Frau exorzieren lassen, um den Fluch der Unfruchtbarkeit von ihr zu nehmen.«
Dorian nickte zustimmend. »Ich könnte da noch ganz andere Dinge nennen. Aber kommen wir zum Wesentlichen. 1618 waren die Habsburger die stärkste Dynastie. In ihren Händen vereinigte sich alle Macht. Die Habsburger herrschten über Österreich, Tirol, die Steiermark, Krain, Kärnten, Ungarn, Mähren, Schlesien, die Lausitz und Böhmen, Teile von Burgund, die Niederlande, das Herzogtum Mailand und das Königreich Neapel. Sie waren die Könige von Portugal und Spanien und herrschten in Amerika.«
»Das war ein gewaltiges Reich«, stimmte Coco zu.
»Die Habsburger traten unnachgiebig für die katholische Kirche ein. Sie verfochten diese Überzeugung so verbissen, dass es zwangsläufig zu einer Konfrontation kommen musste. Und es kam dazu. Bedauerlicherweise, wie ich heute sagen muss. Der Dreißigjährige Krieg war für Deutschland fürchterlich.«
»Hätte dieser schreckliche Krieg nicht vermieden werden können?«, erkundigte sich Coco.
»Das ist eine interessante Frage, mit der ich mich schon früher auseinandergesetzt habe. Tja, möglicherweise wäre alles anders gekommen, wenn nicht Ferdinand als Kaiser gewählt worden wäre. Und diese Wahl war eine komplizierte Angelegenheit.«
»Erkläre es mir bitte.«
Dorian unterbrach seine Wanderung im Zimmer und blieb vor Coco stehen.
»Es gab sieben Kurfürsten in Deutschland«, erzählte der Dämonenkiller weiter. »Sie waren die eigentlichen Herren des Reiches, denn nur mit ihrem Einverständnis konnte der Reichstag zusammentreten und der Kaiser gewählt werden. Den Vorsitz im Fürstenkollegium hatte der Kurfürst von Mainz, der zusammen mit den Kurfürsten von Trier und Köln die bedeutendsten waren. Diese drei vertraten die katholische Kirche. Macht hatten sie aber nur wenig. Die vier anderen waren die Kurfürsten der Pfalz, Brandenburgs, Sachsens und der König von Böhmen. Und mit dem König von Böhmen hatte es so seine eigene Bewandtnis. Er war tatsächlich ja kein Reichsfürst, sondern ein unabhängiger Monarch. Er durfte nur bei der Kaiserwahl mitstimmen, konnte aber sonst nie in die inneren Angelegenheiten des Reiches eingreifen.«
»Die Habsburger stellten doch schon seit fast einem Jahrhundert den König von Böhmen, nicht wahr?«
»Stimmt. Und am 17. Juni 1617 wählten die Böhmen Ferdinand von Steiermark zu ihrem König. Das passte dem protestantischen Kurfürsten Friedrich von der Pfalz überhaupt nicht, der selbst gerne König von Böhmen geworden wäre. Die Stimmung unter der Bevölkerung Böhmens war gegen die Habsburger. Ferdinand traf alle möglichen harten Maßnahmen gegen die Protestanten. Es kam zum Aufstand – zum Prager Fenstersturz. Nun sah Friedrich seine Chance. Am 26.8.1619 wählten die böhmischen Rebellen ihn zu ihrem König.«
»Aber da war doch bereits Kaiser Matthias gestorben!«
»Das ist richtig. Und es ist auch irgendwie kurios, dass am 28. August die sieben in Frankfurt versammelten Kurfürsten oder ihre Stellvertreter einstimmig Ferdinand zum neuen Kaiser wählten. Nun war Friedrichs Position als König von Böhmen unhaltbar geworden. Kaiser Ferdinand verbündete sich mit dem mächtigen und reichen Maximilian, Herzog von Bayern. Auch Johann Georg, der Kurfürst von Sachsen, schlug sich auf die Seite des Kaisers. Im Sommer kam es zur entscheidenden Schlacht. Maximilian kam mit einem 25.000 Mann starken Söldnerheer der Katholischen Liga nach Böhmen. Am 8. November schlug Maximilians Heer die Truppen Friedrichs in der Schlacht am Weißen Berg, in der Nähe von Prag. Maximilian eroberte Prag, und Friedrich floh nach Holland. Ferdinand bekam die böhmische Krone zurück.«
Der Dämonenkiller setzte sich und steckte sich eine neue Zigarette an. Das Gespräch über den Dreißigjährigen Krieg hatte ihn nicht weitergebracht. Er konnte sich nicht an sein sechstes Leben erinnern.
Er war die Reinkarnation des Barons Nicolas de Conde, der sich um 1484 um den Preis der Unsterblichkeit dem Fürsten der Finsternis verschrieben hatte. Seit fast fünfhundert Jahren wanderte nun seine Seele von einem Körper in den anderen – und immer hatte er gegen die Schwarze Familie gekämpft. Doch es hatte immer einige Zeit gedauert, bis er sich an seine früheren Leben hatte erinnern können. Es war, als würde eine Sperre vor seinen Erinnerungen liegen. Er konnte nicht beliebig die Erinnerung an seine früheren Leben wecken. Deutlich konnte er sich seiner Leben als Juan Garcia de Tabera, Georg Rudolf Speyer, Michele da Mosto und Tomotada entsinnen. Doch wer war er in seinem sechsten Leben gewesen?
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Dämonenkiller missmutig, als er die Zigarette ausgeraucht hatte. Plötzlich horchte er auf und runzelte die Stirn. »Ich glaube, wir haben Besuch bekommen.«
Es war genau ein Uhr dreißig.
»Um diese Zeit?«, wunderte sich Coco. »Wir wären verständigt worden. Niemand kann unbemerkt ins Castillo Basajaun eindringen.«
»Einer kann es«, sagte Hunter und sprang aus dem Bett. »Olivaro!«
»Olivaro«, flüsterte Coco verblüfft.
Olivaro stand in der Bibliothek und studierte aufmerksam die Buchrücken. In der linken Hand hielt er einen dünnen Reclam-Band.
»Sei herzlich willkommen«, sagte Dorian.
Langsam wandte sich Olivaro ihnen zu. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen erfolgreichen Manager halten können, doch dieser Eindruck trog, denn Olivaro war kein Mensch. Er war ein Januskopf, der im Jahr 777 von seiner Heimatwelt Malkuth zur Erde geschickt worden war.
Aufmerksam musterte der ehemalige Herr der Schwarzen Familie Coco, deutete eine leichte Verbeugung an, dann nickte er Dorian zu.
»Entschuldigt bitte mein überraschendes Auftauchen«, sagte Olivaro mit wohlklingender Stimme.
»Steckst du in Schwierigkeiten, Olivaro?«, erkundigte sich Coco.
Er lächelte leicht. »Nein, doch Dorian hat ein Problem. Seit ein paar Nächten verfolgen ihn Albträume.«
»Woher weißt du das?«, fragte Dorian überrascht.
»Ich habe dir mein zweites Gesicht geschenkt«, meinte Olivaro.
»Dafür kann ich dir nicht genug danken, Olivaro, doch es erklärt nicht, weshalb …«
»Lass es gut sein, Dorian. Zwischen uns besteht eine seltsame Verbindung, die ich nicht erklären kann. Ich bin gekommen, da ich dir helfen will.«
»Setzen wir uns«, sagte Dorian erstaunt. »Darf ich dir etwas anbieten?«
»Eine Tasse Kaffee wäre nicht übel.«
»Schon verstanden«, sagte Coco. Sie betrat einen kleinen Nebenraum und ließ die Tür offen.
Olivaro nahm in einem Sessel Platz, lehnte sich zurück und verbarg das gelbe Büchlein zwischen seinen Händen, dann starrte er Dorian durchdringend an.
»Du versuchst vergeblich, dich an dein sechstes Leben zu erinnern, Dorian.«
»Stimmt, doch ich habe ein wenig Angst davor. Fast immer wurde zwischen der Vergangenheit und Gegenwart eine Verbindung hergestellt, die nichts Gutes brachte.«
Der Januskopf warf Coco einen Blick zu, den der Dämonenkiller nicht deuten konnte. Fast wirkte er ... bedauernd? »Diesmal besteht diese Gefahr nicht«, behauptete er dann jedoch. »Du musst den Schleier zu deiner Erinnerung lüften, Dorian, sonst wirst du verrückt.«
»Das befürchte ich auch«, sagte Dorian schwach. »Als Schwarzer Samurai starb ich 1610. Wer war ich in meinem sechsten Leben? Heute träumte ich ein paar Szenen, die aus dem Dreißigjährigen Krieg stammen könnten.«
Olivaros Körper straffte sich. »Tatsächlich? Und was?«
»Von einer Frau.«
Wieder ging der Blick des Januskopfs durch die Tür zu Coco, als fürchte er, Dorians Gefährtin könne eifersüchtig auf seine Begleiterinnen aus früheren Leben sein. »Kanntest du sie?«
»Sie hieß Libussa.«
»Oh! Das ist sehr gut.«
»Warum?«
»Weil das zeigt, dass die Erinnerung langsam an die Oberfläche kommt.«
»Was weißt du über den Dreißigjährigen Krieg?«
»Ein wahrhaft düsteres Kapitel in der Geschichte der Menschheit«, stellte Olivaro fest. »Dagegen ist das angeblich so finstere Mittelalter eigentlich direkt gemütlich zu nennen.«
»Du musst es beurteilen können.«
»Ich kann es. An der Entwicklung bist du nicht ganz unschuldig, denk an dein Leben als Nicholas de Conde.«
»Lieber nicht. Welche Rolle haben du und die Schwarze Familie im Dreißigjährigen Krieg gespielt? Haben die Dämonen wieder in mein Leben eingegriffen? Dein Erscheinen als Heinrich Cornelius Mudt und als Kokuo in meinen früheren Leben lassen nur Böses ahnen.«
Olivaro lachte sarkastisch. Aber es klang verunsichert.
Coco kam zurück und schenkte den Kaffee ein, dann ließ sie sich neben Dorian nieder.
»Für die Schwarze Familie war der Krieg höchst vergnüglich«, schaltete sich Coco in die Unterhaltung ein. »Den Hexenwahn nützten die Dämonen weidlich aus. Und die Ghoule erlebten ihre Hochblüte.«
»Es waren goldene Zeiten für die schleimigen Leichenfresser«, stimmte Olivaro zu. »Vielleicht sollte ich einmal die Menschheitsgeschichte von meiner Warte aus niederschreiben.«
»Das wäre allerdings interessant, mein Lieber«, sagte Coco wütend. »Wie viele Menschen hast du ins Unglück gerissen, Olivaro? Du hast sie beeinflusst, bist unter diversen Masken aufgetreten und hast ein stinkendes Süppchen gekocht!«
»Wir wollen nicht alte Wunden aufreißen«, warf Dorian beruhigend ein.
»Warum nicht?«, fragte Olivaro belustigt. »Coco spricht die Wahrheit. In der Vergangenheit waren wir erbitterte Feinde, mein Freund. In den Augen der Menschheit war ich ein Schurke, eine Bestie, die den Tod verdient hatte. Doch nach den Gesetzen der Schwarzen Familie war ich ein würdiger Dämon, dessen Bosheit und Schlechtigkeit man rühmte.«
»Was war deine Aufgabe beim Prager Fenstersturz, Olivaro?«, fragte Coco, die sich immer noch nicht beruhigt hatte.
»Damit hatte ich nur indirekt zu tun«, antwortete der Januskopf ausweichend.
»Ha!«, brummte Coco verächtlich. »Ich weiß, dass sich unter den böhmischen Adeligen einige Dämonen versteckten, die in den Hradschin eindrangen und die von Ferdinand eingesetzten Statthalter samt ihrem Sekretär aus einem Fenster warfen.«
»Die drei hatten ja Glück im Unglück, denn sie landeten auf einem Misthaufen und blieben am Leben.