Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen
Von Max Kretzer
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Buchvorschau
Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen - Max Kretzer
www.egmont.com
Vorwort.
Die nachfolgenden drei Erzählungen sind vor etwa dreissig Jahren entstanden und als Vorläufer meiner grossen Berliner Romane zu betrachten, was ich hier besonders für die Herren Literarhistoriker anführe, denen mein Entwicklungsgang vielleicht von Interesse ist. Sie erschienen zuerst in der damaligen „Berliner Bürgerzeitung, dessen Feuilleton von Otto v. Leixner geleitet wurde, der, als ich ihm die Fabrikgeschichte „Der alte Andres
einreichte, ein starkes Talent in mir entdeckt haben wollte. Ich muss ihm nach seinem Tode noch dankbar dafür sein, dass er den Mut hatte, die Sittenbilder zu einer Zeit zu veröffentlichen, als das Lesepublikum äusserst prüde war und sich mit Wonne in die romantischen Erlebnisse der Marlittschen Mansardentanten und Märchenprofessoren vertiefte. Insbesondere verdient auch die Verlagsbuchhandlung Dank dafür, dass sie sich zu einer Neuauflage entschlossen hat, nachdem das Buch schon seit langem völlig vergriffen ist. Eine gründliche Durchsicht schien mir notwendig zu sein, weil ich die Erzählungen damals im Fluge niedergeschrieben hatte, und zwar unter dem Drucke grosser Armut.
Charlottenburg, im April 1911.
Max Kretzer.
Polizeiberichte
Polizeibericht. In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans Ufer gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert.
In allen Strassen hatte er sie gesucht. An jeder Ecke fragte er, ob man nicht ein blondes Mädchen von auffallender Schönheit gesehen habe, und immer, immer nur waren ein kurzes Kopfschütteln und ein mitleidiges Lächeln die einzige Antwort.
Wenn die Morgensonne ihr goldenes Licht in sein ärmliches Zimmer warf, dann war sein erster Gedanke bei ihr; wenn sie abends blutrot hinter dem Häusermeer verschwand, dann war sie es, zu welcher der letzte Strahl die Grüsse eines einsamen Mannes trug. Wenn in der Nacht alles zur Ruhe gegangen, kein Laut im Hause sich regte und nur hoch oben im vierten Stock beim matten Lampenschein wie schon seit Jahren er, über seine Bücher gebeugt, dem Geiste neue Nahrung gab, — dann war sie allein es, für die sein heisses Gebet sich den Lippen entrang, als er das Fenster öffnete und seinen Blick zum hellen Sternenhimmel emporschweifen liess. Dann überkam ihn jene unendliche Sehnsucht, die jeder von uns mindestens einmal im Leben empfunden hat, der in lautloser Nacht, das Herz voll zum Überströmen, im Gefühle seiner Einsamkeit Trost bei den Sternen gesucht hat. Dann wünschte er sich Flügel, sie zu suchen; kein Mensch sollte es mehr wagen, sie mit begehrlichen Blicken anzusehen. Nur er allein, er, ihr Bruder, der um sie gelitten, für sie gearbeitet und gedarbt hatte, wollte sie wieder haben. Dann aber trat die Wirklichkeit wie zum Hohn wieder in ihre Rechte, und halblaut murmelte er das Lied von Rückert vor sich hin:
Um Mitternacht
Hab’ ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab’ ich gedacht
Hinaus in dunkle Schranken;
Es hat kein Lichtgedanken
Mir Trost gebracht
Um Mitternacht.
Er war ein armer Student der Medizin und wohnte in einer elenden Gasse. Alle Tage, wenn er nach dem Kolleg ging, machte er einen weiten Umweg, nur um bei einer Bettlerin nicht vorübergehen zu brauchen, der er nichts geben konnte, weil er selbst nichts hatte.
Als er vor vier Jahren mit seiner Schwester von seinem kleinen Heimatstädtchen Abschied nahm, da konnte er weiter nichts auf den Weg mitnehmen, als den Segen seines alten Vaters und die Liebe zu seiner Schwester.
„Sorge für sie, beschütze sie, Reinhard, sagte der Alte. „Arbeitet, Kinder, denn Arbeit schändet nicht. Du willst studieren, Junge? Nun gut, — des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Es wird dir aber sauer werden, ich meine das Leben, nicht das Studium, denn das wirst du überwältigen, du hast was gelernt. Und nun behüte euch Gott, Kinder, und wenn ihr eines Tages erfahren solltet, dass euer Vater nicht mehr lebt, dann grämt euch nicht, aber ehrt sein Andenken, wie ihr das eurer Mutter geehrt habt.
Damit hatte er ihnen den Rücken gewandt, denn er wollte seine Tränen verbergen.
Wie verlassen hatten sie sich gefühlt, als sie in Berlin ankamen und das hundertfältige Gewirr einer Weltstadt sie bereits auf dem Bahnhof umfing. Wie neugierig all die Blicke waren, die die Leute auf seine Schwester gerichtet hatten!
„Sieh doch diesen wunderschönen Blondkopf, — allerdings noch etwas kindlich."
„Je jünger, desto schneller ihr Glück; sie wird bald seidene Kleider tragen," drang es an sein Ohr. Das Blut stieg ihm in die Wangen, er drehte sich um, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor. Aber lächerlich. Wen sollte er hier auch kennen? Wie hatte sie sich an ihn geschmiegt und wie stolz war er in dem Bewusstsein, als sie jetzt die Strassen durchfuhren, in all dem brausenden Gewirr des Daseins, das um sie wogte, ihr ein Fels zu sein, der sie beschütze. Wie hatte er in der ersten Zeit um seine Existenz gekämpft, — aber immer stand ihm das Wort des Dichters vor Augen: Mensch sein heisst ein Kämpfer sein. — Emmy war es bald gelungen, in einem grösseren Geschäft als Verkäuferin einen Platz zu bekommen. Ihre gute Bildung, ihre Schönheit, ihre Bescheidenheit machten sie bei jedermann beliebt, so dass der Gehalt, den sie bezog, bald gross genug wurde, die Ansprüche beider zu befriedigen. Jetzt konnte sich Reinhard mit aller Kraft auf das Studium der Medizin werfen. Privatstunden, die er in einigen Familien erteilte, brachten ihm so viel ein, um seine kleinen Nebenausgaben an Büchern usw. bestreiten zu können. Er bewohnte mit seiner Schwester zwei kleine Zimmer in einer abgelegenen stillen Gasse.
Als er eines Tages wie gewöhnlich vor Eröffnung des Kollegs im Vorgarten der Universität auf- und abging, klopfte ihm jemand auf die Schulter, und eine bekannte Stimme redete ihn an. Im Nu durchzuckte es ihn: Das ist dieselbe Stimme, die damals auf dem Bahnhof gesagt hat: Wird bald seidene Kleider tragen. Er drehte sich um. Ein ehemaliger Schulkamerad stand vor ihm, der Sohn eines reichen Fabrikbesitzers seiner Vaterstadt. Fritz Brand studierte ebenfalls Medizin. Er war ganz dazu geschaffen, jedem Weibe den Kopf zu verdrehen. Von der Natur verschwenderisch ausgestattet, besass er die elegantesten Manieren und jenes einschmeichelnde Wesen, das in derselben Weise abstossen kann, wie es anzieht. Reinhard hatte sich vorgenommen, sich während seines Studiums soviel als möglich isoliert zu halten, schon seiner geringen Mittel wegen; er war daher wenig erbaut von dieser neuen Bekanntschaft. Aber er kannte Fritz Brand noch schlecht. Eines Sonntags, als die Geschwister zu Hause waren, machte Fritz Brand seinen Besuch, um sich nach dem Befinden seiner schönen „Landsmännin" zu erkundigen, und — Emmy war gefangen.
Die Besuche wiederholten sich, mehr als es Reinhard lieb war; er baute jedoch auf die Vernunft seiner Schwester. Vernunft, auch du trügst!
Ein Jahr war vergangen. Reinhard war ebenso fleissig als vordem: ein glänzendes Talent, vor dem seine Kommilitonen, die ihn seiner Solidität wegen in der ersten Zeit als Philister verschrien hatten, zuletzt den grössten Respekt hatten. Und Emmy? Der Strudel des Lebens hatte sie ergriffen. Der Hexenkessel, den man Berlin nennt, fing auch für sie an zu brodeln, und der Genuss des Inhalts war zu berauschend, um nicht zu verführen. Heute reich, morgen arm, heute ehrlich, morgen Zuchthaus, heute ein unschuldiger Engel, morgen ein gefallener, — das ist das Kaleidoskop, das man Weltstadt nennt.
Immer später kam Emmy des Abends nach Hause, bis sie eines Nachts ganz ausblieb. Ein kurzer Brief, den er vorfand, sagte Reinhard, dass sie für ihn verloren sei, — immer und ewig: ein Opfer ihrer Schönheit und ihres Leichtsinns.
„... Einziger Reinhard, nach wie vor werde ich Dich in Deinem Studium unterstützen. Jeden Monat werde ich Dir die Hälfte meines Gehalts senden. Bitte, schreibe mir ein paar Zeilen poste restante, dass Du mir verzeihst. Deine unglückliche Schwester."
Einen Augenblick war es ihm, als müsste er irrsinnig werden; er fasste sich an seinen glühenden Kopf, — dann lachte er hart auf. „Jeden Monat werde ich dir die Hälfte meines Gehalts schicken! Und du denkst, ich könnte ..." Er fühlte, dass brennendes Rot in sein Antlitz trat. Dann wurde er ruhiger, er war nicht umsonst Mediziner. Sie war doch nur eigentlich das verführte Objekt eines erbärmlichen Subjekts, deshalb nicht zu verurteilen, — aber wehe! Wenn seine Ahnung sich bewahrheitete, wenn sein eleganter Kommilitone es war, der sein Glück zertreten hatte, er wollte Gericht halten. Sogleich wollte er ihn aufsuchen. Aber hatte er Beweise? Wie, wenn er ihm ins Gesicht lachte? Er überlegte. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb an die Schwester unter der angegebenen Chiffre:
„Kehre zurück. Wenn auch alle Menschen Dich verurteilen, Du weisst doch, dass die Brust Deines Bruders der Ort ist, wo Du Dich satt weinen kannst. Einen Fehltritt gutmachen, ist eine Wohltat, die man sich selbst, die man der Menschheit erweist; ihn vergrössern, ein Verbrechen. Ich kann nicht leben mit dem Bewusstsein, Dein Herz bluten zu sehen, — komm zurück, geliebte Emmy. Denke an Deinen alten Vater und den Schmerz Deines Bruders. Wer es wagen sollte, auch nur einen Stein auf Dich zu werfen, den überlasse mir und jener Hand der Vergeltung, die jeden seinem Schicksal zuführt. Konntest Du wirklich Deinem Bruder das zutrauen: von Deinem Gelde zu leben, ohne Dich zu sehen, Deine Stimme zu hören? Komm, Emmy!"
Noch spät am Abend trug er den Brief zur Post. Am andern Tage versäumte er zum ersten Male die Vorlesung. Es liess ihn keine Ruhe; er musste sie selbst sprechen. Er stellte sich gegenüber der Post auf und wollte warten, bis sie käme, den Brief zu holen. Vergebens wartete er den ganzen Vormittag; sie kam nicht. Er ging zum Schalter und frug, ob noch ein Brief an Emmy S. da wäre. „Nein", lautete die Antwort. Sie hatte ihn also durch eine fremde Person abholen lassen. O, Weiberlist!
Niedergeschlagen ging er nach Hause, doch nur, um die Wahrheit des alten Sprichworts, dass ein Unglück nie allein komme, in ihrer ganzen Grösse kennen zu lernen. Ein Brief sagte ihm, dass sein Vater plötzlich gestorben sei. Ein unnennbares Weh beschlich ihn. Er setzte sich hin und weinte. Er war noch kein praktischer Arzt, der mit der Zeit durch die Leiden seiner Patienten seine eigenen vergisst, — er konnte noch weinen. Er rief laut den Namen Emmy, er ging in ihr Zimmer und besah all die Kleinigkeiten, die sie stehen gelassen hatte. „Wenn sie vom Tode ihres Vaters wüsste, sie würde gewiss kommen, so hart könnte sie nicht sein! Weshalb musste ich auch schon so schnell schreiben!" Dann wurde er wieder ruhiger; er wollte abwarten, vielleicht kam sie doch. Es wurde aber Abend, sie kam nicht. Plötzlich zeigte sich ihm ein Weg, und er musste selbst lächeln, dass er noch nicht daran gedacht hatte.
Er nahm seinen Hut