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Die Leute vom Hellemyr, Band 3: S. G. Myre
Die Leute vom Hellemyr, Band 3: S. G. Myre
Die Leute vom Hellemyr, Band 3: S. G. Myre
eBook419 Seiten13 Stunden

Die Leute vom Hellemyr, Band 3: S. G. Myre

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Über dieses E-Book

»Was hilfts,
dass wir für Tags aufstehn
Und auf uns laden Sorgen viel?«

Amalie Skram (1846–1905) legte 1890 den dritten Band ihres Großwerks vor: »S. G. Myre«. Darin kehrt sie nach Bergen zurück, das zum Schauplatz alltäglicher familiärer und geschäftlicher Verstrickungen wird. In einem breiten Erzählpanorama wird das Treiben auf den Straßen ebenso lebendig ausgemalt wie die emotionalen Ausschläge des Liebeslebens ihrer Bewohner. Amalie Skram richtet ihren Blick auf alle sozialen Schichten, sowohl auf die Häuser der Konsuln und Großhändler als auch auf die armen Behausungen der Dienstmädchen und Lagerangestellten, und zeigt die Nöte, Träume und Enttäuschungen der ganzen Bergener Gesellschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberGuggolz Verlag
Erscheinungsdatum13. Feb. 2023
ISBN9783945370704
Die Leute vom Hellemyr, Band 3: S. G. Myre

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    Buchvorschau

    Die Leute vom Hellemyr, Band 3 - Amalie Skram

    I

    Tagsüber hatte Sivert immer viel zu tun. Er war nämlich vormittags als Laufjunge eingestellt und nachmittags als Hausbursche, jeweils beim Kaufmann Munthe, dem eine »stue« an der Tyskebrygge gehörte und der in einem zweistöckigen weißen Holzhaus in der Øvregate wohnte. Ursprünglich war Sivert ausschließlich als Hilfskraft für das Kontorpersonal eingestellt worden, aber da nach Erledigung der Arbeiten dort immer noch so viel Zeit übrig blieb, hatte Munthe begonnen, ihn nachmittags hoch in die Øvregate zu schicken. Dort sollte er nachfragen, ob sie in der Küche für ihn Verwendung hätten. Schon bald war es zur festen Regel geworden, dass er jeden Tag dort erschien, und an beiden Orten kam er so gut zurecht, dass er hier wie dort sehr gern gesehen war.

    Ganz besonders in der Øvregate, wo er mit der Zeit zu den verschiedensten Arbeiten gerufen wurde. Denn auf die Frage, ob er sich um dies oder das kümmern könne, antwortete er niemals ablehnend, sondern machte sich sofort unverdrossen ans Werk, und jedes Mal waren seine Auftraggeber mit ihm zufrieden. Außer Holz zu hacken und den Hofplatz und den Holzboden sauber zu halten, donnerstags den Fisch weich zu klopfen und am Mittwoch für die Erbsen Bischofswasser zu holen, polierte er noch alle Messing- und Kupferteile und bekam sie glänzender, als sie jemals zuvor gewesen waren, ja, er putzte sogar die Fenster, und das schneller und gründlicher als die Mädchen. Und dann bürstete er die Kleider ab und wienerte die Schuhe, klopfte Möbel und Teppiche aus, pflückte Bohnen und Erbsen, machte Besorgungen fürs Haus und zupfte das Unkraut im Küchengarten. Die Mädchen nannten ihn einen Tausendsassa und waren ganz ratlos, wenn er einmal länger im Kontor blieb als sonst. Und selbst für die Hausherrin schien er so unersetzlich zu sein, dass Munthe sich oft die Frage stellte, wie sie eigentlich alles zu der Zeit geschafft hatten, als noch kein Sivert Jensen zur Verfügung gestanden hatte.

    Sivert kam oft der Gedanke, dass es wohl daran lag, dass er zur See gefahren war, sonst wäre er sicher nie so geschickt und einfallsreich geworden. Dann hatte diese Zeit also zumindest in dieser Hinsicht etwas Gutes gebracht. Aber dem Himmel sei gedankt, dass er das hinter sich hatte lassen können. Sich draußen auf der See abmühen zu müssen, ohne seines Lebens sicher zu sein, jeden Tag und zu jeder Stunde, das war das Schlimmste für ihn gewesen. Und er wäre auch nie auf die Idee gekommen, anzuheuern, hätte er nicht unbedingt von den versoffenen Großeltern, besonders seiner Großmutter, wegkommen wollen. Zwar wohnten sie draußen im Hellemyr, aber er hatte ja nie vor ihnen sicher sein können, konnten sie sich doch immer wieder in die Stadt aufmachen, sei es zu Wasser oder zu Lande, und das ganz besonders die Großmutter. Aber wie es auch sei, zur See wollte er niemals wieder, obwohl es mit den Großeltern immer noch das Gleiche war. Die Großmutter schwankte immer noch betrunken die Straßen entlang, heute wie gestern, mit großem Spektakel und Getöse, Menschen schauten verächtlich auf sie hinab, und die Kinder riefen »Säuferline« hinter ihr her, genau wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Und sie würde sicher noch lange Zeit so weitermachen. Der Großvater sah ziemlich gebrechlich aus, aber ihr schienen die Jahre nichts anhaben zu können. Höchstwahrscheinlich würde er es sein, der zuerst starb, dabei war er derjenige, der deutlich weniger trank und weniger Aufsehen erregte, aber so lief es doch eigentlich immer.

    O ja, es war traurig und eine Schande, aber daran konnte man nun einmal nichts ändern. Und selbst wenn er nicht mehr die Todesangst nach dem Schiffbruch der ›Zwei Freunde‹ in den Knochen spürte, wollte er nie wieder mit einer Arbeit auf See tauschen. Damals hatte er sich geschworen, dass ihn keine Macht auf der Welt wieder hinaustreiben könnte, sollte er jemals wieder ins alte Bergen zurückkehren und festen Boden unter den Füßen spüren. Das hatte er sich selbst hoch und heilig geschworen, obwohl er wusste, dass der Vater ihm Schwierigkeiten machen und ihm das unter die Nase reiben würde. Schließlich hatte Sivert, als er auf die Idee gekommen war, zur See zu fahren, laut triumphiert, also sollte er doch jetzt bitte schön auch dabei bleiben. Aber glücklicherweise sank die Heuer genau in den Tagen beträchtlich, also konnte er diesen Grund für seine Entscheidung vorschieben.

    Dass er panische Angst vor dem Wasser bekommen hatte, konnte er natürlich nicht zugeben.

    Aber dann kam ihm die Mutter zu Hilfe mit ihrem Gerede von Gottes Fingerzeig und Zeichen und sonst was, und sie behauptete, dass Unser Herrgott ihn vor dem Untergang bewahrt hatte, als das Schiff im Ärmelkanal untergegangen war, damit er danach an Land bleiben sollte. Und inzwischen war wohl auch sein Vater nicht mehr wütend darüber, dass er abgemustert hatte, wo er es doch so gut getroffen hatte. Denn schließlich konnte er es zum Gesellen und mehr bringen, vielleicht zum Kontoristen in Bryggen, oder eine »stue« gar selbst übernehmen – niemand konnte das sagen, und er war ja erst achtzehn Jahre alt, nein, inzwischen mussten es wohl neunzehn Jahre sein, geboren worden war er 1837, und jetzt schrieb man das Jahr 1856. Ja, das machte neunzehn.

    Sivert war froh, und seine Arbeit gefiel ihm gut. Es gab dabei so viel Abwechslung, schließlich hatte er ja irgendwie zwei Anstellungen. Auf den Nachmittag konnte er sich geradezu freuen, wenn er hoch zu dem schönen, gepflegten Haus gehen sollte, in dem es alle möglichen Hilfsmittel gab für das, was getan werden musste, jeweils für den entsprechenden Gebrauch, und in dem der Überfluss regierte und alles nur vom Feinsten war. Wenn er in den Holzschuppen trat, in dem die Baumstämme rechts und das zurechtgesägte Holz links aufgestapelt lagen, mit viel Platz in der Mitte, wo der Hackklotz stand, fühlte er sich fast wie der Miteigentümer all dieses herrlichen Birkenholzes, zumindest war es sein Verdienst, dass es hier immer gefegt und ordentlich war in einer Puppenstube war. Und dann lag das Gebäude auch noch an der Øvregate, der elegantesten Straße der ganzen Stadt, hier stand nur auf der einen Seite ein Haus neben dem anderen, auf der anderen wuchsen hohe Bäume. Und hinter den Bäumen die lange Reihe von Holzbohlen mit den spitzgiebeligen, mit Dachziegeln bedeckten Toren zu den Gärten hin, die sich bis zur Tyskebrygge hinzogen und zu den Kontoren dort unten gehörten. An den Sommerabenden saßen die Leute draußen auf den großzügigen Holzabsätzen mit Bänken und schmiedeeisernem Geländer direkt auf der Stirnseite der Häuser, und wenn sie ausnahmsweise einmal in ihre Gärten wollten, überquerten sie die Straße barhäuptig, wie es wohl auch auf den Westindischen Inseln üblich war, obwohl das eigentlich gar nicht zu vergleichen war, wie Sivert dachte. Ja, in der Øvregate ging es vertraut und gemütlich zu, fast wie in einer Familie, und Sivert war stolz, in gewisser Weise dazuzugehören.

    Und dann gab es Munthes Kinder, die ihn so gern mochten, zumindest Herman und Julius, sie konnten nichts anfangen, wenn er nicht dabei mitmachte.

    Stundenlang warteten sie darauf, dass er mit seiner Arbeit fertig wäre, damit er dann ihnen zur Verfügung stünde. Lydia war in dieser Beziehung stolzer, aber sie war auch schon so alt, dass sie zum Konfirmationsunterricht ging. Trotzdem wollte sie gern dabei sein, wenn er mit den Jungs auf dem Hofplatz Krieg spielte oder unten im Garten Verstecken, besonders, wenn sie sicher sein konnte, dass die Mutter oder die Hausmädchen das nicht sehen konnten. Und wie wild und ausgelassen sie sich benahm, obwohl sie doch bereits lange Röcke trug und ziemlich erwachsen war. Sie hatte genauso viel Spaß daran wie ihre Brüder, also konnte die ernste Miene nicht so ernst gemeint sein, die sie immer mal wieder aufsetzte, wenn sie den Kopf nach hinten warf und erklärte, Sivert Jensen sei naseweis und unerträglich, und sie könne ihn nicht ausstehen. Warum konnte sie ihn dann nicht in Ruhe lassen?

    Eines Nachmittags, kurz vor Pfingsten, klopfte Sivert Bettzeug auf einem Brett, das unten auf dem gepflasterten eingezäunten Hofplatz auf zwei kleine Böcke gelegt worden war. Er hatte seine Mütze zur Seite geworfen, und sein dichtes, gelocktes Haar stand in alle Richtungen ab, während er den Teppichklopfer schwang und mit seiner kräftigen, fröhlichen Stimme das Lied der Schwarzen sang, das er in Kingston gelernt hatte: »The captain and his loving girl«.

    So early in the morning,

    Before the break of day!

    Herman und Julius halfen ihm nach Leibeskräften. Neben Siverts kräftig knallenden Schlägen klang das Geräusch ihrer Peddigrohre, wenn sie auf die dicken Daunenbettdecken fielen, wie zaghaftes Vogelpiepsen. Über ihre glänzenden Gesichter lief der Schweiß, und an den mageren Jungshälsen standen die graublauen Adern rund hervor.

    So erli in dem Morgen,

    bevor der Brei is da!,

    stimmten die Jungs ein. Sivert musste innerlich lachen und sang schnell weiter, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Aber als er zum Refrain kam:

    And the captain with the whiskers

    Took a slight glance at me,

    und das bei den Jungs so klang:

    Und der Käpt’n, der wispert,

    tuckert leis im Lenz dahin,

    da warf Sivert den Teppichklopfer von sich, setzte sich auf die Küchentreppe und brach in lautes Gelächter aus.

    Herman und Julius schauten ihn zunächst verblüfft an; dann rannten sie zu ihm, klammerten sich an seinen Hals und seine Arme, boxten ihn mit den kleinen Fäusten, rissen ihn an den Haaren und an den Ohren. Als Sivert einfach weiterlachte, ohne den geringsten Widerstand zu leisten, bissen sie ihm schließlich ins Gesicht. Erst jetzt packte Sivert sie energisch, schüttelte sie von sich ab und erklärte, während er aufstand: »Beißn dürft ihr nich, Jungs, dafür gibts ne Strafe. Ek hab mal nem Koch die Nase abgebissn, un dafür wär ek fast geköpft worn.«

    »Erzähl, erzähl!«, riefen die beiden Jungs wie aus einem Munde und sprangen wieder auf ihn los.

    »Ja, irgendwann mal.«

    »Nein, jetzt sofort, jetzt sofort!«, sie zerrten an seinen Armen und bogen ihm die Finger hin und her, dass es in den breiten Gelenken knackte.

    »Lasst mal Sivert Jensen in Ruhe, Herman und Julius, damit er seine Arbeit fertig machen kann!«

    Alle drei drehten den Kopf und sahen Madam Munthe, die sich aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock lehnte, mit dem Zeigefinger drohte und den Kopf schüttelte, dass die weißen Spitzen auf den hohen blonden Haarlocken oben auf dem Schädel hin und her hüpften. Ihr Oberkörper war so weit vorgebeugt, dass die weißen Rundungen der Brüste zwischen dem tief ausgeschnittenen Kleiderdekolleté und den Spitzen des schwarzen Seidentuchs um den Hals zu sehen waren.

    »Da hört ihrs, Jungs. Was hab ek gesagt?«, Sivert schnappte sich schnell den Klopfer.

    »Aber danach darf er mit uns spielen, nicht wahr, Mutter?«

    Madam Munthe nickte, stellte aber die Bedingung, dass die Jungs um Punkt acht Uhr im Haus sein müssten.

    Eine halbe Stunde später hatte Sivert, die ganze Zeit begleitet von Herman und Julius, das Bettzeug nach oben gebracht, wo die Mädchen sauber machten, und anschließend den Hofplatz wieder aufgeräumt.

    »Jetzt aber!«, forderte Herman ungeduldig.

    »Nur noch ausfegn«, Sivert schnappte sich den Reisigbesen mit dem langen Stiel.

    »Wir müssen Lydia dazuholen, dann macht es mehr Spaß«, schlug Julius vor.

    Herman lief ins Haus, um zu sehen, ob sie im Wohnzimmer war, aber Sivert rief ihm hinterher, dass sie sicher weiter hinten im Garten saß. »Als wir mit den Betten angefangen haben, ist sie mit ein paar Büchern unterm Arm dort hingegangen«, fügte er fast entschuldigend hinzu.

    »Wie gut! Sivert wird der Feind und Lydia der Anführer. Das kann sie besonders gut.«

    »Aber wir spielen heute doch nicht Krieg«, wandte Herman ein und ging mit Sivert davon, der inzwischen den Hof fertig gefegt und den Reisigbesen in den Schuppen gestellt hatte. »Du weißt doch, die Katze …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern und schaute sich verstohlen um.

    »Ja, die Katze, stimmt ja«, bestätigte Julius ebenfalls flüsternd. Er hielt Siverts andere Hand.

    »Aber ihr wart es hoffentlich nich, ihr habt sie nich getötet?«, fragte Sivert und schaute beide prüfend an, während sie die Øvregate überquerten und zur Gartenpforte gingen, die jetzt zwischen den hohen Lindenbäumen zum Vorschein kam.

    »Nein, nein!«, protestierten beide energisch. »Wir haben sie auf dem Abfallhaufen hinter dem Kontor gefunden, aber wenn Mutter das hört, dürfen wir sie vielleicht nicht mehr begraben.«

    »Das bedeutet nämlich, dass jemand sterben muss«, warf Herman in geheimnisvollem Ton ein.

    »Aber Vater sagt, das ist nur dummes Zeug. Wir haben sie unten im Garten versteckt. Kommt, beeilt euch.« Julius schob die Gartenpforte auf.

    Der Garten war in schlechtem Zustand, umschlossen von einem hohen Bretterzaun, dessen Planken feuchtgrün glänzten. Er erstreckte sich in ungepflegten Stufen die Böschung hinunter bis zu den Rückseiten der Kontore der Tyskebrygge. Hier und da gab es ein ungepflegtes Blumenbeet mit Osterglocken und Narzissen, eingerahmt von Schlüsselblumen und vereinzelten Tulpen. Der Flieder und der Goldregen standen in voller Blüte Seite an Seite mit Traubenkirschbäumen und Kastanien, und die weißen und blassrosa Apfelblüten lagen überall auf den erdigen Wegen, die voller Wasserpfützen und dem Laub vom letzten Jahr waren. Rosenbüsche von der pflegeleichten, kleinblättrigen Art zusammen mit meterhohem, blühendem Unkraut, wuchsen entlang der Wege, und eine Wildnis aus Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern stand hier und da dicht vor dem Bretterzaun. Der Stockfischgeruch von der Tyskebrygge war heute nicht so intensiv wie sonst, weil der Wind ihn wegtrug.

    »Du, Sivert, wo sollen wir sie begraben?«, fragte Herman, als sie im Garten angekommen waren und er zusammen mit Julius einen grauen Katzenkörper unter einem Strauch schwarzer Johannisbeeren hervorgezogen hatte. Das Tier lag auf der Seite, die Augen halb geöffnet, die Beine steif von sich gestreckt.

    »Ek denk, hier im Karottenbeet.« Sivert zeigte auf einen offenen, schräg abfallenden Platz mitten im Garten, wo sich ein langgestrecktes Beet mit ein paar Gemüsepflanzen befand, das aussah, als hätte sich schon lange niemand mehr darum gekümmert.

    »Was macht ihr da?«, wurde ihnen zugerufen, und ein Mädchengesicht mit kräftigem, stark gelocktem blondem Haar, das über die Schulter hing, schaute hinter der offenen Gartenhaustür in der untersten Ecke des Gartens hervor. »Das werde ich Mutter sagen.«

    »Du bist gemein! Richtig gemein!« Julius zeigte mit dem Finger auf sie. »Sie will petzen, Sivert!«

    »Komm lieber her und spiel die Trauergemeinde mit«, schlug Herman vor.

    »Ja, das wär viel besser, Jungfer Lydia«, stimmte Sivert zu, der begonnen hatte, mit dem kleinen Spaten der Jungs Erde auszuheben.

    »Glaubt ihr denn, ich habe nichts Besseres zu tun?«, erwiderte Lydia höhnisch. »Ich muss den Katechismus bis morgen auswendig können«, fügte sie hinzu und warf den Kopf nach hinten.

    »Ek hol jetz den Sarg«, sagte Sivert, als das Loch groß genug war. Er ging zu dem Bretterzaun und kam sogleich mit einem Teil eines alten Kistendeckels zurück. Begeistert von diesem Einfallsreichtum legten die Jungs die Katze auf den Deckel und bedeckten sie und die ganze Bahre mit Flieder- und Goldregenzweigen, die sie von den Büschen abbrachen.

    »Wir tragn sie hoch zur Pforte un kommen dann andächtich runter, wie auf nem Friedhof.« Sivert ergriff den Deckel mit der Katze und lief nach oben, gefolgt von Herman und Julius.

    Kurz darauf kamen sie wieder zurück, Sivert voran mit gemessenem Schritt, hielt sich die Mütze vor die Augen. Julius und Herman trugen die Bahre zwischen sich und versuchten im Takt mit Sivert zu gehen.

    »Stellt sie ab, während wir n Kirchenlied singen«, flüsterte Sivert, als sie an der Grabstätte angekommen waren.

    Lass Trauer und Tränen versiegen,

    begann Sivert. »Singt mit, Jungs!«

    »Aber wir kennen das Lied nicht.«

    »Das macht nix. Singt einfach nur.«

    Herman und Julius standen barhäuptig da, die Mütze in den Händen, genau wie Sivert; verlegen schielten sie einander zu und sangen murmelnd mit, während Sivert unverzagt noch einmal begann:

    Lass Trauer und Tränen versiegen,

    lass dich trösten und führen von Gottes Wort,

    lass dein Herz in der Trauer nicht sündigen,

    denn mit dem Tod erst beginnt unser Leben

    am seligen Ort.

    »O je, ist das widerlich«, sagte Lydia, die aus dem Gartenhaus gekommen war und sich jetzt mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand näherte. »Das ist Gotteslästerung.«

    »Darüber hab ek weder in der biblischen Geschichte noch im Katechismus was gefundn«, erklärte Sivert, der ganz rot geworden war.

    »Aber es ist trotzdem eine Sünde.« Lydia nickte, ihr breites, schönes Gesicht mit dem blonden Haar erinnerte an ein Schaf, während sie Sivert mit den schrägen, etwas trüben Augen herausfordernd ansah.

    »Hör nicht auf sie, Sivert«, sagte Herman. »Sie macht sich nur wichtig, weil sie zum Pfarrer geht.«

    »Es steht geschrieben, dass die gesamte Schöpfung in Trauer vereint seufzt«, erklärte Sivert mutig.

    »Im Schmerz vereint ist«, korrigierte Lydia.

    »Und eine Katze ist auch ein Geschöpf Gottes. Deshalb kann es keine Sünde sein, ihr ein christliches Begräbnis zu geben.«

    »Hau jetzt ab, Lydia, du störst uns nur«, Julius drehte sie um und schubste sie mit beiden Händen, so dass sie hinunterlaufen musste.

    Sie legten die Katze und all die Flieder- und Goldregenzweige in das Erdloch. Sivert vollzog den zeremoniellen Wurf einer Handvoll Erde mit einem zerbrochenen Zinnlöffel, und alle drei füllten das Loch gemeinsam und errichteten einen Grabhügel. Ein kleiner Rosenbusch wurde mit den Wurzeln herausgerissen und mitten auf ihm gepflanzt, und Sivert versprach, am folgenden Tag ein Kreuz mit Namen und Todestag zu bringen. Es wurde beschlossen, dass die Katze den Namen »Stue-Mons« gehabt haben sollte.

    Die Gartenpforte wurde mit einem Knall aufgeschlagen, und die grelle Stimme von Sine, dem Küchenmädchen, erschallte: »Rein mit euch, aber sofort, es gibt Abendessen!«

    »Antworte ihr nicht«, flüsterte Herman Julius zu, »wir tun so, als hätten wir nichts gehört.« Sie gaben Sivert mit Zeichen zu verstehen, dass er leise sein sollte.

    »Ihr braucht euch gar nich ze versteckn! Ek seh den Kopf von Julius un die Füße von Herman!«, schrie Sine.

    »Sine, griene, Ma-ha-schine«, rief Herman und schnitt ihr eine Fratze.

    »Sivert Jensen soll auch hochkommen un Bischofswasser holn«, fuhr Sine fort. »Öbrigens is euer Vater nach Hause gekommen, dass ihrs nur wisst.«

    Die Gartenpforte fiel ins Schloss, und Sine war fort.

    »Und du, Lydia?«, rief Julius zum Gartenhaus hinunter. »Du sollst ja wohl bitte schön auch mit hochkommen.«

    »Ich esse mit den Erwachsenen!« Lydias Ton war äußerst überheblich.

    »Und, war es schön, den Reisigbesen auf dem Bett am Faschingsmontag zu spüren, beste Lydia?«, rief Herman, und Julius wiederholte lachend die Frage.

    »So, jetz aber hoch mit euch«, befahl Sivert den beiden. »Ihr wisst doch selbs, wie streng euer Vater is.«

    »Aber ist es versprochen, dass du morgen mit uns Krieg spielst?«

    »Versprochn!«

    »Dann komm!« Sie packten Sivert bei den Kleidern und wollten ihn mit sich ziehen, aber Sivert scheuchte sie nur fort und sagte, er müsse erst noch nach der Beerdigung aufräumen.

    Als die Jungs verschwunden waren und Sivert den Garten wieder in Ordnung gebracht hatte, stand er eine Weile nur da, die Hände auf dem Rücken, und schaute hinunter zum Gartenhaus. Ein paar Mal machte er einen Schritt oder zwei, als wollte er hinuntergehen, blieb dann aber doch stehen. Schüttelte leicht den Kopf, drehte sich langsam um und machte sich zögernd auf den Weg nach oben. Doch da rief Lydia hinter ihm her: »Komm mal her, Sivert Jensen, und hör mir den Katechismus ab.«

    In seinen funkelnden Augen blitzte es auf, und sein braunes Gesicht wurde ganz warm, als er mit großen Schritten, vor Eifer zitternd, den holprigen Weg hinunter zum Gartenhaus ging.

    »Setz dich«, sagte Lydia und machte auf der breiten grünen Lattenbank hinter dem Tisch für ihn Platz. »Hier«, sie reichte ihm das Buch, »von da bis dort. Diese beiden Fragen sind am schwierigsten, all die anderen kann ich aus dem Ärmel schütteln.« Sie setzte sich schräg hin, das Gesicht direkt Sivert zugewandt, den Ellenbogen auf die Tischkante gestützt, das Kinn ruhte in der Hand. Sivert schaute verstohlen auf ihren nackten Arm, der bis zum Rand der kurzen Puffärmel mit langen, hellblonden Haaren bedeckt war.

    »Was ist Selbstverleugnung?«, las er aus dem Buch vor.

    »Dass wir unserem eigenen Willen entsagen und dem, was uns lieb ist.«

    »All dem, was uns lieb ist auf der Welt«, korrigierte Sivert.

    »All dem, was uns lieb ist auf der Welt«, wiederholte Lydia, »damit das Wort Gottes in uns Fortschritte macht.«

    »Fortschritte machen kann«, warf Sivert ein.

    »Ja, machen kann«, gab Lydia zu und fuhr fort: »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter und Kinder und Weib, Brüder und Schwestern – sind es noch mehr?«

    »… auch dazu sein eigen Leben«, fügte Sivert mit bewusster Betonung hinzu.

    »Und auch sein eigen Leben«, fuhr Lydia fort, »der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht … und wer nicht …«

    »… nicht sein Kreuz trägt«, half Sivert ihr aus.

    »Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. – Und, habe ich das gut gekonnt?«

    »Ja«, bestätigte Sivert.

    »Gut?«

    »Wenn Ihr es noch einmal durchlest, dann ja.«

    »O je, ich habe das so satt. Die anderen Fragen sind nicht so wichtig, aber da ist noch eine weiter hinten«, sie nahm ihm den Katechismus aus den Händen und blätterte darin. »Hier, frag mich danach.«

    »Erkläre mir den wirklichen Unterschied zwischen menschlicher Weisheit und göttlicher Erleuchtung«, las Sivert laut vor, als er das Buch zurückbekommen hatte.

    »Die menschliche Weisheit wird durch Fleiß erlangt.«

    »Menschlichen Fleiß«, unterbrach Sivert sie.

    »Menschlichen Fleiß«, wiederholte Lydia lauter und stampfte leise mit dem Fuß auf, »und sie ist nur ein historisches Wissen, bei dem der Mensch in seiner Bosheit verharrt. Die göttliche Erleuchtung wirkt durch das Wort des Heiligen Geistes … das Wort des Heiligen Geistes …«

    »Dessen Kraft wir erfahren«, flüsterte Sivert.

    »Dessen Kraft im Herzen erfahren wird«, setzte Lydia schnell wieder ein, »und die Widerspenstigkeit des Willens langsam auflöst. – Was meinst du, welche Note habe ich verdient?«

    »Jedenfalls keine Eins«, sagte Sivert.

    »Aber zumindest eine Eins minus?«

    »Nich besser wie Eins Komma fünf.«

    »Ach, du Dummkopf! Dabei würde ich wetten, dass du es doch viel besser wüsstest, wenn du an meiner Stelle wärst!« Sie griff mit ihrer weißen, ziemlich großen Hand in sein Haar und zog energisch, aber nicht boshaft, daran.

    »Au«, sagte Sivert, während sein Kopf Lydias Hand folgen musste und ihr immer näher kam. »Warum seid Ihr immer so auf mein Haar aus, Jungfer Lydia?«

    »Weil es so schön ist, du hässlicher Kerl«, antwortete Lydia in zornigem Ton und schlug mit der flachen anderen Hand leicht auf sein dichtes, gelocktes Haar. Es sah aus, als streichelte sie einen Hund, der eigentlich Prügel verdiente.

    »Aber Eures is doch viel schöner«, erwiderte Sivert leise, und während er ihr vorsichtig über das blonde, wellige Stirnhaar strich, immer und immer wieder, erinnerte er sich nur zu deutlich an die Geschichte, die der Segelmacher an Bord der ›Zwei Freunde‹ von der in Seide gekleideten Kaufmannstochter erzählt hatte, die er von einer Gesellschaft nach Hause begleitet hatte und der er dann bis in ihr Zimmer gefolgt war. Dort hatte sie sich ihm an den Hals geworfen, und er hatte sie mit Gewalt genommen.

    Lydia ließ Siverts Haare nicht los, aber sie zog nicht mehr daran, und die andere Hand war auf seine Schulter hinuntergeglitten. Sie spürte, wie er ihr immer näher kam, überlegte, aufzuspringen und davonzulaufen. Doch sie tat es nicht, blieb stattdessen mit halb geschlossenen Augen, den Kopf leicht vorgebeugt, sitzen. Da umschlangen Siverts Arme sie noch enger. Lydia meinte laut zu schreien und sich loszureißen, aber in Wahrheit überlief sie nur ein Schauer, und sie ließ sich in seine Arme sinken.

    Sivert bekam kaum Luft. Jetzt erging es ihm tatsächlich wie dem Segelmacher. Hier saß er mit einer feinen Dame in den Armen, und sie hatte sich willig an ihn geschmiegt. Furcht und Scheu waren verschwunden, ein schwindelerregendes Gefühl von Freude und Stolz durchfuhr ihn, und bevor er sich dessen noch wirklich bewusst war, hatte er mit Lydia das Gleiche erlebt wie der Segelmacher mit der feinen Kaufmannstochter.

    »Man wird dich rausschmeißen.« Lydia war von der Bank aufgestanden, auf der Sivert mit gesenktem Kopf saß, und stand nun vor ihm. »Rausschmeißen«, wiederholte sie und gab ihm einen so kräftigen Schlag auf die Wange, dass lange, weiße Abdrücke ihrer Finger zu sehen waren. »Ich gehe jetzt hoch und werde mich bei Vater über dich beklagen.«

    »Bitte, Lydia, sagt nix«, murmelte Sivert ohne aufzuschauen.

    »Hast du etwa gedacht … o Gott, mein Gott! Willst du mich etwa heiraten?« Das kam stoßweise zwischen heftigen Weinanfällen, und mit einer Hand knüllte sie ihre Latzschürze zusammen, während sie mit der anderen an ihr zerrte.

    »Es passiert so viel, was man nich glaubn mag … Wenn Ihr auf mich wartn wollt, Lydia«, für einen Moment schaute er zu ihr auf, mit Augen, die vor Furcht und Hoffnung funkelten.

    »Auf dich warten? Auf dich!« Lydia hörte auf zu weinen, ihr Gesicht verzog sich vor Verachtung, und die Stimme zitterte vor Hohn und Wut. »Auf so einen Straßenjungen, den Sohn eines Schauermanns! Ja, das ist eine tolle Idee, haha! Lydia Munthe. Mein Großvater, der Stiftsamtmann, verwandt mit der Säuferline!«

    Sivert wurde knallrot. Er presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg.

    Lydia fing wieder an zu weinen.

    »Warum packt Ihr denn auch immer in mein Haar?«, sagte Sivert nach einer Weile. »Nur davon kommt das doch.«

    »O je, wie gemein! Mir die Schuld zu geben – du bist, du bist …«, sie stampfte mit den Füßen auf, »du bist ein Schurke, und außerdem bist du so einer, ja, genau so einer, wie das Stubenmädchen Lise erzählt hat, wie der alte Hansen ist. Am liebsten würde ich dich anspucken.«

    »Also, wisst Ihr was, Jungfer Lydia, jetz reichts.« Sivert stand auf, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie.

    Sie schrie vor Wut und trat mit den Füßen nach ihm.

    »Hört auf, da kommt Euer Vater.« Er ließ sie los.

    »Lydia! Bist du hier, Lydia?« Munthes Stimme war aus dem obersten Teil des Gartens zu hören.

    Augenblicklich wurde Lydia still und streckte ihr verweintes Gesicht durch einen Spalt der Gartenhaustür.

    »Du musst raufkommen, Lydia! Die Grütze wird kalt!«

    Eilig wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Augen und räusperte sich leise. »Ja, Vater, ich komme!« Dann schnappte sie sich ihre Bücher, streckte Sivert mit bösem Blick die Zunge heraus und lief hoch.

    Vorsichtig lugte Sivert aus dem Gartenhaus. Er konnte Munthe sehen, der mitten im Garten neben dem Beet mit dem Katzengrab stand, und als Lydia sich ihm näherte, hörte er ihn sagen: »Aber in Jesu Namen, was ist denn mit dir los?«

    »So, so, du hast also geweint, weil die Aufgaben so schwierig waren«, wunderte Munthe sich, nachdem Lydia etwas geantwortet hatte, was Sivert nicht hatte verstehen können. »Du hast doch wohl keine Zweifel an der Religion, mein Kind?« Und kurz darauf: »Warst du allein da unten?«

    »Was, Sivert hat dich abgehört? Habe ich nicht oft genug gesagt, dass diese Verabredungen mit Sivert Jensen mir nicht gefallen. Ist das etwa die passende Gesellschaft für so ein kleines Mädchen wie dich, die langsam eine erwachsene Dame werden soll? Was habt ihr da getrieben?«

    Lydia stand mit gesenktem Kopf da und zupfte an ihrer Schürze. Plötzlich sah Sivert, wie sie am Vater vorbei den Garten hochrannte und hinter ein paar Bäumen verschwand. Munthe kratzte sich am Kopf und schaute ihr ratlos nach. Dann drehte er sich resolut um und kam mit langen Schritten auf das Gartenhaus zu.

    Im selben Augenblick schlich sich Sivert flink wie eine Katze um die unterste Ecke und zwängte sich durch den schmalen Spalt zwischen Gartenhauswand und Bretterzaun. Er setzte den Fuß auf die vorstehende schmale Querverbindung auf mittlerer Höhe des Gartenhauses, packte den oberen Rand des Bretterzauns, zog sich hoch und schwang sich über den Zaun.

    II

    Mittlerweile war Lydia quer über die Øvregate gelaufen, durch das Tor und zum Hintereingang. Als sie über den Hofplatz lief, am offenen Küchenfenster vorbei, hörte sie Sine sagen: »Wat is heut Abend nur mit diesem Sivert Jensen los, er is noch nich auf dem Bischofshof gewesen.«

    Oben in ihrem Zimmer angekommen, legte Lydia die Bücher zur Seite, setzte sich ans Fenster und starrte auf ein Viereck im Holzschuppendach, in dem ein paar Ziegelsteine fehlten.

    Welche schrecklichen Dinge waren ihr nur passiert? Das Schlimmste, das Sündigste, das Hässlichste von allem auf der Welt. Nach allem, was in den »Erklärungen« stand, musste es schlimmer als ein Mord sein. Erst kürzlich war sie über das sechste Gebot abgefragt worden, und da war ihr die Frage gestellt worden: »Was macht diese Sünde noch abscheulicher als alle anderen Sünden?« »Dass durch sie sowohl Seele als auch Körper beschmutzt werden, die doch Gottes Tempel sein sollen, aber zur Wohnstatt des unreinen Geistes werden.« Dann war ihre Banknachbarin an der Reihe, aber da diese die Antwort nicht wusste, hatte der Propst sich an sie gewandt und gefragt: »Was ist es, das die bösen Gelüste besonders entfacht?« »Völlerei und Trunksucht.«

    Aber sie war weder der Völlerei noch der Trunksucht erlegen. Wie konnte es dann so kommen? Warum war sie nicht sofort aufgesprungen, wie sie doch gewollt hatte, oder zumindest in dem Augenblick, als seine warmen Hände begannen, ihren Hals zu betatschen. Und das, obwohl sie gespürt hatte, wie rau sie waren, und ihr der Gedanke gekommen war, dass sie sicher auch schmutzig sein mussten. Es war, als hätte sie sitzen bleiben müssen, als hätte sie sich gar nicht rühren können. Aber vielleicht war das die Strafe dafür, dass sie während des Konfirmationsunterrichts immer wieder über das, was im sechsten Gebot stand, nachdenken musste. Es war sicher schon eine Sünde, daran zu denken, ausgenommen in der Sakristei am Mittwoch zwischen 11 und 12, wenn der Propst sie abfragte. Aber sie hatte einfach ununterbrochen daran denken müssen. Und das war noch schlimmer geworden, nachdem sie dieses schreckliche, große Frauenzimmer unten im Engen getroffen hatte, mit langen Ohrringen, wehenden Blumen auf dem Hut und raschelnden, steifen Unterröcken, die unter dem Kleidersaum hervorlugten. Sie hatte sofort instinktiv gespürt, dass diese Frau etwas Gefährliches an sich hatte, war, ohne es selbst zu merken, stehen geblieben und hatte sich nach ihr umgeschaut, und in dem Moment hatten ein paar Straßenjungen dieser Person hinterhergerufen: »Pfui, schäm dich, Stavangers-Gina! Beeil dich, Gina, in deinem Haus warten viele Seeleute«, und anschließend waren einige grobe Worte zu hören gewesen, die Lydia nicht einmal in Gedanken wiederholen mochte. In dieser Nacht hatte sie lange wach gelegen und über all diese hässlichen Dinge gegrübelt, aber sie hatte keine Abscheu ihnen gegenüber empfunden, eher hatte es ihr gefallen, an sie zu denken, wobei sie in ihrem tiefsten Inneren eine Art Unruhe darüber gespürt hatte.

    Es war schon sonderbar, dass sie sich nach dem, was geschehen war, nicht wie ein anderer Mensch fühlte und dass sie nicht verzweifelter war. Warum kam sie nicht auf die Idee, sie müsse unbedingt fortlaufen und sich umbringen, warum

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