Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Fliegengöttin
Die Fliegengöttin
Die Fliegengöttin
eBook141 Seiten1 Stunde

Die Fliegengöttin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dass sie in ihrem gemeinsamen Haus sterben wollen, haben sie sich versprochen. Hier sind ihre Kinder aufgewachsen, hier hat ihr Leben stattgefunden. Immer wollten sie füreinander da sein. Bis zuletzt. Sich gegenseitig erlösen, wenn einer von ihnen nicht mehr weiter kann. Seit über fünfzig Jahren sind die Irin Eilis und der Holländer Willem verheiratet. Zwei Jahre sind seit ihrer Alzheimer-Diagnose vergangen. Aufopferungsvoll kümmert er sich um seine geliebte Frau und kann doch nur zusehen, wie sie immer weiter verschwindet, jeden Tag ein bisschen mehr. Und auch Willem macht das Alter zu schaffen. Die Zeit verschwimmt in seinem Kopf, da hilft auch der Abreißkalender in der Küche nicht, den ihm sein Jugendfreund Fonsy empfohlen hat. Willem ist am Ende seiner Zuversicht, seiner Kraft, und er denkt an das Versprechen, das Eilis und er sich gegeben haben ...
Vor dem Hintergrund der rauen Küsten Irlands entwirft Hansjörg Schertenleib das Porträt einer großen geglückten Liebe, erzählt ehrlich und anrührend von Fürsorge und Zärtlichkeit, Überforderung und Hilflosigkeit, Erinnern und Vergessen.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum6. Sept. 2018
ISBN9783311700326
Die Fliegengöttin
Autor

Hansjörg Schertenleib

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller Das Zimmer der Signora und Das Regenorchester wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.

Mehr von Hansjörg Schertenleib lesen

Ähnlich wie Die Fliegengöttin

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Fliegengöttin

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Fliegengöttin - Hansjörg Schertenleib

    Gatsby

    In Erinnerung an Paul.

    Für Brigitte, love, life, wife.

    Die Figuren dieses Buches sind fiktiv

    und demnach erfunden

    Die Schauplätze sind nicht fiktiv,

    erfunden sind sie dennoch.

    When the engine stops

    That’s when you wake.

    Dermot Healy

    1

    Willem de Wit erwachte und wollte sofort auf- stehen, blieb aber liegen, weil er das Gewicht des Versprechens spürte, das er und seine Frau Eilis sich gegeben hatten. Er hatte tief und fest geschlafen und nicht geträumt. Wie hatten es die Menschen zu Zeiten marodierender Stämme fertiggebracht, die Augen zu schließen und einzuschlafen, trotz der Gefahr, unter einem neuen Herrscher aufzuwachen? Sein linker Arm fühlte sich taub an, und ihm war unwohl. Es regnete in Strömen, das Morgenlicht war, wie oft am Ende des Sommers, unwirklich weich. Als jüngerer Mann hatte er jede Minute ausgekostet, die er im Bett bleiben durfte, doch seit einiger Zeit kribbelte es in seinen Armen und Beinen, sobald er wach war; er würde nicht lange liegen bleiben können. Er hörte Eilis rufen, leise, aber fordernd. Er hatte ihre Stimme von Anfang an geliebt, es war die Stimme einer Frau, die genau wusste, sie besitzt die Macht, Menschen zu fesseln, die Magie, Männer zu verzaubern. Seit sie krank war, fürchtete er sich gelegentlich vor ihrer Stimme, vor der Trauer, die darin lag, der Angst.

    Die Digitaluhr des Radioweckers zeigte 06:57, er hatte also auch heute die Augen geöffnet, bevor sich das flache schwarze Gerät einschalten konnte, das ihm ihr Sohn Arnold bei seinem letzten Besuch geschenkt hatte. Wenn er es schaffte, sich die Morgennachrichten in aller Ruhe im Bett anzuhören, wüsste er zumindest, welcher Wochentag heute war. Der Trick mit dem Abreißkalender, den Fonsie ihm empfohlen hatte, half nicht. Er hatte den Kalender in der Küche über die Spüle gehängt, war sich aber oft schon vor dem Mittag nicht mehr sicher, ob er bereits ein Blatt abgerissen hatte. Fonsie wollte nichts vergessen, darum schrieb er alles auf. Er schrieb auf, wann er was aß, wann er was und wie viel trank, was das Thermometer am Morgen, am Mittag und am Abend zeigte, wie viele Stunden er schlief und wie viele Stunden er vor dem Fernseher verbrachte. Alles schrieb Fonsie auf: wann die Sonne auf- und wann sie unterging, wann es regnete und wie lange, wann die Sonne schien und wie lange, mit wem er redete und worüber, wann er Zeitung las oder Radio hörte, welche Autos an seinem Haus vorbeifuhren, wer darin saß, was er im Eurospar kaufte und zu welchem Preis, wie viel er bei Metzger McCabe ausgab, wie viel Benzin er an der Tankstelle tankte und was der Liter kostete. »Ich kann alles nachlesen«, behauptete Fonsie. »Ich vergesse nichts, gar nichts.« Aber auch für Fonsie verging die Zeit, obwohl er es nicht aussprach, das wusste Willem. Fonsie hatte ihm die Schulhefte gezeigt, die er bei Penneys in Letterkenny kaufte und auf der Vorderseite mit dem Zeitraum beschriftete, den sie abdeckten.

    Das Geräusch des Brenners der Ölheizung unter seinem Schlafzimmer beruhigte Willem. Es erinnerte ihn an die Motoren des Schiffes der Hurtigrute, mit dem sie im Sommer vor drei Jahren die norwegische Küste Richtung Norden gefahren waren. Er hatte Morgen für Morgen wach im Bett gelegen, dem leisen Schüttern zugehört und beobachtet, wie Lichtreflexe über die Wände ihrer Außenkabine sprangen, seine schlafende Frau neben sich. Die Stürme, in die sie in Norwegen gerieten, machten ihm, im Gegensatz zu Eilis, nichts aus; trotz des Verbotes war er auf das obere Außendeck getreten, um die kochende See zu bestaunen, die das Postschiff in die Höhe trug und, Sekunden später, in die Tiefe fallen ließ, als wollte sie es verschlingen. Wann immer das Schiff in einen Hafen einlief, vorbei an Wiesenschultern, Felswänden und farbig bemalten Holzhäusern, langsam wie im Schlaf, waren die Motoren nur mehr schwach zu hören gewesen. Dafür hatte sein stählerner Leib geschaudert wie das Pferd seiner Großeltern in Friesland. Die Stute hatte sich gegen Willem gesträubt, bis ihn sein Vater Arnoud eines Tages begleitete; er hatte einen Sattel aus dem Stall geholt und auf den Rücken der Stute geworfen, hatte ihr das Zaumzeug umgelegt, das Gebissstück ins Maul gedrückt, war leicht in die Knie gegangen und hatte mit verschränkten Händen eine Steighilfe für Willem gebildet. Sein Vater hatte Willem gezeigt, wie er die Zügel halten musste, locker und doch fest, wie er das Pferd lenkte oder einzig mit den Oberschenkeln dirigierte. Sein Vater hatte ihm das Reiten beigebracht, ruhig und geduldig, und gleichzeitig die Stute an ihn gewöhnt, sodass sie sich von ihm in den Stall führen, trocken reiben, striegeln und mit Wasser versorgen ließ.

    Vom Pferdestall der Großeltern, in dessen Dachbalken er die Initialen L+W ritzte, hatte er weit über das Wattenmeer gesehen, bei klarem Wetter bis zu den Inseln Texel, Vlieland und Terschelling. Weshalb Lieke Bosman später ausgerechnet Henk Jongeneelen heiratete, der mit Hühnerhals und steinerner Kinnlade hinter dem Bankschalter in Harlingen stand, hatte er nie verstanden, auch wenn es ihn von seiner Schuld erlöste, dass er Lieke geschwängert, aber nicht geheiratet, sondern sitzengelassen hatte.

    Die Katzentür ihrer Nachbarn Peadar und Nora girrte, und ihm fiel die Katze ein, die er vor vielen Jahren überfahren hatte. Er hatte den nussbraunen Vauxhall, in dem es Eilis und den Kindern verlässlich nach wenigen Meilen schlecht wurde, nach dem Mittagessen aus der Zufahrt auf die Straße zurückgesetzt und gespürt, dass er über etwas gefahren war. Er hielt sofort an, stieg aber erst nach einer Schrecksekunde aus. Die getigerte Katze, die sich Siobhan einige Monate zuvor auf der Farm von Eilis’ Bruder als Belohnung für ihr Schulzeugnis hatte aussuchen dürfen, lag vor dem Hinterreifen, als schlafe sie. Dass er sie totgefahren hatte, begriff Willem, als er sie hochhob, das Blut auf dem Asphalt sah und über das Gewicht ihres schlaffen Körpers erschrak. Er hatte sich umgesehen, um sicherzugehen, dass er nicht beobachtet wurde, und die tote Katze ein Stück die Straße hochgetragen und auf den Bordstein gelegt. Dann war er ins Haus zurückgelaufen, um der Familie, die das Mittagsgeschirr abwusch, die traurige Botschaft zu überbringen, ihre Katze sei überfahren worden. Die Wahrheit hatte Willem nie jemandem erzählt, nicht einmal Eilis. Da er aus Erfahrung wusste, dass die Trauer ihrer Tochter Siobhan nur durch ein anderes Haustier ein Ende finden würde, war er eines Abends mit einem Cockerspaniel nach Hause gekommen, den Fonsie für ihn besorgt und den Siobhan auf den Namen Corky getauft hatte. Der Satz, mit dem Siobhan ihn und den Spaniel damals begrüßt hatte, war in ihrer Familie zum geflügelten Wort geworden: »Er hat die gleiche Farbe wie dein Kotzauto, Dad!« Den Cockerspaniel hatte Willem nicht überfahren, sondern nach etlichen Jahren zum Arzt in Moville gebracht, der ihn einschläferte, um die Schmerzen zu beenden, die ihm eine Krebsgeschwulst im Rücken bescherte. Siobhan hatte sich geweigert, Willem zu begleiten, aber erstaunlicherweise war Arnold mit ihm gefahren und hatte leise und ruhig mit dem Hund geredet, der auf seiner Lieblingsdecke lag, tatsächlich aufhörte zu winseln und seinen Sohn dankbar ansah.

    Es war kühl, und er nahm sich vor, ihre Winterdecken bald aus dem Schrank zu holen. In Eilis’ Schlafzimmer hatte er den Radiator auf die zweithöchste Stufe gedreht; sie fror mittlerweile sogar auf dem Sonnensessel im Wohnzimmer, und bekam auch keine warmen Hände und Füße, wenn er sie nah vor den Kamin setzte. War es schon wieder Zeit, den Öltank nachfüllen zu lassen? Wann hatte er aufgehört, sich über den Preis des Heizöls zu informieren, bevor er es bestellte? Eilis rief noch immer, ihre Stimme war die eines Kindes, das nicht bekommt, was es will; ein Tonfall, den sie bei ihren Kindern nicht toleriert hatte. Willem blieb trotzig liegen und gab sich Mühe, ruhig zu atmen.

    2

    Er machte den Radiowecker aus, bevor der Alarm losging, schwang die Beine aus dem Bett, gähnte, schlüpfte in seine Hausschuhe und trat ans Fenster. Eilis hatte aufgehört zu quengeln, er hörte sie schniefen. Weinte sie? Heute war, beschloss er, Mittwoch. Spätestens nach dem Mittagessen würde er erfahren, ob seine Annahme richtig war: Mittwochnachmittags kam Harry, der Händler aus Nordirland, der mit seinem Lieferwagen Gemüse brachte, Kartoffeln und gelegentlich frischen Fisch verkaufte und Klatsch und Tratsch von Dorf zu Dorf trug.

    Am Himmel, von Regenschleiern schattiert, trieb eine Wolke, gebläht wie ein Segel. Ich bin dreiundachtzig Jahre alt, und ich habe Angst vor dem Tod, dachte Willem bestürzt. »You don’t fry if you don’t buy!« Dieser Satz, den der Händler in weichem Singsang wiederholte, wenn er fangfrischen Fisch im Sortiment führte, brachte Willem immer wieder dazu, Forellen oder Makrelen zu kaufen, obwohl er sie noch immer nicht fachgerecht ausnehmen konnte. Wie geschickt Eilis früher mit dem Fischmesser umgegangen war, wie schnell und sauber sie eine Forelle geputzt und zerteilt hatte, um ihn dann mit blutigen Händen lachend durchs Haus zu scheuchen! Willwit kann kein Blut sehen! Er liebte den Spitznamen, den nur Eilis verwendete, auch wenn er nie aufgehört hatte, dagegen zu protestieren.

    Der Fels aus blauem Mergel fiel ihm ein, ein steinerner Walrücken, der den Strand in eine helle und in eine dunkle Hälfte teilte. Die dunkle Hälfte, aus der bei ungünstigem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1