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Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit erhalten
Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit erhalten
Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit erhalten
eBook712 Seiten7 Stunden

Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit erhalten

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Über dieses E-Book

Der Erfolgsautor zeigt neue Wege auf, wie der Mensch sich vor schädlichen Umwelteinflüssen schützen kann.

Wie erhalten wir in Zeiten neuartiger Pandemien, chronischer Krankheiten, zunehmender Urbanisierung und medialem Dauerfeuer unsere körperliche und geistige Gesundheit? Basierend auf umfassenden ökologischen Betrachtungen und unter Berücksichtigung der neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse der Mikrobiomforschung zieht Martin Grassberger Schlüsse über die fundamentalen Wechselwirkungen zwischen uns und unserer Umwelt und zeigt, wie wir trotz beunruhigender Entwicklungen ein gutes und gesundes Leben führen können. Martin Grassberger stellt in "Das unsichtbare Netz des Lebens" den Menschen in den Fokus und erklärt, wie jeder Einzelne sich, seine Kinder und die Umwelt schützen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum21. Sept. 2021
ISBN9783701746675
Das unsichtbare Netz des Lebens: Wie Mikrobiom, Biodiversität, Umwelt und Ernährung unsere Gesundheit erhalten

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    Buchvorschau

    Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

    Gesundheit ist nicht alles

    »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts«, lautet eine fundamentale Einsicht. Wir alle streben nach einem möglichst gesunden, zufriedenen und langen Leben. Wie diese ewige Gesundheit zu erreichen ist, scheinen offenbar viele zu wissen, denn die Informationen hierzu in Form von Büchern, Filmen, Podcasts, YouTube-Videos und den dazugehörigen »Beratern« ist kaum überschaubar. Begleitet von einem stetig steigenden Angebot an unzähligen Nahrungsergänzungsmitteln und sonstigen »lebensverlängernden« Substanzen, wird auf diesem Sektor jährlich ein Millionenumsatz erzielt. Die einen schwören auf dies, andere auf jenes, doch eine Panacea, ein sprichwörtliches Allheilmittel, hat offenbar noch niemand gefunden. Denn obwohl viel Geld für fragwürdige Diäten, Gesundheitsgurus, Coaches und Berater (egal, ob das Leben oder die Ernährung betreffend) ausgegeben wird, sprechen die Gesundheitsstatistiken eine ziemlich deutliche Sprache: Während unsere Zivilisation mit all ihren Errungenschaften und Annehmlichkeiten voranschreitet, scheint es mit unserer Gesundheit nicht gerade zum Besten bestellt zu sein. Auch wenn manche auf unsere in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegene Lebenserwartung verweisen, so ist das nicht gleichbedeutend mit einer stetig steigenden Gesundheit in der Bevölkerung.

    Medizinischer und ökonomischer Fortschritt – und damit ein besseres Leben – lassen sich an der allgemeinen Zunahme der Lebenserwartung ablesen, lautet die gängige, durchaus nachvollziehbare Ansicht. Aber ähnlich wie bei der vereinfachten Gleichung, ein steigendes mittleres Prokopfeinkommen eines Landes sei gleichbedeutend mit individuellem Wohlstand und Wohlergehen, liegt auch dieser Annahme eine unzulässige Vereinfachung zugrunde. »Mehr« ist in beiden Fällen nicht zwangsläufig mit »besser« gleichzusetzen. Denn eine steigende Lebenserwartung gibt keinesfalls automatisch Auskunft darüber, ob die im Zuge des Fortschrittes gewonnenen Lebensjahre auch in Gesundheit verbracht werden.

    Um diese Realität besser abzubilden, hat die Wissenschaft Kenngrößen wie Disability adjusted Life Years (DALYs) oder Healthy Life Years (HLY) definiert. Diese Indikatoren beschreiben die Anzahl jener Lebensjahre, die eine Person tatsächlich in Gesundheit bzw. frei von Behinderung und Krankheit verbringt oder statistisch verbringen wird. Derartige Kategorien sind daher als eine ganz wesentliche Ergänzung des Indikators Lebenserwartung zu sehen, da nicht alle Lebensjahre einer Person in guter Gesundheit verbracht werden. Das sagt uns schon die Lebenserfahrung. Lebensqualität und Lebenserwartung sind nicht dasselbe. Jeglicher Verlust an Gesundheit zieht erhebliche individuelle und gesellschaftliche Nebeneffekte nach sich und hat schließlich auch weitreichende Folgen für Verbrauch und Produktivität innerhalb einer Volkswirtschaft.

    So liegen Österreich und Deutschland zwar im EU-Spitzenfeld, was den Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt betrifft. Doch bedeutet dies, dass wir in diesen Ländern auch die gesündesten Menschen antreffen? Nein, sagt die Statistik. Während wir in beiden Ländern derzeit zwar eine durchaus ähnlich hohe durchschnittliche Lebenserwartung vorfinden (ca. 84 Jahre bei Frauen und ca. 79 Jahre bei Männern), fällt die Anzahl gesunder Lebensjahre (ohne Krankheit oder Behinderung) vor allem in Österreich im EU-Vergleich äußerst bescheiden aus. Laut Datenerhebung von Eurostat aus dem Jahr 2016 haben Herr und Frau Österreicher bei der Geburt im statistischen Schnitt mit etwa 57 gesunden Lebensjahren zu rechnen. Im EU-Schnitt sind es hingegen rund 64 gesunde Lebensjahre und in Schweden gar 73.

    Den relativ hohen staatlichen Gesundheitsausgaben steht also ein eher ernüchternder Gesundheitszustand der Bevölkerung gegenüber. Dass Österreich nur 1,7 Prozent seines Gesundheitsbudgets für Prävention und Gesundheitsförderung ausgibt, mag einer der Gründe hierfür sein.¹

    Im Schnitt der OECD-Länder liegt dieser Wert gut doppelt so hoch bei 3,4 Prozent. Wir wissen aber mittlerweile, dass für jeden in Krankheitsprävention und Umweltbewusstsein investierten Euro geschätzt etwa zwei bis vier Euro an gesamtökonomischem Benefit zu erwarten sind. Prävention zahlt sich also auf jeder Ebene aus, sowohl auf der persönlichen als auch auf der ökonomischen Ebene eines Landes.

    Ein großer Teil dieser verloren gegangenen gesunden Lebensjahre geht auf das Konto der ernährungsassoziierten Erkrankungen, also auf Krankheiten, die durch Ernährungsgewohnheiten (mit)verursacht werden bzw. durch Ernährungsgewohnheiten oder entsprechende Maßnahmen verhindert bzw. behandelt werden könnten.

    In meinem letzten Buch, »Das leise Sterben. Warum wir eine landwirtschaftliche Revolution brauchen, um eine gesunde Zukunft zu haben«, habe ich bereits einige Punkte unsere Gesundheit betreffend angesprochen, konnte aber nicht bei allen Themen ins Detail gehen. Dass dies offenbar für manche zu wenig bzw. etwas unbefriedigend war, haben mir die zahlreichen Zuschriften und die Publikumsfragen während der Diskussionen nach meinen Vorträgen gezeigt.

    »Was soll ich konkret tun, um meine Gesundheit wiederzuerlangen, den richtigen Lebensstil zu finden, nachhaltig zu leben, die richtigen Lebensmittel für meine Familie einzukaufen …? Welche ›Superfoods‹ und Nahrungsergänzungsmittel empfehlen Sie? Welche Lebensmittelzusatzstoffe sind schädlich?« usw. So oder ähnlich lauteten die meisten der gestellten Fragen. Alles durchaus berechtigte Fragen jedes und jeder Einzelnen. Vermutlich fiel meine Antwort in vielen Fällen aber enttäuschend aus, denn einfache und kurze Antworten oder gar schnelle »Lösungen«, die für jede und jeden gleichermaßen zutreffen, gibt es, wie wir im Folgenden sehen werden, für all diese Fragen schlicht nicht. Ich bin allerdings der Auffassung, dass es äußerst hilfreich sein kann, die »richtige« Betrachtungsweise bezüglich der tieferen, all diesen Fragen zugrunde liegenden Zusammenhänge zu kennen, um stets selbstständig für die eigene Lebenssituation die richtigen Entscheidungen treffen zu können – zumindest soweit dies auf Basis der momentanen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich ist. Ich versuche, mit meinen Ausführungen einem Ausspruch Albert Einsteins zu folgen, wonach man die Dinge so einfach wie möglich machen sollte, aber nicht einfacher. Auch wenn es dadurch an manchen Stellen vielleicht etwas komplizierter wird, werde ich versuchen, die Zusammenhänge so einfach wie möglich zu schildern und nichts unerklärt zu lassen.

    Die zwei neuen Schlagworte in diesem Zusammenhang lauten Health Literacy und Eco Literacy, also Gesundheits- und Ökokompetenz. Unter Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit zu verstehen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die persönliche Gesundheit auswirken. Analog dazu ist ökologische Kompetenz die Fähigkeit, natürliche Systeme, die das Leben auf der Erde ermöglichen, zu verstehen und diese Prinzipien für die Schaffung nachhaltiger menschlicher Lebensgemeinschaften sowie das eigene Leben anzuwenden. Leider haben Untersuchungen gezeigt, dass vor allem die Gesundheitskompetenz sowohl der Österreicher als auch der Deutschen deutlich unter dem europäischen Durchschnitt liegt.²

    So sieht sich mehr als die Hälfte der österreichischen und deutschen Bevölkerung im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt.

    Zudem herrscht sowohl in der Medizin selbst als auch unter der weitaus größeren Gruppe der medizinischen Laien eine etwas unvollständige Sicht auf unseren Körper und seine möglichen »Gebrechen« bzw. deren tiefer liegende Ursachen. Im Vordergrund stehen vor allem Fehlannahmen hinsichtlich dessen, was idealerweise sein sollte (»Gesundheit«), und dem, was die ursächlichen Zusammenhänge im Rahmen von Fehlfunktionen betrifft (»Krankheit«). Das, was ich als »tiefer liegende Ursachen« bezeichne, bezieht sich nicht auf den unmittelbaren Auslöser einer Krankheit, sondern vielmehr auf die alles entscheidende Frage, warum wir überhaupt für die eine oder andere Krankheit anfällig sind bzw. geworden sind. Einige aufschlussreiche Antworten finden wir, wie so oft, wenn wir einen umfassenden Blick in unsere Vergangenheit werfen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit der aktuellsten Wissenschaft und unserer gegenwärtigen Lebensweise abgleichen.

    Eine relativ neue Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dieser langen (evolutionären) Vergangenheit in Verbindung mit den ungelösten medizinischen Fragen der Gegenwart beschäftigt, ist die sogenannte Evolutionäre Medizin (engl. Evolutionary Medicine).³

    Ich werde später auf einige der durch diese evolutionäre Betrachtungsweise gewonnenen Einsichten genauer eingehen. Wenngleich diese Erkenntnisse in vielen Fällen nicht automatisch zu einer simplen Lösung im Sinne einer raschen und effektiven Behandlung von Krankheiten führen, so beinhalten sie doch viele Lösungsansätze, was die Verhinderung von Krankheiten und das bessere Verständnis ihrer Entstehung betrifft. So viel sei jetzt schon verraten: Die Ernährung und unsere Umwelt (bzw. wie wir diese gestalten) spielen hierbei eine ganz entscheidende Rolle.

    Apropos Umwelt. Betrachten wir die evolutionäre Vergangenheit von Organismen, egal ob Mensch, Pflanze oder Mikrobe, so ist klar, dass wir dabei auch immer die komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Lebensformen selbst und deren Interaktion mit der Umwelt im weitesten Sinne mitberücksichtigen müssen.

    Die wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie, die sich mit den Beziehungen von Lebewesen (Organismen) untereinander und zu ihrer Umwelt beschäftigt und diese erforscht, nennt sich Ökologie. Integriert man die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie in ökologische Erklärungsmodelle, so erhält man das Fachgebiet der Evolutionsökologie. Tatsächlich werden heute in der Biologie zahlreiche ökologische Fragestellungen zu einem beträchtlichen Teil unter dem Aspekt der zugrunde liegenden Evolutionsprozesse untersucht.

    Betrachten wir die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, befinden wir uns wiederum im biologischen Teilgebiet der Humanökologie. Hier wird es besonders spannend und aufschlussreich, denn, wie mittlerweile weithin bekannt ist, haben wir Menschen während der letzten 200 Jahre und ganz besonders während der letzten Jahrzehnte unsere Umwelt (und unsere Beziehung zu ihr) gravierenden Änderungen unterworfen. Diese umfassen tiefgreifende Änderungen und Zerstörungen von Ökosystemen im Zuge einer immer intensiveren Ressourcennutzung – sei es im Rahmen der Landwirtschaft, der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen und Bodenschätzen oder des Ausbaus unserer Infrastruktur. Eine mittlerweile weithin bekannte Folge ist der voranschreitende Klimawandel. Andere Konsequenzen, vor allem jene für unsere Gesundheit, sind hingegen nicht so ohne Weiteres auf den ersten Blick zu erkennen.

    Wenn Sie mir bis hierher aufmerksam gefolgt sind, dann haben Sie zwangsläufig erkannt, dass wir wirklich sinnvolle, hilfreiche und fundamentale, weil lebensverändernde Einsichten nur dann gewinnen können, wenn wir alle oben genannten Teildisziplinen einer integrativen Sichtweise unterziehen. Wir müssen beginnen, systemisch zu denken, um uns dem Verständnis des unsichtbaren Netzes des Lebens zumindest annähern zu können.

    Systemdenken

    Systemdenken ist im heutigen Zeitalter der hoch spezialisierten Wissenschaften nicht bei allen beliebt, denn es erfordert, sich bis zu einem gewissen Grad auf unsicheres Terrain vorzuwagen, in dem wir nicht alles mit letzter Sicherheit vorhersagen können. Vieles entzieht sich einer exakten und einfachen experimentellen wissenschaftlichen Betrachtungsweise, denn Systeme bestehen selbst wiederum aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Einheiten und Subsystemen, die aus sich ständig verändernden Größen bestehen. Es gilt, in Prozessen zu denken und nicht in Zuständen. Ein simples Ja oder Nein, Richtig oder Falsch gibt es bei dieser Betrachtungsweise in der Regel nicht. Alle Teilaspekte und Systemgrößen existieren selbst wiederum nur als Produkt von anderen, zum Teil weitgehend unbekannten Größen. Die Vielgestaltigkeit lebendiger Systeme macht Vorhersagbarkeit nur bedingt möglich und erweckt häufig den Anschein von Chaos, denn wir haben es mit komplexen Regelkreisen, Prozesskreisläufen und in vielen Fällen noch unverstandenen Gesetzmäßigkeiten zu tun.

    Dennoch können unsere herkömmlichen wissenschaftlichen Sichtweisen und Methoden bis zu einem gewissen Grad Einblicke in die Funktionsweise zumindest von Teilaspekten komplexer Lebenssysteme geben. Wir sind zu einem großen Teil auf diese eingeschränkte Sichtweise von Teilaspekten angewiesen. Auch ich werde mich in diesem Buch hauptsächlich auf derartige Erkenntnisse beziehen. Wir haben keine anderen. Das ist so lange kein Problem, solange wir nicht in den Irrglauben verfallen, diese wissenschaftlich »objektivierbaren«, mikroskopisch kleinen Ausschnitte des großen Ganzen würden uns ein eindeutiges, konkretes und vollständiges Bild der Realität liefern. Allerdings, je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse aus unterschiedlichen Teilgebieten zusammengetragen werden, desto eher sind wir in der Lage, einen kleinen Einblick in das komplexe Netz des Lebens zu erhaschen und unsere Verflechtungen mit diesem besser zu verstehen.

    Evidenzbasiert

    Interessanterweise sträuben sich manche Personen in Wissenschaftskreisen, das Adjektiv »reduktionistisch« auch nur in den Mund zu nehmen. Aber nichts anderes tun wir, wenn wir, den Anforderungen der evidenzbasierten Wissenschaft und Medizin folgend, mehr oder minder simple Experimente durchführen, um statistisch signifikante Ergebnisse zu gewinnen. Jede noch so ausgeklügelte doppelblinde, randomisierte und (Placebo-)kontrollierte prospektive Studie (das wäre der wissenschaftliche Goldstandard) stellt eine Reduktion der komplexen Realität dar, die zwingend erforderlich ist, um gemäß der »guten wissenschaftlichen Praxis« die postulierten Hypothesen überprüfen zu können.

    Seit Mitte der 1990er-Jahre das Konzept der Evidence Based Medicine (deutsch: »auf empirische Belege gestützte Heilkunde«) in die Medizin Einzug gehalten hat, erfolgen viele ärztliche Maßnahmen auf Basis der zunehmend verfügbaren »evidenzbasierten Leitlinien«. Das ist ohne jeden Zweifel sehr begrüßenswert. Von den »Gründungsvätern« der Evidenzbasierten Medizin (EBM) wurde diese ursprünglich aber durchaus differenziert als »gewissenhafter, ausdrücklicher und umsichtiger Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten« definiert.

    Ein entsprechendes Fachwissen wird also von der Ärzteschaft gefordert, um mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung ihrem Versorgungsauftrag optimal nachzukommen. Diese »bestmögliche Evidenz« ist aber erstens mit einem zum Teil enzyklopädischen Wissen verbunden und zweitens durch die geforderten Studiendesigns der EBM nicht für alle Fragestellungen immer und zweifelsfrei zu generieren. Gerade was die schiere Komplexität der lebenslangen Umwelteinflüsse, der Ernährung und damit verbundener zellulärer Mechanismen inklusive der menschlichen Genetik betrifft, müssen wir uns in vielen Fällen mit geringeren »Evidenzgraden« zufriedengeben und uns auf nachgewiesene Mechanismen (z. B. auf zellulärer und molekularer Ebene), Beobachtungen und empirische Erfahrungen verlassen. Es wäre daher vermutlich sinnvoller, von einer »wissenschaftsbasierten Medizin« zu sprechen.

    Große randomisierte und kontrollierte Studien mit Tausenden Teilnehmern und entsprechender wissenschaftlicher Evidenz in Form von statistischen Signifikanzen liegen vor allem für pharmazeutische Produkte vor, da diese kostenintensiven Untersuchungen zu einem beträchtlichen Teil von den Herstellerfirmen finanziert werden. Das ist durchaus üblich und, solange dabei Objektivität herrscht, absolut vertretbar und begrüßenswert. Dass bei gesponserten Studien erheblich häufiger das »erhoffte« Ergebnis herauskommt als bei öffentlich finanzierten, zeigt aber, dass man sich auf die geforderte Objektivität nicht immer verlassen kann.

    Der sogenannte Publikationsbias trägt darüber hinaus dazu bei, dass Studien, bei denen keine Wirkung nachgewiesen werden konnte, seltener veröffentlicht werden.

    Bei an sich einfachen und kostengünstigen Interventionen wie Ernährung und Lebensstil, bei denen keinerlei Produkt vermarktet wird, steht selten ein finanzkräftiges Unternehmen dahinter, was wiederum in vielen Fällen, verglichen zur Arzneimitteltherapie, zu einer geringeren Verfügbarkeit der geforderten evidenzbasierten Literatur führt. Darüber hinaus entzieht sich ein ganzheitliches Modell, wie etwa die »biopsychosoziale Medizin«, aufgrund des erheblich komplexeren Ansatzes in den allermeisten Fällen simplen Experimenten mit Interventions- und Kontrollgruppen. Tatsächlich aber existieren unglaubliche Mengen an wissenschaftlichen Nachweisen aus den Disziplinen der Psychoneuroimmunologie, Psychoneuroendokrinologie und Psychosomatik dafür, dass sich psychologische Prozesse wie Stress, Angst und Depression nachweislich auf körperliche Funktionen auswirken. Die Effekte sind aber mitunter stark vom Individuum, sprich vom einzelnen Patienten, abhängig und folgen selten statistischen Mittelwerten. Gleiches gilt für die Ernährungsmedizin. Menschen sind trotz aller Ähnlichkeiten, gerade was die Reaktion auf verschiedene Lebensmittel betrifft, ziemlich unterschiedlich.

    Dass die ständige Forderung nach Placebo-kontrollierten, randomisierten Studien als allein seligmachende Entscheidungsgrundlage im Sinne einer Evidenzbasierten Medizin auf einer eingeschränkten Sicht der Realität fußt und wir uns auch auf Vernunft und Verstand stützen sollten, haben Gordon Smith und Jill Pell 2003 mit einer außergewöhnlichen Publikation in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal bewiesen.

    Die Autoren von der Cambridge University und dem Department of Public Health des britischen NHS veröffentlichten ein sogenanntes »Systematic Review«, also eine Gesamtauswertung aller verfügbaren Studien als Ausdruck der höchsten Evidenzklasse der EBM. Die Studie trug den spannenden Titel: Parachute use to prevent death and major trauma related to gravitational challenge: systematic review of randomised controlled trials. (Fallschirmgebrauch zur Verhinderung von Tod und schweren Verletzungen im Zusammenhang mit der Wirkung von Schwerkraft: systematische Auswertung randomisierter kontrollierter Studien.)

    Um also herauszufinden, ob die Benützung eines Fallschirmes eine evidenzbasierte Intervention zur Verhinderung von Tod oder schwerem »gravitationsbedingten« Trauma darstellt, werteten sie die gesamte verfügbare medizinische Literatur nach den höchsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin aus und fanden keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg in Form einer Placebo-kontrollierten, randomisierten Studie, der die Empfehlung eines Fallschirmes bei Absprung aus einem Flugzeug stützen würde! Wir benutzen also beim Sprung aus einem Flugzeug eine »Maßnahme« wie den Fallschirm ohne jede wissenschaftliche Evidenz. Wir sind in diesem Fall offenbar schon allein auf Basis der allgemeinen Erfahrung bereit, den Rucksack mit gut 25 m² Ripstop-Nylon umzuschnallen, um die fatalen Folgen des freien Falls abzuwenden. Mehr noch: Um auf Nummer sicher zu gehen, gibt es auch noch den Reservefallschirm. Alles ohne wissenschaftliche Evidenz.

    Um diese Evidenzlücke zu schließen, führte 15 Jahre später Richard Yeh von der Harvard Medical School mit seinen Mitarbeitern tatsächlich eine randomisierte, kontrollierte Studie durch, welche ebenfalls im British Medical Journal veröffentlicht wurde.

    Von 92 möglichen Teilnehmern wurden schließlich 23 nach Aufklärung und Zustimmung in die Studie aufgenommen und mittels Zufallsgenerator zwei Studiengruppen (jeweils mit und ohne Fallschirm) zugeteilt. Ein ungewöhnliches Unterfangen mit spannendem Ausgang. Das zunächst einigermaßen erstaunliche Ergebnis war, dass – entgegen der auf Lebenserfahrung basierenden Einschätzung – der Gebrauch von Fallschirmen weder Tod noch schwere Verletzung signifikant verringerte. Tatsächlich fand sich überhaupt kein statistischer Unterschied zwischen den beiden Gruppen! Der Fallschirm nutzte rein gar nichts. Wie ist das möglich?

    Um diesem unerwarteten Studienausgang auf die Spur zu kommen, müssen wir, wie in solchen Fällen üblich, das Kleingedruckte hinsichtlich der verwendeten »Methodik« in der Originalpublikation genauer studieren. Und siehe da, es war wieder einmal das Studiendesign, das für den unerwarteten Studienausgang verantwortlich war. Der Höhenunterschied zwischen beiden Studiengruppen betrug im Durchschnitt aufgrund des Absprunges aus einem am Boden stehenden Sportflugzeug bzw. Helikopter lediglich 0,6 Meter! Was sonst, werden Sie sagen, etwas anderes hätte mich bei dieser Versuchsanordnung auch gewundert. Tatsächlich handelt es sich bei beiden genannten Studien um nach den strengsten Kriterien der Evidenzbasierten Medizin angelegte und durchgeführte Studien (ein Systematic Review und eine randomisierte, kontrollierte Studie), die in einer hoch angesehenen medizinischen Fachzeitschrift publiziert wurden. In beiden Fällen sind Sie aber selbst in der Lage, die tiefer liegenden Ursachen für das jeweilige Ergebnis zu durchschauen. In der Realität der durchaus komplexen biomedizinischen Forschung hingegen können das in vielen Fällen auch studierte Naturwissenschaftler und Ärzte oft nur unzureichend. Abgesehen davon, zeigt uns die letztere Studie unter anderem deutlich, was passiert, wenn eine Intervention (Benutzung eines Fallschirmes) an einer Population untersucht wird, die kaum einen Benefit von der Intervention zu erwarten hat (Menschen, die aus 0,6 Metern Höhe abspringen).

    Was ich mit diesen beiden wirklich lesenswerten Publikationen zeigen will, ist, dass die Interpretation von wissenschaftlichen Daten eine durchaus diffizile Sache sein kann und dass das Fehlen von bewiesenem Nutzen und das Fehlen von Nutzen nun einmal nicht das Gleiche sind. Diese Schlussfolgerung soll aber keinesfalls bedeuten, dass wir durch reduktionistische Experimente die Welt und uns nicht doch ein wenig besser verstehen lernen können. Tatsächlich haben wir in den letzten Jahrzehnten viel dazugelernt.

    Einfache Mechanik, lineares und kategorisches Denken können nämlich durchaus hilfreich sein, empirische Einsichten in sehr kleinen Bereichen zu erlangen und diese gegebenenfalls auch auf größere Systeme zu übertragen. Dass es sich aber in vielen Fällen schlussendlich doch gänzlich anders verhält als in der Theorie, zeigen uns die lebensweltlichen Alltagserfahrungen. Sie erfüllen zwar mangels Systematik nicht immer die Forderungen nach Objektivität und Wiederholbarkeit, müssen aber gewissermaßen als subjektive Realität ebenfalls zur Kenntnis genommen werden.

    Wird etwa einem schmerzgeplagten Patienten vom behandelnden Arzt eindringlich mitgeteilt, es gäbe nach allen Untersuchungen nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften keine physiologisch oder anatomisch fassbaren Ursachen für seine Schmerzen und er sollte daher eigentlich schmerzfrei sein, so ändert das nichts an der subjektiven Tatsache, dass der Patient gegebenenfalls immer noch an seinen Schmerzen leidet. Der Fehler liegt in der vereinfachten und nicht zulässigen Annahme, wir wüssten bereits alles über Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. »Wir finden nichts«, ist nicht das Gleiche wie »Sie haben nichts«.

    Auch die in den Lebenswissenschaften alles beherrschende Genetik ist, entgegen den Behauptungen vieler sogenannter »Experten«, alles andere als eine bis in alle Einzelheiten verstandene und zu jedem Zeitpunkt beherrschbare Wissenschaft. Wer behauptet, dass die Freisetzung genetisch manipulierter Pflanzen oder die Manipulation von Erbsubstanz im Allgemeinen (z. B. durch die vielversprechende CRISPR / Cas9-Technologie) »mit Sicherheit keinerlei Gefahren« mit sich bringe, hat die komplexen Eigenschaften der Lebensmoleküle DNA und RNA noch nicht verstanden. Diese Aussage des Verfassers dieser Zeilen, der gewiss kein grundsätzlicher Gegner moderner molekularbiologischer Methoden ist, ist keineswegs fortschrittsfeindlich, sondern fußt in ebendiesen Erkenntnissen der modernen molekulargenetischen Wissenschaft.

    Die wissenschaftlich generierten Erkenntnisse müssen aber frei von finanziellen Interessen, krankhaften Ideologien und dem Geltungsbedürfnis Einzelner offen diskutiert werden. Letztendlich ist das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft von absoluter Transparenz und offener Diskussion abhängig.

    Der bekannte US-amerikanische Evolutionsbiologe, Genetiker, Mathematiker und streitbare Vordenker Richard Lewontin schrieb im Vorwort seines Buches »Biology as Ideology: The doctrine of DNA« über die Wissenschaft im Allgemeinen:

    »Eine einfache und dramatische Theorie, die alles erklärt, sorgt für eine gute Presse, gutes Radio, gutes Fernsehen und Buch-Bestseller. Jeder mit akademischer Autorität, einem halbwegs anständigen Schreibstil und einer einfachen und kraftvollen Idee hat einen leichten Zugang zum öffentlichen Bewusstsein.

    Wenn aber die Botschaft lautet, dass die Dinge kompliziert, unsicher und chaotisch sind, dass keine einfache Regel oder Kraft die Vergangenheit erklären und die Zukunft der menschlichen Existenz vorhersagen kann, gibt es erheblich weniger Möglichkeiten, diese Botschaft zu vermitteln. Differenzierte Behauptungen über die Komplexität des Lebens und unsere Unkenntnis seiner Determinanten eignen sich nicht für das Showbusiness

    Das, liebe Leser, ist Kritik von einem Biologen, der seine Polemik durch ein beachtliches Lebenswerk hoch angesehener Forschung untermauern kann. Die differenzierte Vermittlung der komplexen Lebensrealität eignet sich nun einmal nicht für sensationelle Überschriften in unserer schnellen Medienwelt mit zunehmend kürzer werdender Aufmerksamkeitsspanne des Durchschnittskonsumenten. Auch einfache Antworten auf all unsere Fragen hinsichtlich Gesundheit, Krankheit und das Leben im Allgemeinen werden angesichts dieser Komplexität nicht ohne Weiteres möglich sein.

    Wir werden aber dennoch sehen, dass trotz dieser unglaublichen Komplexität die Lösung für viele unserer großen Probleme »prinzipiell« ziemlich einfach wäre, ja geradezu auf der Hand liegt. Die Antworten finden wir vor allem durch Beobachtung der natürlichen Prozesse aller lebenden Ökosysteme und ihrer Bewohner.

    Der Fehlschluss des »naturalistischen Fehlschlusses«

    Bevor ich mit meinen Ausführungen ins Detail gehe, möchte ich noch ein paar wesentliche Punkte ansprechen und versuchen, diese zu klären, um wenig fruchtbringende Diskussionen von vornherein zu minimieren bzw. um ein paar Ausgangspunkte zu definieren, welche gewissermaßen als gemeinsame Diskussionsbasis dienen sollen.

    Allzu gerne greifen sich manche – von tief verwurzelten »Wahrheiten« und undifferenziertem Fortschrittsglauben getriebene – »Kritiker« einzelne, zum Teil aus Platzmangel nur unscharf erläuterte Punkte heraus, um auf Basis ihrer Kritik zu ebendiesen Punkten dem Gesamtwerk oder gar dem Verfasser jegliche Redlichkeit und wissenschaftliche Qualifikation abzusprechen. Gerade Letzteres erfreut sich in unserer Zeit, erleichtert durch soziale Netzwerke und die damit verbundene Anonymität oder durch mehr oder weniger objektive, aber ebenso anonyme Wikipedia-Einträge, immer größerer Beliebtheit. Die durch derartige, auf Neusprech »Trolle« genannten, Unruhestifter verbreiteten Halbwahrheiten, einseitigen Sichtweisen und ad personam-Anfeindungen stellen ein ernst zu nehmendes Problem für eine demokratisch organisierte Gesellschaft, ihre Freiheit zur differenzierten Meinungsäußerung und damit schlussendlich unsere Zukunft dar.

    Nachdem ich in meinem letzten Buch darlegte, warum synthetische Pestizide als überwiegend negativ für die menschliche Gesundheit und die Biodiversität von Ökosystemen zu bewerten sind, löste das offenbar bei einem (der erstaunlicherweise wenigen) Kritiker eine aggressive und undifferenzierte Hasstirade aus. Dieser Kritiker fühlte sich bemüßigt, mir jegliche Wissenschaftlichkeit angesichts dieser Behauptung abzusprechen, mich des »naturalistischen Fehlschlusses« zu bezichtigen und verstieg sich sogar dazu, seine emotionalen Ergüsse der Jury für das Wissenschaftsbuch des Jahres mitzuteilen, welches ebendieses Buch kurz zuvor als Wissenschaftsbuch des Jahres würdigte.

    Der Vorwurf lautete, ich säße dem, wie er es nannte, »naturalistischen Fehlschluss« auf, dass alles, was aus der Natur komme, gut sein müsse, wohingegen alles, was künstlich wäre, schlecht und giftig sein müsse. Meine negative Einschätzung von Pestiziden und überhaupt das gesamte Buch seien fortschritts- und wissenschaftsfeindlich. Das, obwohl das Buch gänzlich auf den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen fußte und mit unzähligen Verweisen zu den einschlägigen Studien versehen ist. Ich war zunächst beinahe sprachlos. Bin ich tatsächlich irgendeinem »naturalistischen Fehlschluss« unterlegen?

    Der auf den englischen Philosophen George Edward Moore (1873–1958) und sein Werk »Principia ethica« zurückgehende Begriff des naturalistischen Fehlschlusses (auch »Sein-Sollen-Fehlschluss« genannt) spricht im Grunde ein wissenschaftsethisches bzw. philosophisches Problem an, nämlich den irrtümlichen Versuch, nur aus der »Natur« der Dinge abzuleiten, wie diese sein sollten, und ihnen damit einen moralischen Wert zu unterstellen. Das ist dann doch etwas ganz anderes und zeigt, wie es um das wissenschaftstheoretische Verständnis derartiger Kritiker bestellt ist. Bei ausführlicher Beschäftigung mit den Aussagen manch selbst ernannter »Skeptiker« drängt sich einem das Bild von einer unerschütterlichen Fortschrittsgläubigkeit auf, das alles Althergebrachte, Bewährte und auf menschlichen Erfahrungen Beruhende ablehnt, selbst wenn diese den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen.

    Da es im vorliegenden Buch in weiten Teilen wieder um neueste Erkenntnisse und Fortschritte (!) aus dem Bereich der Lebenswissenschaften, allen voran der Biologie und Medizin, geht, möchte ich an dieser Stelle noch ein paar Worte zu dem von mir lieber als »naturalistische Fehlannahmen« bezeichneten und tatsächlich weitverbreiteten Phänomen verlieren.

    In der Tat verhält es sich so, dass viele Menschen, vor allem Laien, aber auch durchaus naturwissenschaftlich geprägte Akademiker, basierend auf einer gewissen Idealvorstellung von der »Natur«, der Fehlannahme aufsitzen, alles, was aus der Natur käme, sei gut und erstrebenswert, hingegen alles »Künstliche«, insbesondere Errungenschaften unseres Fortschrittes, wie chemisch-pharmazeutische Verbindungen, seien schlecht und daher rigoros abzulehnen. Diese Ansicht wurde mir auch immer wieder in Gesprächen mit Patienten vermittelt, die als überzeugte Anhänger von Naturheilverfahren und Alternativmedizin jegliche »schulmedizinische« Intervention ablehnten. Diese Sichtweise und die zugrunde liegende Argumentation ist zwar subjektiv in vielen Fällen verständlich, kann aber, was die Gesundheit betrifft, durchaus problematisch sein, fußen sie doch häufig auf eklatanten Fehlannahmen und einer simplen wie dichotomen Weltanschauung, wonach etwas entweder »gut« sei, vor allem wenn es aus der »Natur« stammt, oder eben »schlecht« sei, weil es synthetischen Ursprunges ist. Tatsächlich aber hat uns der medizinische und pharmakologische Fortschritt zahlreiche Segnungen beschert, ohne deren Wirksamkeit (natürlich inklusive in Kauf zu nehmender unerwünschter Wirkungen) einige von uns nicht mehr am Leben wären. Eine äußerst vernünftige und zukunftsweisende Form der ärztlichen Heilkunst ist die sogenannte Integrative Medizin. Sie verbindet konventionelle Medizin und wissenschaftlich erforschte komplementärmedizinische Verfahren zu einem sinnvollen Gesamtkonzept, um die individuell beste Therapie für Patienten zu finden und gleichzeitig Nebenwirkungen so weit wie möglich zu reduzieren.

    Selbst zahlreiche Eigenschaften unseres Körpers sind per se nicht als optimal und daher gut einzustufen. Sie stellen, wie ich noch erläutern werde, in vielen Fällen Kompromisslösungen dar, die ihre Ursache in unserer evolutionären Vergangenheit haben. Wir sind nicht zwingend für Gesundheit und Langlebigkeit konzipiert, auch wenn das manche glauben. Diese Fehlansicht aufzulösen, ist eine entscheidende Grundvoraussetzung zum tieferen Verständnis der später zu besprechenden Inhalte. Nur weil also etwas in der Natur existiert, heißt das noch lange nicht, dass es notwendigerweise gesund oder erstrebenswert für uns Menschen sein muss. Das ist eigentlich recht einleuchtend, denn die Natur ist immerhin auch voller Giftschlangen, krankheitsübertragender Zecken, tödlicher Infektionserreger und giftiger Pflanzen. Auch Erdöl, Schwermetalle und radioaktive Isotope entstammen schließlich der Natur.

    Allerdings ist die Annahme, dass etwas, das der Natur entspringt, auch gut für uns sei, nur bis zu einem gewissen Grad als Fehlannahme zu werten. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich mit unserer Biologie oder der anderer Lebewesen in Einklang bringen lässt, ist um ein Vielfaches größer als etwas, das nicht der Natur entstammt oder nicht mit ihren Prinzipien in Einklang steht. Auch hierfür liegt die Ursache wiederum in der Evolution, genauer gesagt in der Koevolution der Organismen. Die natürliche Verflechtung komplexer, seit Jahrmillionen gemeinsam entstandener Lebensformen, Prozesse und Gegebenheiten zu verleugnen, müsste man daher, analog zu dem an sich schon fehlerhaften Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses, wohl am ehesten als einen »naturalistischen Fehlschluss-Fehlschluss« bezeichnen.

    Pflanzliche Ernährung: einfach gesund?

    Wie wir sehen werden, sind reduktionistische Ansichten vollkommen unzulänglich, wenn es zum Beispiel um die Frage geht, welche Nahrungsmittel denn nun eindeutig gesund und daher für den menschlichen Verzehr bestimmt seien. Tatsächlich ist die einzige Nahrungsquelle, die für den Menschen praktisch a priori durch den Evolutionsprozess optimiert wurde, die menschliche Muttermilch. Alle anderen Bestandteile unserer täglichen Nahrung wurden nie einem derartig rigorosen »Optimierungsprozess« unterzogen.

    Nehmen wir einmal die Pflanzen, welche einen ganz wesentlichen Anteil an unserer Ernährung haben und immer schon hatten. Sie sind gänzlich eigenständige Lebewesen, mit ihren ureigenen »Interessen«. Sie haben sich im Laufe ihrer mehrere Hundert Millionen Jahre andauernden Evolution unzählige Mechanismen angeeignet, die sie vor Krankheitserregern, Parasiten und Fressfeinden schützen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, die sich durch den tierischen Verzehr ihrer Früchte verbreiten und daher auch einen Vorteil haben, gefressen zu werden, schützen sich die meisten Pflanzen davor, tierischen oder mikrobiellen Fressfeinden zum Opfer zu fallen, indem sie chemische Verbindungen synthetisieren und einlagern. Dies können wir im besten Fall entweder durch ihren bitteren oder unangenehmen Geschmack oder im schlimmsten Fall durch gesundheitliche Probleme nach deren Verzehr am eigenen Leib feststellen. Dazwischen ist das Spektrum für die menschliche Gesundheit relativ groß. So enthalten etwa ungekochte grüne Bohnen, wie Busch- oder Feuerbohnen, eine giftige Eiweißverbindung (Lektin) – das sogenannte Phasin. Bereits ab einer relativ geringen Verzehrmenge können Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall die Folge sein. Bei Kleinkindern reichen aufgrund ihres geringeren Körpergewichtes schon fünf bis sechs rohe Bohnen, um unangenehme Symptome hervorzurufen. Kommt es zum Verzehr größerer Mengen, sind tödliche Vergiftungen nicht auszuschließen.

    Und dennoch können wir Hülsenfrüchte wie Bohnen, insbesondere wegen ihres die Darmgesundheit fördernden Ballaststoffgehaltes und als Quelle für hochwertiges pflanzliches Eiweiß, als gesunde Lebensmittel bezeichnen – vorausgesetzt, die Bohnen werden mindestens zehn Minuten gekocht, wodurch das Protein Phasin weitgehend zerstört wird. Andere Hülsenfrüchte wie Linsen oder Kichererbsen enthalten ebenfalls giftige Lektine, die erst durch Einweichen und gründliches Kochen unschädlich gemacht werden. In Hülsenfrüchten sind zudem sogenannte Proteaseinhibitoren enthalten, die unsere körpereigenen Enzyme daran hindern, Proteine zu spalten, wodurch deren Abbau blockiert wird.

    Yamswurzeln und Bataten, die Lebensgrundlage vieler Menschen auf der Erde, können ebenfalls nicht roh gegessen werden, da sie beträchtliche Mengen an Blausäure enthalten, die erst durch mehrfaches Abgießen des Kochwassers verschwindet. Spinat enthält (ebenso wie Rhabarber) Oxalsäure, die ebenfalls zu der Gruppe der Antinutritiva zählt und, im Übermaß genossen, zur Bildung von Nierensteinen führen kann. Antinutritiva (auch Antinährstoffe) tragen, wie der Name schon sagt, nichts zur Nährstoffversorgung des Körpers bei, sondern verhindern sogar deren Aufnahme im Darm. Nach der richtigen Zubereitung durch Kochen oder Dämpfen gehen aber 50–80 Prozent der Oxalsäure verloren und Spinat (vor allem junger) wird zu einem gut verträglichen und gesunden Lebensmittel.

    Nachtschattengewächse wie Kartoffeln, Auberginen (Melanzani) und Tomaten enthalten das Alkaloid Solanin, welches insbesondere bei grünen Früchten nach Rohverzehr Durchfall, Krämpfe, Erbrechen oder auch Sehstörungen auslösen kann. Weisen Zucchini oder Kürbisse einen stark bitteren Geschmack auf, ist das ein Hinweis darauf, dass sie Spuren des hitzebeständigen Giftes Cucurbitacin enthalten.

    Mais, der in Mittelamerika seit mehr als 5000 Jahren als Kulturpflanze ein vollwertiges Hauptnahrungsmittel darstellt, enthält viele wertvolle Bestandteile. Allerdings kann durch einen beständig hohen Konsum von Mais ein Mangel an Nicotinsäure (auch Niacin oder Vitamin B3) entstehen. Das damit verbundene schwere Krankheitsbild heißt Pellagra und ist durch die Symptome Durchfall, Hauterkrankungen und Demenz gekennzeichnet. Die Indianer Mittelamerikas erkannten bereits, dass sie den Mais einem speziellen Prozess, der sich Nixtamalisation nennt, unterziehen müssen, um sich vor diesen unerwünschten Folgen zu schützen. Was sie nicht wussten, ist, dass das im Mais enthaltene Niacytin, das durch Phytinsäure gebundenes und dadurch vom menschlichen Körper nicht verwertbares Niacin darstellt, für diese Folgen verantwortlich zeichnet. Wie auch immer sie es anstellten, sie fanden irgendwann heraus, dass sie die ungemahlenen Maiskörner stundenlang in Wasser mit gelöschtem Kalk oder Holzasche kochen und über Nacht einweichen mussten, um ihr Grundnahrungsmittel langfristig bekömmlich zu machen. Heute wissen wir, dass durch den Prozess der Nixtamalisation das enthaltene Niacytin in verwertbares Vitamin B3 umgewandelt wird. Es handelt sich damit um eine der wichtigsten Erfindungen der mesoamerikanischen Zivilisation, ohne die ihre Entwicklung zur Hochkultur vermutlich nicht möglich gewesen wäre.

    Sie sehen also, dass Kategorien wie »gut« oder »schlecht« im Zusammenhang mit unserer Ernährung nicht hilfreich sind, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise notwendig ist. Bei den oben genannten Pflanzen bzw. deren Früchten oder Wurzelknollen handelt es sich nämlich tatsächlich um durchaus gesunde Lebensmittel – die richtige Zubereitungsform vorausgesetzt.

    Es sind unsere kulturellen Errungenschaften wie das Kochen, die viele Lebensmittel erst genießbar und dadurch zu dem machen, wofür wir sie schätzen. Die Liste an pflanzlichen Lebensmitteln, die erst nach einem entsprechenden Behandlungsprozess ihre unangenehmen Eigenschaften verlieren, ist lang.

    Im Endeffekt ist keine einzige Pflanze primär für den menschlichen Verzehr bestimmt, auch wenn wir viele ohne besondere Nebenwirkungen verspeisen können. Freilich hat der Mensch über einen längeren Zeitraum, mindestens jedoch seit Anbeginn der Landwirtschaft vor etwa 10 000 Jahren, auch durch künstliche Zuchtwahl Pflanzensorten herausgezüchtet, die, im Unterschied zu den ursprünglichen Wildformen, erheblich weniger dieser Abwehrstoffe enthalten und daher einerseits »besser« schmecken und zum Teil verträglicher sind, andererseits manche für unsere Gesundheit sehr zuträglichen Bitterstoffe und sekundären Pflanzeninhaltsstoffe verloren haben. So wurde das erwähnte Gift Cucurbitacin durch entsprechende Züchtung aus Zucchini und Kürbis herausgezüchtet. Durch besondere Kreuzungen kann es aber immer wieder vorkommen, dass es sich spontan bildet. Der bittere Geschmack verrät es und sollte uns vom Verzehr abhalten.

    Auf der anderen Seite sind Bitterstoffe in Pflanzen (beispielsweise im Chicorée oder in Grapefruits) aber auch ein Hinweis auf deren Gehalt an Antioxidantien. Auch für die Produktion von Galle und eine funktionierende Verdauung scheinen pflanzliche Bitterstoffe eine wichtige Rolle zu spielen. In diesem Zusammenhang ist es also durchaus problematisch, dass über viele Jahrzehnte die Bitterstoffe aus unserer Nahrung zu einem großen Teil herausgezüchtet wurden, um sie geschmacklich »attraktiver« zu machen.

    Selbst unsere Geschmacks- und Geruchswahrnehmung hat sich im Laufe der Evolution entwickelt, gut bewährt und verfeinert, da wir mithilfe unserer Sinne potenziell unverträgliche Pflanzen besser erkennen und daher meiden können. Wir sehen also, dass selbst eine pflanzenbasierte Ernährung nicht primär oder automatisch als gesund einzustufen ist, nur weil die Pflanzen »der Natur entstammen«.

    Es wäre daher tatsächlich eine (naturalistische) Fehlannahme, dass alles »Natürliche« von vornherein gut für den Menschen sei. Wir haben es zu dem gemacht, was es ist, und im Zuge der Menschwerdung durch unsere Beobachtungsgabe und unserem im Tierreich einzigartigen Erfindungsreichtum geschafft, die vielfältigen Ressourcen der Natur für uns immer besser zu nützen. Auch wenn das so von vornherein von den Pflanzen gewissermaßen »nicht vorgesehen war«. Auf den ersten Blick einigermaßen erstaunlich ist daher der Umstand, dass viele dieser sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, obwohl eigentlich gar nicht für uns bestimmt, zahlreiche gesundheitsförderliche Aspekte aufweisen, auf die ich später zurückkommen werde.

    Dem Konzept und Verständnis von weder gut noch schlecht werden wir im Laufe dieses Buches noch öfters begegnen, liegt darin doch ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis unserer gegenwärtigen Probleme, seien diese nun gesundheitlicher, ökologischer oder gesellschaftlicher Natur. Dies betrifft das Molekül Sauerstoff in Bezug auf unsere Gesundheit genauso wie die Rolle von Mikroorganismen oder moderne medizinische Maßnahmen. Betrachtet man alle diese Punkte nur isoliert aus einem engen Blickwinkel oder generalisiert von einem Einzelfall auf das große Ganze, ergibt sich rasch eine fehlerhafte Annahme bezüglich gut oder schlecht bzw. nützlich oder schädlich. Aber so einfach ist es nicht. Leider.

    Sauerstoff und freie Radikale

    Nehmen wir das Beispiel der sogenannten freien Radikale. Das sind verschiedene Formen von reaktionsfreudigen Sauerstoffmolekülen, die mit den biochemischen Komponenten unserer Zellen eine zum Teil heftige und unerwünschte Reaktion eingehen. Freie Radikale und der mit ihnen verbundene »oxidative Stress« sind verantwortlich für akute wie chronische Entzündungsvorgänge, viele Krankheitsprozesse und den Prozess des Alterns ganz allgemein. Freie Radikale fallen aber auch unter normalen Bedingungen in den Mitochondrien (das sind die Zellkraftwerke) unserer Zellen im Rahmen der Energieproduktion permanent an und werden von unseren körpereigenen antioxidativen Molekülen abgefangen und weitgehend unschädlich gemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach geht die evolutionäre Entstehung von antioxidativen Abwehrsystemen auf einen Zeitpunkt vor über zwei Milliarden Jahren zurück, als die Vorläufer der heutigen Cyanobakterien durch Photosynthese für eine recht hohe, für viele damalige Lebewesen toxische Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre sorgten. Dieses sehr lange zurückliegende Phänomen wird in der Wissenschaft als die »Große Sauerstoffkatastrophe« bezeichnet und machte die Entwicklung antioxidativer zellulärer Systeme zu einer Lebensnotwendigkeit für Organismen. So schützen sich unsere Körperzellen vor übermäßiger Oxidation und der damit einhergehenden Schädigung von Proteinen, Lipiden und DNA durch endogene Enzyme wie Superoxiddismutase, Katalase oder Glutathion-Peroxidase. Vor allem auf Ebene unserer Erbsubstanz (DNA) können freie Radikale zu Strangbrüchen und Basenfehlpaarungen führen. Ein übermäßiger oxidativer Stress findet sich zudem bei fast allen chronischen Krankheiten, die mit einer chronischen Entzündung einhergehen, von Arteriosklerose über Diabetes, Alzheimer-Erkrankung, Parkinson-Erkrankung bis hin zu chronischer Polyarthritis.

    Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass freie Radikale auch eine bedeutende positive Rolle in unserem Zellstoffwechsel aufweisen. Zum einen produzieren spezielle weiße Blutkörperchen diese aggressiven freien Radikale, um mit ihrer Hilfe eingedrungene Bakterien abzutöten, andererseits dürften sie in gewissen Konzentrationen auch notwendig für regulative Vorgänge in unserem Körper sein. Den meisten von uns ist der aggressive Prozess der Oxidation von rostenden Autoteilen (langsam) bis hin zu heftigen Explosionen (schnell) bekannt.

    Zu den gesundheitsprotektiven Antioxidantien zählen auch verschiedene über Pflanzennahrung aufgenommene Verbindungen wie Carotinoide, Vitamin C, Vitamin E und Polyphenole wie das Resveratrol. Was läge also näher, als sich diese Substanzen in Form von konzentrierten Nahrungsergänzungsmitteln regelmäßig zuzuführen?

    Der Frage, ob durch die Einnahme von Antioxidantien wie Vitamin A und E auch chronische Krankheiten oder sogar Krebs verhindert werden könnten, widmeten sich bereits einige groß angelegte Studien. Sie kamen zu einem verblüffenden Ergebnis: Die Einnahme von Vitamin-A- oder Vitamin-E-Kapseln scheint nicht nur keinerlei verhindernden Effekt auf die Entstehung von Krankheiten wie Krebs zu haben, sondern ganz im Gegenteil. Es zeigte sich, dass die Einnahme von Antioxidantien in Kapselform das Krebsrisiko (insbesondere bei Rauchern) und die Mortalität aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse sogar erhöhen dürfte.

    Eine Studie, die die Wirkung von alpha-Tocopherol-(Vit. E)- und beta-Carotin (Provitamin A)-Supplementierung auf die Inzidenz von Schlaganfällen bei Rauchern untersuchte, führte zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich das Risiko, an einer Hirnblutung zu sterben, um sage und schreibe 181 Prozent erhöhte, also beinahe verdreifachte!¹⁰

    Eine andere Studie untersuchte die Einnahme von antioxidativen Supplementen bei Sportlern. Bei intensiven und belastenden Sportarten kommt es in den Zellen zu einer vermehrten Bildung freier Radikale und man wollte herausfinden, ob sich durch die Gabe von Antioxidantien der Trainingseffekt steuern, sprich verbessern ließe. Auch hier war das Ergebnis wieder einigermaßen unerwartet und widersprach der Grundannahme: Jene Probanden, die Antioxidantien einnahmen, hatten einen schlechteren Trainingseffekt als diejenigen der Kontrollgruppe ohne zusätzliche Antioxidantien.¹¹

    Die Ursache hierfür, so vermuten die Forscher, dürfte in der Tatsache begründet sein, dass die Bildung einer gewissen Menge freier Radikale sogar notwendig ist, um entsprechende Trainingseffekte im Körper auszulösen. Das dahinterstehende Konzept nennt sich Mitohormesis und besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass ein gewisses Maß an schädigenden Substanzen (wie Sauerstoffradikale) in den Körperzellen notwendig ist, um positive, adaptive Effekte auslösen zu können. Sportliche Bewegung und Kalorienreduktion wirken also offenbar als leichte, aber im Endeffekt gesundheitsförderliche Stressfaktoren, die eine geringe Produktion von reaktiven Sauerstoffverbindungen begünstigen. Bei einer Ernährung mit antioxidantienreichen Lebensmitteln (v.a. Gemüse und Nüsse) entstehen dabei keinerlei Nachteile.

    Während also mittlerweile klar ist, dass große Mengen reaktiver Sauerstoffverbindungen schwere Zellschäden verursachen und das Altern fördern, können niedrige Werte hingegen die systemischen Schutzmechanismen verbessern, indem sie eine adaptive Reaktion auslösen. Die Realität scheint also wieder komplexer zu sein, als erwartet und »gut« oder »schlecht« ist auch hier die falsche Betrachtungsweise. Die Einnahme von Antioxidantien, wie beispielsweise Vitamin A und E, als teure Nahrungsergänzungsmittel ist also im besten Fall sinnlos und produziert einen teuren Urin, da sie der Körper nicht aufnimmt, oder ist im schlechtesten Fall sogar gesundheitsschädlich. Werden antioxidative Moleküle hingegen in natürlicher Form kontinuierlich mit der Nahrung, vor allem durch buntes Gemüse, Beeren, Obst und Nüsse, aufgenommen, dürften sie, nach allem, was wir bisher wissen, einen gesundheitsprotektiven, prophylaktischen Effekt aufweisen.¹²

    Noch deutlicher werden diese auf den ersten Blick gegensätzlichen oder gar widersprüchlichen Funktionsweisen komplexer Systeme (wie z.B. bei unserem Organismus), wenn wir später einen kurzen Streifzug durch die interessante Disziplin der evolutionären Medizin unternehmen.

    Vielem von dem, was wir im beständigen bunten Medienstrom vorgesetzt bekommen, sollten wir also durchaus mit einem gewissen Maß an begründeter Skepsis begegnen. Manche geäußerten Ansichten und Erklärungsmodelle scheinen auf den ersten Blick zwar einleuchtend, beruhen aber bei genauerem Hinsehen auf stark vereinfachten, wenig nachvollziehbaren Erklärungen oder haben schlicht gar keine Substanz.

    Je mehr Basis- und Hintergrundwissen wir uns zu einem Thema aneignen, desto einfacher gelingt eine differenzierte und unaufgeregte Zuordnung der uns täglich vorgesetzten Inhalte. Dabei ist es aber auch gerechtfertigt, dass wir im Laufe der Zeit unsere Meinungen zu gewissen Themen ändern oder schlicht zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir die Antwort auf viele Phänomene und Fragen derzeit (noch) nicht kennen.

    Es gibt allerdings einen kleinen, aber

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