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Palast der Stille
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eBook129 Seiten1 Stunde

Palast der Stille

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Über dieses E-Book

Ein kleines Cottage auf einer Insel vor der Ostküste Amerikas, mitten im Winter, in der Stille. Ein Mann schaufelt Schnee,
redet mit seiner Katze, beobachtet Vögel, genießt die Langeweile und zieht Bilanz über sein bisheriges Leben und Schaffen. Später macht er sich auf den Weg durch den tief verschneiten Wald zu der Kiefer, in deren Krone er einen Ausguck hat: die Welt zu schauen, die Natur, sich selbst.
"Mit wem reden wir, wenn wir allein sind? Mit uns selbst, wenn wir es können." Hansjörg Schertenleib erzählt von den Segnungen der Stille, selbst gewählter Einsamkeit und von der Liebe, der Liebe zu den Tieren, zur Natur – und zu den Büchern. Eindringlich, wahrhaftig und schwebend leicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum29. Jan. 2020
ISBN9783311701521
Palast der Stille
Autor

Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.

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    Buchvorschau

    Palast der Stille - Hansjörg Schertenleib

    Gatsby

    »Fern der Schnee des Vergessens, sorglos, traumgleich,

    frei wie die Kindheit, wenn Winter die Erde in Weiß windet.

    Wenn der Großfürst nachmittags mit uns Schlitten fährt

    und wir in den Bergen uns fürchten.«

    T.S. Eliot, Neuengland

    To Brigitte.

    Love, life, wife.

    Walden Pond, Massachusetts

    Er steht mit seiner Frau an der Stelle, an der Henry David Thoreau die Blockhütte baute, die er am 4. Juli 1845 bezog, um zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in Einsamkeit und doch in der Nähe der Gesellschaft zu verbringen. Thoreaus tatsächliche Blockhütte existiert nicht mehr; eine Steinplatte markiert den Ort, an dem sie mitten im Wald oberhalb des Sees stand. Die Replika der Blockhütte haben sie übersehen, als sie mit dem Mietwagen auf den weitläufigen Parkplatz am Walden Pond gefahren sind. Der junge Mann, den er nach der Hütte fragte, schüttelte ungläubig den Kopf: »Sie sind grade dran vorbeigefahren!«

    Nachdem es ihnen gelungen war, sich aus dem Strom der Frauen, Männer und Kinder zu lösen, die mit Klappsesseln, Kühltaschen und Sonnenschirmen zum Walden Pond unterwegs waren, hatten sie die Replika am Rand des Parkfeldes betreten. Hat seine Frau die Sehnsucht gesehen, die der Anblick des kleinen Raumes und der einfachen Möbel – Tisch, Bett, Stuhl – bei ihm auslöste? Er will nicht alles und jeden nur mehr mit Ekel betrachten können, es macht ihn ungerecht, bitter und böse. Er will nicht länger effizient sein, strebsam, zwanghaft optimistisch und erfolgsorientiert, will nicht länger eingeschätzt und beurteilt werden, will nicht länger freundlich sein, um einen Frieden zu bewahren, dem er nicht mehr traut. Das Kriegsbeil der Meinungen hat er für immer begraben, wie er hofft. Er ist in seinem sechzigsten Jahr, und er sinkt, sinkt. Bleibt er in der Schweiz, geht er unter.

    Er ist am Ende.

    Ich bin am Ende.

    Also stehe ich am Anfang.

    Das Blätterdach der mächtigen Bäume hält das Sonnenlicht zurück und sorgt dafür, dass sie sich in dem hohen grünen Gewölbe fühlen wie unter einer Glasglocke. Sie sind allein an Thoreaus Gedenkstätte, müde vom Spaziergang in der Hitze. Es riecht nach Harz und Seewasser, das seit Tagen von der Sonne aufgeheizt wird, und es riecht nach Erde, obwohl es lange nicht mehr geregnet hat. Es soll erneut 34 Grad werden, wie ihnen die Besitzerin des Hawthorne-Inn versicherte, dem Bed and Breakfast in Concord, in dem sie auch die letzte Nacht vor dem Rückflug nach Zürich verbringen werden. Die Luft steht reglos zwischen den Stämmen, alle Vögel sind verstummt. Nicht einmal der Wind, der gelegentlich entschieden in die Kronen greift und sie in Unruhe versetzt, verschafft Linderung. Das Kreischen badender Kinder ist weit entfernt, als befände sich der Waldsee in einer anderen Welt denn die Gedenkstätte. Aus der dunklen Tiefe des Sees, getroffen von der Sonne, steigt Licht auf.

    Soll er seiner Frau von der Szene aus Thoreaus Journalen erzählen, an die er sich erinnert, während er an der Rinde einer Birke zupft, die sich in der Dürre wie die Haut einer Schlange abgeschält hat? Willst du einen Honigbaum finden, schreibt Thoreau, sollst du eine Biene fangen, deren Beine mit Blütenstaub beladen sind, die also zum Heimflug bereit ist. Die Biene, die du fängst, indem du ein Glas über sie hältst und mit einem Stück Pappe verschließt, trägst du zu einem offenen, mit Vorteil höher gelegenen Platz, lässt sie frei, beobachtest genau, wohin sie fliegt, und läufst zur Stelle, an der du sie zuletzt gesehen hast. Dort wartest du geduldig auf die nächste Biene, fängst sie, lässt sie frei und folgst ihr mit Blicken. Biene um Biene, schreibt er, wird dich schließlich zum Honigbaum führen.

    Seine Frau sieht einer Chickadee-Meise nach, Maines Staatsvogel, die über einen Schwertfarn jagt, und er behält Thoreaus Rat für sich. Am Silberstamm einer Weißbuche arbeitet ein Specht emsig hämmernd daran, zu seiner Nahrung zu kommen.

    »Im 18. Jahrhundert hielt es die englische Oberschicht für schick, sich auf ihren Anwesen einen Eremiten zu halten«, sagt seine Frau, »lächerlich, findest du nicht auch?«

    »Lächerlich, doch. Aber Thoreau war kein Eremit.«

    »Schmuckeremiten, die sich mit Tieren auskannten, Gäste begrüßten, weise Ratschläge erteilten, meist für sieben Jahre verpflichtet und täglich mit einer Mahlzeit verköstigt wurden. Klingt nach Zirkus.«

    »Und nach Theater. Thoreau hat übrigens oft bei Freunden in Concord gegessen.«

    »Bei seiner Mutter«, ergänzt seine Frau lächelnd, »hat er auch gegessen.«

    Später wollen sie Concords Friedhof Sleepy Hollow besuchen, der sich über mehrere bewaldete Hügel hinzieht, weil sie die Grabstätten des Denkers und früheren Pastors Ralph Waldo Emerson, des Bostoner Stadtmenschen und späteren Landkommunenmitglieds Nathaniel Hawthorne und des Wanderers und Kanufahrers Henry David Thoreau sehen möchten, doch noch schaffen sie es nicht, den stillen grünen Raum über dem See zu verlassen. Wundern werden sie sich über den separaten Grabstein, den die weitverzweigte Thoreau-Familie ihrem früh verstorbenen Henry David gewährte, klein wie für ein Kind, bis auf seinen ersten Vornamen leer, und danach werden sie langsam und schweigsam im letzten Tageslicht in die Kleinstadt Concord zurückfahren. Jetzt aber verharren sie neben der Steinplatte, und ein Stück vor ihnen ist es, als stünde eine Tür offen, durch die Licht in den Wald flutet.

    »Ich weiß, dass du wegmusst«, sagt seine Frau schließlich.

    Hoch über ihren Köpfen fliehen zwei Streifenhörnchen über schwankende Aststege von Baum zu Baum, auf dem Waldboden, hart geworden in der langen Trockenheit, liegen Kiefernzapfen, die sein österreichischer Onkel Leopold Kienäpfel nannte, ihre ausgedörrten Schuppenschilder aufgesperrt wie hungrige Vogelmäuler.

    »Weg«, sagt er, »was heißt schon weg. Und du?«

    »Nicht so dringend wie du.«

    »Wir können uns das Cottage in Maine doch gar nicht leisten.«

    »Nein«, sagt sie, »aber wir kaufen es trotzdem. Finde ich.«

    Sonst gehe ich ein.

    Sonst geht er ein.

    Das Cottage steht vier Autostunden nördlich von Boston auf Spruce Head Island in Maine, einer kleinen Insel, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden ist. Wir haben Spruce Head Island auf einer Erkundungsfahrt von South Bristol aus entdeckt, wo wir den Sommer in einem Feriencottage an der Küste von Maine verbrachten, umgetrieben vom unrealistischen, aber unbändigen Wunsch, in den USA zu bleiben und zu leben, zumindest für einen Teil des Jahres. Dass ausgerechnet das Cottage auf Spruce Head Island zum Verkauf steht, deuten wir als Zeichen. Seine Rückseite mit den hellblau gestrichenen Fensterläden grenzt an Kiefern, Hemlocktannen, Fichten und Birken, von seiner gedeckten Veranda auf der Vorderseite geht der Blick über das Becken von Seal Harbor, in dem Lobsterboote vor Anker liegen. Begrenzt wird der Hafen von den Inseln Whitehead und Norton, deren bewaldete Umrisse bei gewissen Lichtverhältnissen wie Trugbilder aus dem Atlantik aufsteigen, wie er bald lernen wird, und doch gibt es sie. Dahinter liegt der offene Atlantik.

    Das Cottage misst 57 Quadratmeter, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad. Das erste Mal, seit er vor achtunddreißig Jahren mit Schreiben angefangen hat, wird er kein Arbeitszimmer haben, welche Erleichterung.

    Er ist bereit, erneut ein anderer zu werden.

    Ein Arbeitszimmer brauche ich nicht unbedingt, aber einen Tisch, an dem ich schreiben kann, brauche ich. Um stehend zu arbeiten, ich denke an Henry David Thoreaus Stehpult, bin ich zu müde, zu erschöpft.

    Spruce Head Island, Maine

    Er bückt sich, sein Bündel aufzuheben. Der Pfad, auf dem er geht, führt durch einen Birkenstand zum Fluss hinab. Flache Holzboote treiben auf dem Wasser, sieben, neun Boote, in denen Frauen mit ihren Hunden sitzen. Den Zweig, den er in den Fluss tauchen wird, hat er aus einem Busch am Dorfrand gebrochen; er liegt ihm in der Hand wie ein Pfeil, den er auf die Reise schicken könnte. Der Pfad ist steil, die Erde aufgeweicht vom Regen, der im Morgengrauen mit vorsichtigem Rauschen niederging. Die Steine, die am Ufer des Flusses liegen, funkeln in der Sonne. Er geht in die Knie, legt sein Bündel nieder und taucht beide Hände ins Wasser, den Kopf im Nacken, nicht länger jung, aber noch nicht wirklich alt, und am Leben, da erwache ich.

    Er erwacht.

    Ich erwache.

    Der Fluss fließt träge und langsam mitten durchs Schlafzimmer, das mir auch im dritten Winter hier in Maine manchmal fremd ist. Wie klein es ist, wie behaglich. Haben die Hunde der Frauen in den Booten angeschlagen, weil sie mich am Ufer des Flusses bemerkten? Katze Smilla liegt neben mir und schläft. Ich besitze seit über dreißig Jahren keine Armbanduhr; als ich nach dem Wecker mit den lindgrün phosphoreszierenden Ziffern auf dem Nachttischchen greifen will, verstehe ich, weshalb ich erwacht bin: Es ist still, beruhigend still. Der Wind hat sich endlich gelegt. 4 Uhr 23. Ist der Blizzard vorüber? Der Schneesturm hat dreiundzwanzig Stunden angedauert. Angekündigt hatte sich der Wetterumschwung durch ein Seufzen des Windes, das zum Stöhnen und Sausen wurde und sich schließlich zum Brandungsdonnern steigerte. Fichten, Kiefern und Tannen nickten, Birken wankten; Stämme krachten im strengen Frost wie Gewehrschüsse. Die Temperatur war innert Minuten von – 6 auf – 14 gefallen. Nun ist der Blizzard also vorbei. Es ist still.

    Im Schutz der Nacht klingt das Meer näher, gewaltiger. Dunkelheit ordnet die Welt neu, macht die Stille umfassender. In manchen Winternächten ist es in Maine so still, als wäre alles vorbei, alles ausgestanden. Es gibt die Natur, aber nicht den Menschen, so groß ist die Stille, in der sich Hirsche, Schneehasen, Rehe und andere scheue Tiere zeigen, die uns meiden. Diese Stille anzunehmen, in der man Dinge denkt, die einem sonst nicht einfallen wollen und in der jeder Laut an Bedeutung gewinnt, ist eine Herausforderung: Das Bellen eines Hundes wird zum Hilferuf, das Rauschen des Atlantiks zur Begrüßungsmelodie, der Schrei eines Vogels zur Warnung. In den ersten Monaten auf der Insel verdrehte

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