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Die Harry Brown Liste: Koslowskis 2.Fall
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Die Harry Brown Liste: Koslowskis 2.Fall
eBook311 Seiten3 Stunden

Die Harry Brown Liste: Koslowskis 2.Fall

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Über dieses E-Book

Rechtsanwalt Dr. Bommer kommt bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Er arbeitete für eine arabische Großfamilie, die verschiedensten Geschäften nachgeht. Nasser Al-Sharif, Clanchef der Familie, glaubt nicht an einen Unfall. Bommers Aktentasche mit wichtigen Papieren ist bei dem Unfall verschwunden. Er fordert von Hauptkommissar S.H.Koslowski eine alte Schuld und soll herausbekommen, wer hinter dem vermeintlichen Unfall steckt. Das Geschäft ist hart, die Konkurenz groß. Albaner, Russen, andere arabische Clans. Koslowskis Neugier ist geweckt. Doch schnell vermutet er einen anderen Hintergrund. Wenig später gibt es den nächsten Toten. Koslowski bleibt nicht viel Zeit, einen Bandenkrieg in Berlin zu verhindern.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Aug. 2020
ISBN9783752986815
Die Harry Brown Liste: Koslowskis 2.Fall

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    Buchvorschau

    Die Harry Brown Liste - J. U. Gowski

    1.

    Das Ende des Spätherbstes kündigte sich an. Das Wetter seit Tagen grau, kalt und nass. Der späte Abend kam mit schweren Wolken und mit ihnen kamen Regen und Dunkelheit. Die Landstraße lag verlassen da. Sie wurde nur noch selten befahren, seitdem es die neue Schnellstraße gab. Ein Mann stand seitlich an der Straße unter einem Baum und hörte den Wind, wie er sich in den alten Alleebäumen verfing, um die letzten Blätter mitzunehmen. Das braune Laub auf der Straße alt, nass und rutschig. Er hatte noch etwas Zeit, bevor der hellblaue BMW kommen würde. Ein E9 Coupe, ein Klassiker von 1973, wie er sich schlaugemacht hatte. Immer dieselbe Zeit, immer dieselbe Strecke. Kalter Regen lief ihm in den Halskragen. Es störte ihn nicht. Er lächelte vor sich hin und sah auf die Displayanzeige seines Handys. Er wartete. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. In ein paar Minuten würde das kleine Auto der drallen Angestellten von der Sparkasse hier durchfahren.

    Sie kam immer um dieselbe Zeit von ihrer Mutter, einer reizenden alten Dame mit Vorliebe für sorgfältig frisiertes blau-weißes Haar. Seinen Wagen hatte er tief in dem kleinen Waldweg geparkt, über seine Schuhe Plastiktüten gestülpt und fest mit Isolierband umwickelt. Er wollte keine eindeutigen Spuren hinterlassen. Der Regen würde das übrige tun.

    So harrte er still im Dunkel der Bäume aus.

    Es vergingen zehn Minuten, bis der kleine rote VW Polo vorbeifuhr.

    Erneut schaute er auf die Zeitanzeige seines Handys. Pünktlich wie immer. Es blieben ihm noch ca. zwölf bis fünfzehn Minuten. Die würde er nicht brauchen. Alles war vorbereitet. Er lief vor, dahin wo sich die Landstraße zu einer Rechtskurve bog und fing an, die Reflektoren an den Bäumen mit schwarzer Folie abzukleben, kurz vor der Kurve auf der linken Straßenseite. Nachdem er damit fertig war, nahm er das bereitgelegte dünne Stahlseil, an dem in gleichmäßigen Abständen Reflektoren angebracht waren und die kleine Seilwinde. Er zog das Seil von der rechten Straßenseite schräg über die Straße zu den Bäumen, die er gerade abgeklebt hatte. Dann schlang er es in der richtigen Höhe um den Baum und spannte es mithilfe der kleinen Winde.  Aus der Rechtskurve wurde eine gerade Strecke, an deren Ende ein knorriger Alleebaum stand. Er hoffte, der alte Baum würde den Crash überleben. Der Fahrer nicht. Aber da war er sich auch sicher, bei dem rasanten Tempo, mit dem der Fahrer diese Strecke immer befuhr. Ein tragischer Unfall und leicht erklärbar.

    Überhöhte Geschwindigkeit, für dieses Wetter nicht angepasste Fahrweise.

    Man konnte es sich aussuchen. Wieder ein leichtsinniger Fahrer, der seine Raserei mit dem Leben bezahlte. Ein Fall für die Verkehrsstatistik, mehr nicht. Der Regen wurde stärker. Er legte seinen Kopf in den Nacken und ließ den Regen auf sein Gesicht prasseln.

    Dr. Bommer kam aus der Dusche, wo er sich die Spuren seines erotischen Abenteuers abgewaschen hatte und zog sich an. Seine Frau wusste zwar von dem Verhältnis, aber er musste ja nicht ihre Nase darauf stoßen, von wo er kam. Das gebot schon die Höflichkeit. Den Gedanken mit der Nase fand er witzig. Er kicherte.

    Fertig angezogen betrat er das Schlafzimmer, beugte sich über die junge Frau im Bett und gab ihr einen sanften Kuss auf die vollen Lippen. Sie rekelte sich auf dem Laken. Dann hob sie ihren dunklen Lockenkopf und sah auf die kleine Uhr, die neben dem Bett stand. »Musst du wirklich schon los?«, fragte sie schmollend.

    »Du musst nicht immer fragen, obwohl du es doch genau weißt.«, wies er seine Geliebte in einem streng väterlichen Tonfall zurecht.

    »Ja, pünktlich zu deiner Frau.«

    »Richtig!«

    »Wann verlässt du sie endlich?«, fragte sie mit immer noch schmollendem Gesicht.

    »Darüber haben wir auch  schon gesprochen. Ich werde sie nicht verlassen.« Er sah sie eisig an. Da verstand er keinen Spaß. Etwas milder fuhr er fort: »Spiel nicht die Rolle der zurückgesetzten Geliebten. Sie passt nicht zu dir und ist auf Dauer auch ermüdend. Ich weiss, dass ich kein Adonis bin und mein Intellekt interessiert dich nicht. Es ist nur ein Arrangement, von dem wir beide etwas haben. Ich das Vergnügen und du den Luxus, den ich dir finanziere. Ich nehme an, dein Liebhaber profitiert auch davon.« Erschrocken riss sie ihre dezent geschminkten Augen auf. Jetzt macht sie wieder auf scheues Reh, dachte er. Naiv, Schmollmund, große erstaunte Augen. Wenn er es nicht besser wüsste. Sie konnte Männer schon um den Finger wickeln. Ihn nicht. Ihre Schauspielkunst reichte einfach nicht aus, um ihn ernsthaft zu täuschen. Sie amüsierte ihn eher. Er war einfach zu misstrauisch und hatte eine gesunde Selbsteinschätzung, was seine körperlichen Vorzüge betraf.

    Besser gesagt, wusste er von den nicht vorhandenen. Ihm stand keine Eitelkeit, in welcher Form auch immer im Wege. Er bemitleidete die alten Schwachköpfe, ihren absurden Kampf gegen das Alter bis zur Lächerlichkeit. Wie sie ihre wenigen Haare fein säuberlich von weit hinten oder von weit unten von der Seite über ihre Glatze kämmten und dann mit viel Pomade haltbar machten. Bei jedem Windstoß sah es aus, als ob sich ein Klodeckel hob.

    »Ich sagte ja, mein Intellekt interessiert dich nicht sonderlich. Was schade, doch nicht zu ändern ist.« Er lächelte sie kalt an. Dann ging er zu dem Sessel, auf dem er seine braune Aktentasche abgelegt hatte, griff sie und schritt zur Zimmertür.

    Dort drehte er sich noch einmal um. Sie sah ihn immer noch verunsichert an. Er warf ihr spielerisch eine Kusshand zu, lächelte und sagte: »Bis nächste Woche.« Dann verschwand er durch die Tür. Sie blieb noch ein paar Sekunden im Bett liegen, bevor sie aufsprang und sich den Morgenmantel überwarf.

    Leise, auf Zehenspitzen lief sie zum Fenster, stellte sich daneben und schob leicht die Gardine zur Seite. Vorsichtig linste sie nach draußen.

    Es regnete heftig. Er hielt die Aktentasche als Regenschutz über den Kopf. Sie hörte ihn laut fluchen, als er die Wagentür von seinem alten hellblauen BMW nicht gleich aufbekam. Dann stieg er ein und fuhr los.

    Sie blieb noch einen kurzen Moment neben dem Fenster stehen, dann ging sie ins Wohnzimmer und griff das Handy vom Couchtisch. Sie wählte eine Nummer. Nach einem kurzen Moment wurde am anderen Ende abgenommen. »Er ist losgefahren.«, sagte sie leise. Sie wusste in dem Moment selber nicht, warum sie flüsterte. Als ob sie befürchtete, er könnte sie noch in seinem Auto hören. Sie schüttelte darüber den Kopf. »Und er weiß über uns Bescheid, wie du schon vermutet hast.«, sprach sie lauter ins Telefon, während sie nervös über ihre sorgfältig gezupfte Augenbraue strich.

    Der Mann stand verdeckt unter den Bäumen am Straßenrand. Er steckte das Handy in die Manteltasche. Das Display hatte 21.00 Uhr gezeigt. Es war inzwischen stockdunkel. Der Himmel schüttete sein Nass mit wütender Heftigkeit. Er war durchnässt und fror. Doch die Anspannung ließ ihn nicht daran denken. Er holte die Handschuhe aus der anderen Manteltasche und zog sie über. Es konnte nicht mehr lange dauern.

    Weit vorn in der Kurve, tasteten zwei Lichtkegel die dunklen Umrisse des Waldes ab. Sie verschwanden kurz darauf in der Senke, unweit des letzten geraden Teilstücks der Straße. Er machte sich bereit. Das musste er sein. Der Mann lief vor zur Kurve, stellte sich dort in die Dunkelheit der Bäume. Er wollte bereit sein, und wenn nötig, sofort zur Stelle.

    Denn falls es nicht so lief, wie er es sich gedacht hatte, würde Plan B zur Ausführung kommen.

    Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. Es goss wie aus Eimern.

    Zum Glück kannte er die Strecke, wusste, um die Zeit würde er allein auf der Straße sein. Es waren nur ein paar Kilometer bis Berlin. Eigentlich sollte er noch die Papiere abgeben, die er in seiner Aktentasche hatte, aber das konnte warten. Morgen ginge es sicher auch noch. Er würde Nasser Al-Sharif einfach von zu Hause anrufen und sich eine Ausrede einfallen lassen.

    Er gab Gas. Der Tacho sprang schnell auf 130. Er hatte den Klassiksender eingestellt und war gerade dabei das Radio lauter zu drehen. Es lief ein Klavierstück von Franz Schubert. Plötzlich merkte er, dass mit der Straße etwas nicht stimmte. Irgendwas schien anders zu sein. Die Erkenntnis, und sein Versuch zu bremsen, kamen zu spät. Bruchteile von Sekunden später krachte er frontal in den alten Baum.

    Der Mann, der den Unfall genau beobachtet hatte, trat aus der Dunkelheit. Er holte sich eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche, schaltete sie ein. Dann lief er zu dem Autowrack. Mit einem kräftigen Ruck riss er die Fahrertür auf. Stumm hockte er sich zu dem Mann, der eingeklemmt in seinem Auto saß und leuchtete ihn mit der Taschenlampe an. Das Gesicht blutüberströmt. Eine riesige Platzwunde klaffte an der Stirn, wahrscheinlich durch den Aufprall gegen die Frontscheibe. Der Oldtimer hatte keinen Airbag. Die Lenksäule hatte sich durch den Brustkorb gerammt. Der Motorblock die Beine zerquetscht. Die Augen waren weit aufgerissen. Kein schöner Anblick. Er lächelte bitter, ohne Mitleid und sah zu, wie das Lebenslicht in den Augen des Mannes erlosch. Als es vorbei war, stand er auf, ging zu dem Stahlseil und trennte es von dem Baum. Vorsichtig wickelte er es auf, während er über die Straße ging. Er achtete darauf, dass sich kein Reflektor löste. Am anderen Ende angekommen öffnete er den Karabinerhaken von der Schlaufe. Er leuchtete mit der Taschenlampe die Stelle ab, an der er das Seil um den Baum geschlungen hatte. Er konnte in der Rinde die Druckspur erkennen, hoffte aber, dass sie keinem auffiel, wenn der Unfall untersucht werden würde.

    Dann lief er wieder zurück zur Unfallstelle und riss die Klebefolien von den Bäumen entlang der Allee ab, mit denen er die Reflektoren abgeklebt hatte. Er schloss die Fahrertür des BMW. Fast hätte er es vergessen.

    Als er um das Auto ging, bemerkte er die Aktentasche auf dem Beifahrersitz. Der Versuch die Tür zu öffnen, schlug fehl. Die Seitenscheibe war gesplittert. Mit dem Ellenbogen gab er ihr den Rest. Dann nahm er die Aktentasche und schüttelte die darauf gefallenen Glassplitter ab. Er schaute sich noch einmal um. Der Regen war etwas schwächer geworden. Bald würde er ganz aufhören. Zufrieden lief er zu seinem Auto und setzte sich hinein. Der Mann sah sich den Inhalt der Aktentasche an. Ein dickerer Hefter, ein Notizbuch, Brieftasche, zwei verschiedene Schlüssel und ein Smartphone. Die Brieftasche enthielt Führerschein, Ausweis, vier Kreditkarten und etwas Bargeld. Einen Moment später lief er zu dem Autowrack zurück, legte die Brieftasche und das Smartphone ins Handschuhfach. Es wäre eine unnötige Komplikation, wenn die Verkehrspolizei keine Papiere finden würde. Die Schlüssel steckte er in die Jackentasche des Toten. Er hoffte, dass in diesem Moment nicht doch noch ein Auto vorbeikam. Der Regen ging in schwaches tröpfeln über. Zurück in seinem Wagen widmete er sich dem Ordner und dem Notizbuch. Er konnte mit beidem nichts anfangen. Die Aktentasche hatte er aus einem plötzlichen Impuls heraus an sich genommen. Jetzt wusste er selber nicht, was er zu finden gehofft hatte. Vielleicht so etwas wie eine Mandantenkartei. Er packte alles zurück in die Aktentasche und legte sie auf den Beifahrersitz. Dann startete er seinen betagten Wagen. Der sprang zuverlässig ohne murren an. Langsam rollte er aus dem Waldweg und bog auf die Landstraße.

    Montag

    2.

    Nasser Al-Sharif saß im hinteren Zimmer seines Bistros. Er war beunruhigt. Sein Gesicht glänzte. Die Wangen schimmerten schwarz, trotz der morgendlichen Rasur. Vor ihm auf dem alten runden Holztisch stand das zweite Glas Tee. Der Tee stark und süß, so wie er ihn mochte. Das erste Glas hatte ihn nicht beruhigt, das zweite würde es auch nicht. Er konnte den Anwalt nicht erreichen. Dr. Bommer wollte am Freitagabend vorbeikommen, ihm ein paar wichtige Unterlagen vorbeibringen. Jetzt, nach drei Tagen ohne Lebenszeichen von ihm wurde er langsam wütend. Es ärgerte ihn, dass er nur Bommers Handynummer und die Telefonnummer aus der Kanzlei hatte. Keine Privatnummer, keine Privatadresse. Das war schlampig und würde nachzuholen sein. Gut, es war bisher auch nie nötig gewesen. Trotzdem. Und die Kanzlei war am Wochenende geschlossen. Das ganze Wochenende hatte er gehofft, Bommer würde sich melden. Er hatte in der Kanzlei auf den Anrufbeantworter gesprochen. Vergeblich. Nasser Al-Sharif machte sich ernsthaft Sorgen. Es war Montagmorgen und noch keine Rückmeldung von Bommer. Das war mehr als nur ungewöhnlich. Noch hoffte er, ahnte aber auch, dass etwas passiert sein musste. Die Kanzlei öffnete um 10.00 Uhr. Er überlegte kurz, griff mit seinen dicken kurzen Fingern das Telefon und drückte die Kurzwahltaste. Auf der anderen Seite wurde abgenommen.

    »Zarif?«, fragte Nasser.

    »Ja«, meldete sich eine ruhige Stimme.

    »Bevor du deine Runde machst, musst du etwas für mich erledigen.« Der andere wartete schweigend ab. »Fahr zu Bommer. Seine Kanzlei öffnet um 10.00 Uhr. Schleif ihn her, egal was er gerade meint wichtiges zu tun zu haben. Ich will seinen Arsch hier haben. Er wollte mir Freitagabend ein paar wichtige Unterlagen vorbeibringen. Er ist bisher nicht aufgetaucht und gemeldet hat er sich auch nicht.«

    »Geht klar«, antwortete der andere nur und legte auf.

    Nasser Al-Sharif lehnte seinen massigen Körper nach hinten. Die Stuhllehne knarrte. Er hoffte, dass seine Sorgen umsonst waren, dass Bommer es einfach nur vergessen hatte. Sein Gefühl sagte ihm was anderes.

    Mohammed Javad Zarif überlegte. Wenn sein Boss sich so ausdrückte, lag etwas in der Luft, das unangenehm werden könnte. Er klappte sein Vertu Handy zu, steckte es in die Hosentasche. Er konnte Smartphones nicht leiden, empfand sie als stillos. Für ihn war das Handy zum Telefonieren da, nicht zum Chatten, Mails schreiben oder Spiele spielen. Er mochte Funktion gepaart mit Design. Genau wie er Uhren mit einem mechanischen Laufwerk bevorzugte. Nicht diese billigen chinesischen Quarzuhren, egal was für ein Design darum gebastelt wurde. Zarif sah auf seine Nomos Automatik und lächelte. Er hatte noch ein bisschen Zeit. Die Anwaltskanzlei befand sich in Berlin-Mitte, in einer Straße, die von der Chausseestraße abging. Den Namen hatte er vergessen. Von hier bis dorthin würde er bestimmt eine ganze Weile brauchen. Berufsverkehr und dann auch noch durch die Stadt. Er seufzte bei der Vorstellung. Was soll‘s. Auftrag ist Auftrag. Vielleicht sollte er doch etwas mehr Zeit einplanen. Unschlüssig stand er da, schaute aus dem Fenster. Das Wetter vom Wochenende mit den böigen Regengüssen hatte sich beruhigt. Der Wind hatte sich gelegt und die schweren Regenwolken hatten sich verzogen. Doch der Himmel war immer noch grau. Die Bäume ragten kahl in den Morgen. Über dem Landwehrkanal waberten Nebelfetzen hoch. Er griff zum Autoschlüssel, der auf dem kleinen Tischchen neben dem Fenster lag und betätigte an der Fernbedienung den Knopf für die Standheizung seines Autos. Er wollte es warm haben, wenn er einstieg. Er überlegte kurz, ob er Abbas anrufen sollte. Rechtzeitig erinnerte er sich an Abbas‘ kaum zu stoppenden, fast kindlichen Redefluss. Er schüttelte unbewusst den Kopf. Wenn der erst mal auf Touren gekommen war, gab es kein Halten. Er entschloss sich, die Fahrt allein zu unternehmen, zu genießen. Auf Kopfschmerzen konnte er gut verzichten. Er steckte seine Pistole, eine Walther PPQ M2 in das Schulterhalfter. Als Sicherheitskurier einer Werttransportfirma besaß er den dazu nötigen Waffenschein. Die Firma gehörte Nasser Al-Sharif. Die Waffe war neu, hatte im Gegensatz zu seiner alten einen längeren Lauf, auf den er, wenn nötig einen Schalldämpfer raufschrauben konnte. Und ein 15 Schuss Magazin. Man konnte nie wissen. Er zog sich das Jackett über. Das sollte bei dem Wetter reichen. Er hatte nicht vor, stundenlang draußen spazieren zu gehen. Noch einen kurzen kritischen Blick in den Spiegel, dann verließ er die Wohnung. Unten am Hauseingang traf er die neu eingezogene siebenköpfige Familie. Die Mutter und ihre drei Töchter mit ihren Kopftüchern standen mit dem jüngsten männlichen Spross zwei Meter abseits vom Familienoberhaupt. So war es ihnen seit Jahrhunderten beigebracht worden. So war ihr Stand. Mann und Frau lebten in zwei parallelen Welten. Der Mann hatte dabei definitiv die bessere Option. Sie versuchten verzweifelt den kleinen, verzogenen Märchenprinzen zu bändigen, während der Vater seinem älteren Sohn Anweisungen gab. Körperlich hier, hatte ihr Geist das bäuerliche Zentralanatolien nie verlassen. Zarif schüttelte den Kopf, er war in einem gebildeten Elternhaus aufgewachsen. Er grüßte sie mit einem Kopfnicken, mehr nicht. Sein Vater hatte es ihm beigebracht: sei höflich und grüße. Er ging an ihnen vorbei. Sie grüßten freundlich lächelnd zurück. Er nahm es kaum wahr.

    Zarif konnte sich an seine Kindheit im Libanon nicht mehr erinnern. Er war erst zwei Jahre alt, als seine Eltern von dort flohen. Er hatte keinen Bezug zu seiner ursprünglichen Heimat. Er empfand sich als Deutscher, auch wenn er Schweinefleisch nicht mochte. Er sprach deutsch, er dachte deutsch. Seine Eltern hatten bei seiner Erziehung viel Wert darauf gelegt. Sie sagten: Du hast den Vorteil zwei Welten zu kennen. Nimm das Beste davon und dann mach das Beste daraus. Den Vorteil kann dir keiner nehmen. Er hatte sich daran gehalten.

    Er betrat die Straße. Das Paul-Linke-Ufer begrüßte ihn mit kalter, klarer Luft und kahlen Bäumen. Raureif lag auf den Autos. Er ging hinüber zu seinem Jaguar, den er auf der anderen Seite geparkt hatte. Er mochte den britischen Stil, die Klasse und die Arroganz, aber auch den Humor. Drei Eigenschaften davon schienen den Deutschen zu fehlen. Nur bei der Arroganz konnten sie mithalten. Für ihn unverdientermaßen. Er schüttelte wieder unbewusst den Kopf.Auf eine gewisse Art verachtete er die Deutschen. Er lächelte, als ihm auffiel, dass er ganz schön viel verachtete und seufzte. Er wusste, er war ein Snob. Warum waren seine Eltern nicht nach Großbritannien ausgewandert? Ausgerechnet Deutschland. Aber er hatte sich fest vorgenommen, es irgendwann nachholen. Doch jetzt erst mal zu Bommer. Er stieg in den beheizten Jaguar, startete ihn und fuhr mit einem satten Brummen los.

    3.

    Salvatore Hieronymus Koslowski saß in seinem Büro. Seine Parka Jacke hatte er achtlos auf den Stuhl gegenüber geworfen. Wie es so seine Art war. Er war müde. Trotzdem er sich frisch rasiert hatte, wirkte sein Gesicht zerknittert. Wie das ging, blieb ein Rätsel. Er war eingefleischter Nassrasierer. Früher mit Gillette und nach dem sie diesen, wie Koslowski fand, bescheuerten Werbeslogan Anfang der 90er Jahre kreierten: »Für das Beste im Mann«, war er zu Wilkinson gewechselt. Seiner Meinung nach hatte er Besseres zu bieten als nur abrasierte Barthaare. Die Hoffnung, dass die Rasur ihn etwas munterer machte, erwies sich als trügerisch. 46 Jahre und kein bisschen weiser. Er lächelte vor sich hin und strich über den frischen Schnitt, den sein Kinn seit heute Morgen zierte. Ein Tribut seiner Ungeduld und der fahrigen Hände. Der gestrige Abend war lang geworden und die Nacht sehr kurz. Sein Nachbar, der fast achtzigjährige Mann, den Koslowski »den Professor« nannte, obwohl der keinen Wert auf diesen Titel legte, hatte an der Wohnungstür geklingelt und ihn auf ein Glas Rotwein und zu einem kleinen Schwätzchen zu sich eingeladen. Es wurde ein langer Schwatz, über Musik und die Kunst sie zu hören. Der alte Mann in seiner Strickjacke war Koslowski ans Herz gewachsen. Anderthalb Flaschen Rotwein später war Koslowski mit der Erkenntnis ins Bett gekommen, sich vielleicht doch endlich mal einen Plattenspieler zuzulegen. Da war es schon zwei Uhr morgens.

    Koslowski hatte die Beine auf dem Tisch abgelegt und versuchte trotz der Müdigkeit konzentriert in der Akte zu lesen. Die zwei Tassen Kaffee, die er schon getrunken hatte, schienen seine Konzentrationsfähigkeit nicht zu verbessern. Er rieb sich die Augen, blätterte dann in der Akte. Es war eine Marotte von ihm, sich die Zeit mit abgeschlossenen Fälle zu vertreiben, wenn das Team in der Bereitschaftszeit nicht so viel zu tun hatte. Was allerdings selten vorkam. Es waren Fälle, die ihn aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen interessierten. Wegen der Umstände, wegen der Personen. Koslowski wusste selbst nicht genau, was die Auslöser waren, warum er sich ausgerechnet diese

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