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Das Internet der Tiere: Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur
Das Internet der Tiere: Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur
Das Internet der Tiere: Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur
eBook231 Seiten2 Stunden

Das Internet der Tiere: Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur

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Über dieses E-Book

Von der Schnecke bis zum Weißen Hai: Weltweit statten Forscher Tausende von Tieren mit Sendern aus, um sie per Satellit und am Computer zu kontrollieren, die Ergebnisse sind auf den Facebook-Profilen der einzelnen Tiere einsehbar.
Was wie Science-Fiction wirkt, ist längst Realität: Weltweit arbeiten Forschungsinstitute wie das Max Planck Institut mit Hochdruck an einer möglichst lückenlosen digitalen Erfassung der Tiere, um ihre Fähigkeiten für den Menschen nutzbar zu machen. Doch in Zukunft werden nicht nur Wasserschlangen vor Tsunamis und Bergziegen vor Vulkanausbrüchen warnen, mit dem Internet der Tiere wird sich auch unser Verhältnis zur Natur radikal wandeln. Bleibt von der umherschweifenden Naturerkundung bald nur noch der Blick aufs Smartphone? Brauchen Tiere ein Recht auf Datenschutz, um vor Wilderern bewahrt zu werden? Gerät das gesamte Tierreich zum weltumspannenden Kontrolllabor? Entgegen kulturpessimistischer Bedenken sieht Pschera im Internet der Tiere die Chance auf einen neuen Dialog zwischen Mensch und Natur.

Die eBook-Version enthält keine Abbilungen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Okt. 2014
ISBN9783957570758
Das Internet der Tiere: Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur

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    Buchvorschau

    Das Internet der Tiere - Alexander Pschera

    Ornithologie

    Einleitung: Warum Rotkäppchen heute ein Smartphone im Korb hat

    Eine alte Geschichte in neuem Licht

    Rotkäppchen ist erleichtert. Sie hat jetzt endlich auch ein iPhone. Die Mutter meint zwar, sie sei noch etwas zu jung und ihre schulischen Leistungen sprächen auch nicht gerade für den Kauf eines solchen Geräts. Aber der Druck der Clique ist einfach zu groß. Alle Freundinnen haben eins, und man will das Mädchen ja nicht zu einer Außenseiterin machen.

    Rotkäppchens Mutter ist alleinerziehend, sie arbeitet den ganzen Tag. So ist es ihr auch gar nicht unrecht, wenn sie weiß, wo ihr Kind sich aufhält. Zumal die Großmutter in dieses einsam gelegene Haus am Rande der Stadt gezogen ist, in dem Rotkäppchen die meisten Nachmittage nach der Schule verbringt, um beaufsichtigt zu sein und ihre Hausaufgaben zu machen. Der Weg dorthin führt durch ein Waldstück, das der Mutter nicht ganz geheuer ist. Sie ist froh, wenn sie Rotkäppchen erreichen kann und wenn das Kind ihr immer mal wieder eine SMS schickt. Sie ermahnt sie auch ständig, im Wald die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen, um zu hören, was um sie herum vorgeht. Man weiß ja nie, wer sich dort herumtreibt.

    Aber Rotkäppchen hat keine Angst vor dem Wald und schon gar nicht vor den Tieren, die dort leben. Sie liebt die Rehe, die Hirsche, den Fuchs und den Hasen. Jeden Tag entdeckt sie etwas Neues, meist abseits des Weges, und daher kommt sie meist zu spät zur Großmutter. Aber das macht nichts, denn wenn sie der Großmutter von ihren neuen Entdeckungen erzählt, strahlt auch die alte Dame voller Glück. Tierspuren und Vogelstimmen sind für Rotkäppchen Botschaften von Freunden. Selbst das wehmütige »DüDüDü« des Dompfaffs lässt ihr Herz höher schlagen, und wenn sie in der Abenddämmerung wieder den Weg nach Hause einschlägt, dann klingt das verführerische »Kiwitt Kiwitt – Kommit Kommit« des Waldkauzes nicht nach einer Gefahr, sondern wie eine Verlockung. Es ist der Ruf der Natur, dem Rotkäppchen nur zu gerne lauscht.

    Was ihre Mutter nicht weiß: Genau deswegen wollte sie das iPhone haben. Aus der Chatterei mit den Freundinnen macht sie sich ebenso wenig wie aus den stumpfen Musikvideos. Aber die vielen Natur-Apps haben ihr einen ganz neuen Zugang zum Wald eröffnet. Nicht nur kann sie jetzt besser Vogelstimmen¹ identifizieren und Tierspuren lesen. Seitdem sie den Animaltracker² auf ihr Telefon heruntergeladen hat, weiß sie, dass die Füchsin Martha im Bau nahe der Lichtung vor dem Haus der Großmutter vier Welpen hat.³ Sie weiß, dass der Rotmilan, der in der Fichte am Ende der Lichtung horstet, dieses Jahr eine andere Route eingeschlagen hat, um aus dem Winterquartier zurückzukehren.⁴ Und vor allem weiß sie, dass sich ein schöner großer grauer Wolf seit Tagen in der Gegend herumtreibt. Er stammt aus einem Rudel aus der nicht weit entfernten Lausitz und hört auf den Namen Ferdinand. Ferdinand der Graue, wie sie ihn im Geheimen nennt, trägt einen GPS-Sender am Körper, mit dem er auf Schritt und Tritt verfolgt werden kann. Wie er aussieht, was er wiegt, mit welchem Rudel er unterwegs ist, wie viele Kinder er hat und was er auf seinen Streifzügen schon alles erlebte – das kann Rotkäppchen auf ihrem Profil im Animaltracker nachlesen. Ein grüner Punkt auf der Karte zeigt ihr die aktuelle Position von Ferdinand an. Sie zittert mit, wenn er sich auf eine Bundesstraße oder eine Autobahn zubewegt, und hofft, dass er einen sicheren Weg ins nächste Waldstück findet.

    Heute zittert Rotkäppchen aber noch viel mehr. Nicht aus Angst, sondern vor Freude. Denn der grüne Punkt Ferdinands taucht auf ihrem GPS-Display auf und nähert sich der roten Markierung, die ihre eigene Position anzeigt. Näher und näher kommt er. Mit bebenden Fingern zieht sie die Ansicht größer. Ihr Herz macht einen Sprung: Es können nur ein paar hundert Meter sein, die sie von Ferdinand trennen. Vorsichtig schaut sie sich um. Vor ihr liegt ein Wiesenstück, danach verliert sich der Wald im Dunkeln. Rotkäppchen stellt ihren Rucksack ab und versteckt sich hinter einem vermoosten Baum. Sie schaltet die Video-App ihres iPhones an und wartet. Vielleicht gelingt es ihr ja, eine Aufnahme zu machen. Ihr Atem wird immer flacher, und sie muss sich anstrengen, die Hand ruhig zu halten. Es vergehen Minuten, die wie Stunden wirken. Schon verlässt sie der Mut, da schiebt sich ein mächtiger grauer Schatten aus dem Dickicht. Ein majestätischer Wolfsschädel erscheint und verharrt sekundenlang in der gleichen Position. Ferdinand der Graue! Er prüft die Lage auf der Lichtung, fast scheint er selbst zu lauern – hoffentlich wittert er Rotkäppchen nicht. Das Mädchen startet die Video-Aufnahme. Jetzt bewegt sich das Tier. Langsam, aber bestimmt überquert der Wolf die Wiese. Er kommt direkt auf Rotkäppchen zu.

    Das Video läuft. 2 Minuten. 2 Minuten 30. 3 Minuten. Rotkäppchen bekommt einen Krampf im Bein, für den Schmerz hat sie aber keine Zeit. Der Wolf ist jetzt knapp 20 Meter von ihr entfernt. Gefühlvoll fährt sie mit der Kamera das Tier entlang – sie filmt den Kopf, den Rücken und die buschige Rute. Der Wolf bleibt stehen und schaut direkt in ihr Objektiv. Hat er sie entdeckt? Für den Bruchteil eines Augenblicks schießen Rotkäppchen Erinnerungen an alte Märchen durch den Kopf, in denen kleine, wehrlose Mädchen im dunklen Tann von wilden Wölfen bedroht und verspeist werden. Ist an diesen Geschichten vielleicht doch etwas Wahres dran? Ihre alleinerziehende Mutter kommt ihr in den Sinn. »Was wird sie ohne mich machen?« Für einen Moment überlegt die bange Beobachterin, die Video-App zu stoppen und den eingespeicherten Notruf zu wählen.

    Doch Ferdinand der Graue denkt gar nicht daran, sich an den Mythos zu halten, den die Menschen aus ihm gestrickt haben. Ein warmer Sonnenstrahl fällt auf die Wiese. Das Gras dampft. Der alte Wolf streckt die Vorderbeine aus. Er gähnt genüsslich und lässt sich wie ein nasser Sack ins Gras fallen. Rotkäppchen filmt und filmt. Schon 5 Minuten 30. Was würde wohl passieren, wenn sie ihr Versteck verließe und sich dem Wolf näherte? Würde er sie angreifen? Oder würde er einfach nur flüchten? Plötzlich ist sie versucht, das Experiment zu wagen, doch schließlich siegt die Vernunft. Auch drängt die Zeit. Sie hat schon mehr als eine halbe Stunde Verspätung, und die Großmutter wartet sicherlich schon auf sie.

    In genau diesem Moment vermeldet ein schrilles »bippbippbipp« den Eingang einer SMS. Ihre Mutter! »wo bist du denn … ruf mich mal schnell an … mache mir sorgen … mama«. Das digitale Signal bohrt sich in die Idylle des Waldes wie ein tödlicher Pfeil. Ferdinand der Graue schnellt auf und taucht wie ein geölter Blitz zwischen den Baumstämmen ab. Rotkäppchen kann gerade noch verfolgen, wie sich der grüne Punkt auf dem Display immer weiter und immer schneller von dem roten entfernt. »Adieu, mein lieber Freund!«, flüstert sie. »Mach’s gut!«

    6 Minuten 24 dauert ihr Wolfsfilm. Kaum ist sie im Haus angelangt, zeigt sie ihn der begeisterten Großmutter. Immer und immer wieder betrachten Oma und Enkelin gemeinsam die erstaunlich scharfen Bilder. Rotkäppchen kann gar nicht genug davon bekommen, von den Gefühlen zu erzählen, die sie hinter dem verwitterten Baumstumpf abwechselnd ergriffen haben: Anspannung, Begeisterung, Angst, Freude. Und auch der Krampf im linken Bein fällt ihr nun wieder ein. Dann lädt sie das Video auf die Facebook-Seite von Ferdinand dem Grauen hoch. Die Seite wurde von Wolfsfans angelegt, um das Leben des Tieres zu dokumentieren. Mehr als 2000 digitale Freunde hat der Alte schon. Gar nicht schlecht für solch einen ausgemachten Bösewicht! Doch viel mehr als verschwommene Fotos und Peilsignale finden sich auf dieser Seite bislang nicht. Rotkäppchens Video ist das erste längere Dokument – und entsprechend enthusiastisch sind die Kommentare der Wolfscommunity. Sie reichen von »Fantastischer Film, ich hätte ja solche Angst gehabt an deiner Stelle!« bis zu »Vergiss Heinz Sielmann – schaue Rotkäppchen«. Binnen Stunden wird das Video mehr als 5000 mal geklickt und noch öfter geteilt. Es findet seinen Weg auch auf die Webseite des NABU und des WWF.

    Den Abend verbringt Rotkäppchen übrigens im Haus der Großmutter. Es gibt grüne Smoothies – denn Großmama ist eine moderne, vegan lebende Frau. Als Rotkäppchen sich endlich von Ferdinand dem Grauen lösen kann, ist es schon stockfinster. Selbst der Dompfaff hat sein tristes »DüDüDü« eingestellt und den Kopf ins rotgraue Gefieder gesteckt. Bevor auch Rotkäppchen die Decke über den Kopf zieht, zückt sie ein letztes Mal ihr Smartphone, um Ferdinand Gute Nacht zu sagen. Und dann schreibt sie noch eine SMS an ihre Mama: »hallo mum … habe einen tollen neuen freund … er heißt ferdinand … muss ich dir morgen erzählen … er ist zwar viel älter als ich, aber so schön … doch du bist und bleibst die beste … dein käppy«.

    Diese Geschichte könnte sich so oder ähnlich heute in jedem Teil Deutschlands ereignen. Sie ist, wenn überhaupt, nur ein klein wenig perfektioniert. Das neue Märchen von Rotkäppchen ist keine Utopie. Denn es gibt sie tatsächlich, diese direkte Verbindung zwischen Mensch und Tier. Ich kann es bezeugen: Das ultraflache Smartphone in meiner Hosentasche vernetzt mich mit einem Trupp glänzend schwarzer Vögel, die im Sommer in Bayern, im Winter in der Toskana leben: Waldrappe. Eine auf dem Telefon installierte Software stellt den Kontakt zu diesen seltenen und schönen Ibisvögeln her, während sie zum Überwintern in markanter Pfeilformation über die Alpen fliegen. Auf ihrem Weg über die Berge lauern zahlreiche Gefahren. Das ist auch der Grund, weshalb der Rapp einen Funksender tragen muss, mit dem er von seinen Betreuern geortet und dadurch besser geschützt werden kann. Seine letzte »Begegnung« mit dem Menschen fiel weniger symbiotisch aus. Der Waldrapp wurde über Jahrhunderte so stark gejagt, dass er fast ausstarb und kaum noch Exemplare in freier Wildbahn anzutreffen waren. Nun versucht ein – durch Technik beflügeltes – Auswilderungsprogramm, den Vogel hierzulande wieder heimisch werden zu lassen. Die Standortdaten der einzelnen Waldrappe werden via Satellit in eine Datenbank übertragen und von dort auf einer Facebook-Seite in Text, Bild und Video dargestellt. Facebook wird so zum Tierblog. Hier erzählen die Vögel – und zwar nicht irgendwelche anonymen Vertreter ihrer Art, sondern die Waldrappe Balthasar und Remus, Tara und Pepe – über das buchstäbliche Auf und Ab ihres Lebens. Mit digitaler Technologie komme ich den Waldrappen heute wieder so nahe wie Rotkäppchen dem Wolf oder wie ein prähistorischer Jäger seiner Beute kommen musste, um sie zu erlegen. Das Internet ist hier alles andere als virtuell und abstrakt: Es ist hyperreal und sensuell. Ich sehe, wo sich die Waldrappe gerade befinden und was sie tun. Ich sehe, in welchem Sozialverband sie unterwegs sind. Ich sehe, mit welchen Problemen sie kämpfen: ob sie in einen Schneesturm geraten sind, ob sie sich verflogen haben und wie sie handeln, um sich aus diesen Schwierigkeiten zu befreien.

    Damit schließt sich ein Kreis in der Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung. Der Steinzeitmensch musste sich dem Mammut bis auf Speerwurfentfernung nähern. Er hörte den Atem des Tieres und roch seine Ausdünstungen. Diese existenzielle Nähe zum Wildtier war spätestens dann vorbei, als der Mensch über bessere Jagdwaffen verfügte. Aber im kulturellen Gedächtnis der Menschheit wurde sie als Erinnerung aufbewahrt, unter anderem in Form von Fabeln, Mythen und Märchen, in denen Zaun- und Froschkönige, Füchse und Hasen untereinander und mit den Menschen in Kontakt traten. Nach Jahrhunderten der Entfremdung kann sich der Mensch diese Nähe wieder erschließen. Es ist möglich, wie ein postmoderner Nils Holgersson auf dem Rücken der Waldrappe über die Gipfelkämme der Dolomiten zu fliegen und die Welt aus der Perspektive des Vogels zu betrachten. Auch in kultureller Hinsicht kehren wir zu den Anfängen zurück. Der Jäger malte in den Grotten von Altamira in erdigen Farben mächtige Tiere in den Stein, die bis heute von einer tiefen Beziehung zwischen Mensch und Tier, zwischen Jäger und Beute zeugen. Mein Mammut ist ein Waldrapp, dem ich mit vielen anderen auf einer Facebook-Seite huldige. Die Vogelfreunde kommentieren die Ereignisse der Migration und stellen eigene Fotos ein. Die digitale Pinnwand von Facebook und die Höhlen von Altamira sind, so überraschend es klingen mag, zwei Seiten einer Medaille. Beide erfüllen die gleiche Rolle im System der jeweiligen Zivilisation. Sie visualisieren das Bewusstsein, das wir von der Natur haben, und bekräftigen dadurch einen gemeinsam geteilten Wertekosmos.

    Wir befinden uns auf der Schwelle einer neuen Ära der Naturbegegnung und des Naturbewusstseins, denn der Waldrapp ist kein Einzelfall. Es gibt viele weitere Beispiele für die digitale Vernetzung von Menschen und Tieren. Rotkäppchens Begegnung mit dem Wolf kann sich heute in der Oberlausitz, in der es bereits wieder relativ große Rudel gibt, täglich wiederholen – mit einem besseren Ausgang für das Tier und ohne Trauma für den Menschen. Viele Wölfe, die durch die Kulturlandschaft der Republik streifen und dort für Unruhe unter den Menschen sorgen, tragen ein GPS-Halsband. Ihre Positionsdaten werden aufgezeichnet und auf Webseiten übertragen, auf denen man die Tiere verfolgen kann. Dazu gibt es Bilder von versteckten Naturkameras, die das Geschehen im Wolfsbau anschaulich machen. Diese Wölfe sind keine anonymen Bestien mehr, die aus dem Nichts auftauchen, zuschlagen und wieder im Nichts verschwinden, sondern sie tragen konkrete Namen und haben einen Lebenslauf. Sie sind nicht mehr nur Vertreter einer Art, sondern echte Individuen. Wir können uns über ihre Biografie und ihre Vorlieben genauso informieren wie über ihren Charakter und ihr Sozialverhalten. Das verwandelt diese Wölfe schließlich sogar in sympathische Zeitgenossen – eine für den Wolf beachtenswerte Karriere, waren doch gerade Wölfe über Jahrhunderte die Erzfeinde des Menschen. Sie galten als verschlagen, heimtückisch, grausam. Die neue Beobachtungstechnologie schafft, was Generationen von bemühten Naturaufklärern und hochmotivierten Naturpädagogen nicht gelungen ist – den Wolf aus dem Klammergriff des Vorurteils zu befreien und ihn in ein normales Tier zu verwandeln. Dank digitaler Technologie wird sein Alltag transparent und erlebbar. Es entsteht ein neuer Dialog zwischen Mensch und Natur. Denkt man diesen Dialog weiter, so ist es nicht übertrieben, von einer neuen Sprache zwischen Mensch und Tier zu träumen.

    Doch wozu, kann man fragen, brauchen wir eine solche Sprache? Tun wir nicht schon viel, um den Lebensraum der Tiere zu erforschen und ihr Überleben zu sichern? Nimmt die Natur- und Artenschutzdiskussion nicht erheblichen Raum in Politik, Gesellschaft und Medien ein? Gibt es nicht sogar eine Überfülle an grünen Themen? Subjektiv mag man das so empfinden, aber Tatsache ist, dass sich das weltweite Artensterben trotz zahlreicher internationaler Programme ungebremst fortsetzt, ja sogar dramatisch beschleunigt. Das Schicksal der Menschen und das der Tiere strebt auseinander. Auf dem Floß der Medusa sitzen die Menschen, auf der Arche Noah treiben die Tiere davon. Die Trennung ist fundamental geworden. Nicht nur ist die Existenzgrundlage vieler wildlebender Tiere gefährdet. Auch im täglichen Leben spielen diese Tiere keine Rolle mehr, in den letzten zweihundert Jahren sind sie in Europa und Nordamerika aus dem Alltag des Menschen verschwunden. Während die Wild- und Nutztiere in vielen Gegenden Asiens und Afrikas, in denen die Industrialisierung noch nicht alle ursprünglichen Lebensformen zerstört hat, immer noch als Alltagsgefährten der Menschen auftreten und mit ihnen ein gemeinsames Leben teilen, wurden sie im europäischen Kulturraum seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch Maschinen und technische Apparate ersetzt. Entscheidend ist aber vor allem,

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