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Steh auf und wandle
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eBook376 Seiten5 Stunden

Steh auf und wandle

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Über dieses E-Book

Der Theologiestudent Gabriel Kreutz ist durch ein Erbe seiner Eltern unabhängig. Sein Geld trägt er vertrauensvoll auf einer wochenlangen Wanderung mit sich. Seinen besten Freund Thomas, mit dem es sich so herrlich über Gott und die Welt streiten lässt, hat er auf seine Kosten mitgenommen. Der geniale Techniker mit dem etwas groben Wesen hat kein Geld. Aber eines Tages wird er seinen Traum wahr machen und fliegen. Aber seit Thomas das Geld Gabriels an sich genommen hat und die Ausgaben verwaltet, bekommen ihre Dispute etwas Vergiftetes. Der eigentlich besonnene Gabriel hat außerdem entdeckt, dass Thomas eine Braut hat. Das Foto von ihr geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Eines Tages provoziert er den Freund mit dem Rat, vor dem irrsinnigen Flugmaschinenbau erst einmal Geld zu verdienen. Plötzlich entlädt sich der ganze Zorn Thomas' auf Gabriels naiven Gottglauben, seine abgesicherte Existenz, seine Großzügigkeit ihm gegenüber und er schleudert symbolisch Gabriels teuren Wanderstock in eine Schlucht. Die Freunde vertragen sich sofort wieder, Thomas seilt Gabriel ab, der den Stock wiederholen will. Auf einmal aber lässt Thomas das Seil los, der Freund stürzt ab. Als die Leiche nach ein paar Tagen nicht gefunden wird, geht Thomas nach Berlin zurück. Er heiratet Lisa und baut vor den Toren Berlins mit dem Geld Gabriels, den er nicht vergessen kann, an seinem Flugzeug. Eines Tages kommt ein Mann über das Feld geschritten ...Max Kretzer (1854–1941) war ein deutscher Schriftsteller. Kretzer wurde am 7. Juni 1854 in Posen als der zweite Sohn eines Hotelpächters geboren und besuchte bis zu seinem 13. Lebensjahr die dortige Realschule. Doch nachdem der Vater beim Versuch, sich als Gastwirt selbstständig zu machen, sein ganzes Vermögen verloren hatte, musste Kretzer die Realschule abbrechen. 1867 zog die Familie nach Berlin, wo Kretzer in einer Lampenfabrik sowie als Porzellan- und Schildermaler arbeitete. 1878 trat er der SPD bei. Nach einem Arbeitsunfall 1879 begann er mit der intensiven Lektüre von Autoren wie Zola, Dickens und Freytag, die ihn stark beeinflussten. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans "Die beiden Genossen" 1880 lebte Kretzer als freier Schriftsteller in Berlin. Max Kretzer gilt als einer der frühesten Vertreter des deutschen Naturalismus; er ist der erste naturalistische Romancier deutscher Sprache und sein Einfluss auf den jungen Gerhart Hauptmann ist unverkennbar. Kretzer führte als einer der ersten deutschen Autoren Themen wie Fabrikarbeit, Verelendung des Kleinbürgers als Folge der Industrialisierung und den Kampf der Arbeiterbewegung in die deutsche Literatur ein; die bedeutenderen Romane der 1880er und 1890er Jahre erschlossen Schritt für Schritt zahlreiche bislang weitgehend ignorierte Bereiche der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Prosaliteratur: das Milieu der Großstadtprostitution (Die Betrogenen, 1882), die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats (Die Verkommenen, 1883; Das Gesicht Christi, 1896), die Salons der Berliner "besseren Gesellschaft" (Drei Weiber, 1886). Sein bekanntester Roman, "Meister Timpe" (1888) ist dem verzweifelten Kampf des Kleinhandwerks gegen die kapitalistische Konkurrenz seitens der Fabriken gewidmet. Während Kretzer anfangs der deutschen Sozialdemokratie nahestand, sind seine Werke nach der Jahrhundertwende zunehmend vom Gedanken eines "christlichen Sozialismus" geprägt und tragen in späteren Jahren immer mehr den Charakter reiner Unterhaltungsliteratur und Kolportage. Er starb am 15. Juli 1941 in Berlin-Charlottenburg. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum16. Juli 2016
ISBN9788711502907
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    Buchvorschau

    Steh auf und wandle - Max Kretzer

    www.egmont.com

    1.

    Vor fünf Wochen waren die Freunde zu einer gemeinsamen Alpenwanderung von Berlin aufgebrochen, hatten acht herrliche Tage in München verlebt, waren am Bodensee gewesen, hatten den Bregenzerwald gesehen, waren dann nach Tirol gefahren, hatten sich am himmlischen Salzkammergut erfreut, waren am majestätischen Königssee gewesen und befanden sich nun im Allgäu, das sie über die Pässe erreicht hatten. In einem kleinen Berggasthof hatten sie übernachtet, und nun strebten sie Oberstdorf zu, das sie, ihrer Berechnung nach, am Nachmittage erreichen mussten. Von hier aus wollten sie dann über München wieder nach Hause.

    So lagen sie denn seit zehn Minuten untätig auf der blühenden Talwiese und liessen sich die warme Vormittagssonne des Augusttages in das gebräunte Gesicht scheinen, so mit dem ganzen Behagen rastender Wanderer, die nach einem wohlverdienten Imbiss noch Zeit haben, ein wenig die Glieder zu strecken. Thomas Nagel hatte es sich auf seinem Rucksack, den er als Kopfkissen benutzte, bequem gemacht und, seitwärts gedreht, versuchte er mit geschlossenen Augen die Zeit nach seiner Weise auszunutzen. Gabriel Kreuz jedoch lag platt auf dem Rücken und blickte, die verschlungenen Hände unter dem Kopfe, unentwegt in den blauen Himmel.

    „Gabriel, schläfst du?" fragte Nagel plötzlich, ohne sich zu rühren.

    „Nein, ich bin total munter," erwiderte Kreuz mit seiner weichen Stimme, die so angenehm für das Ohr war.

    „Was machst du eigentlich?"

    „Ich bewundere die Schwalben da oben."

    „Also hast du schon von mir gelernt, lieber Sohn. In ein paar Jahren werden die Menschen auch so herumfliegen, verlass dich darauf."

    „Aber nicht mit derselben Eleganz, spottete Kreuz, „vielleicht auch nicht mit derselben Behaglichkeit.

    „Abwarten und dann Tee kochen, mein Lieber. Das ist nur noch eine Frage der Zeit, glaube mir. In Amerika haben sie ja schon den Anfang damit gemacht, und bei uns in Deutschland regt es sich auch bereits. Natürlich hinken wir wieder hinterdrein, nachdem man uns das Beste abgeguckt hat. Denk’ mal an Lilienthal."

    „Ja, an den denke ich gerade, sagte Kreuz gewissermassen wie im Triumph. „Sein Wahnsinn hat ihm das Leben gekostet, und so wird es den meisten andern auch gehen.

    Thomas Nagel geriet in Bewegung und kläffte ihn beinahe an: „Grosse Dinge erfordern immer Opfer, das beweist schon die Weltgeschichte. Und was zuerst für Wahnsinn gehalten wurde, das hat sich dann als ganz vernünftig herausgestellt. Es kommt eben alles auf Ursache und Wirkung an, lieber Sohn. Die Ursache kann noch so vernünftig sein, die Wirkung wird oftmals das Gegenteil erwecken. Glaube mir: gewöhnlich neigen diejenigen dem Wahnsinn zu, die alles Natürliche bezweifeln. Zu denen ich dich, mein lieber Gabriel, selbstverständlich nicht rechnen will. Denn du sträubst dich ja gegen solche Dinge aus angeborener Frömmigkeit, meinetwegen auch aus himmlischem Heimatgefühl, vielleicht auch noch aus Gründen des alten Kirchenglaubens. Nur nicht an den Himmel tippen, immer hübsch auf Erden bleiben, — das ist so dein elementarster Grundsatz, den du den Menschen aufbrummen möchtest. Aber selbstverständlich! Lass mich nur erst ausreden . . . Wir Praktiker jedoch, siehst du, finden es allmählich langweilig auf der Erde, schon weil wir viel zu viele sind, — daher wollen wir uns nun ein wenig da oben in der Luft umsehen, um sie mit der Technik ebenso zu erobern, wie wir es bereits mit dem Wasser und dem Feuer getan haben. Der Dampf durchquert die Erde, er durchrast sämtliche Meere, — warum soll er also eines Tages nicht auch die Luft durchbrausen. Du lachst? Du wirst noch Hurra schreien. Übrigens gibt es ja auch die elektrische Kraft. Was mich speziell anbetrifft, so wäre mein Ideal der fliegende Mensch, so ganz nach Vogelart, wie die Schwalbe da oben, weisst du. Etwa so: Stahlflügel, so dünn wie Spinngewebe, dass sie dem Windhauch folgen. Ein Federdruck, und sie blähen sich und tragen mich hinaus ins Unendliche. Ikarus, ohne geschmolzen zu werden. Donnerwetter, ja! Sache! . . . Eine Kiste guten Tobaks müsste ich allerdings immer bei mir haben, denn du weisst ja, ohne Rauchbolzen kann ich nicht leben. Grossartige Idee, wie? Um mich aber auf das Problem vorzubereiten, will ich jetzt ein Paar Augen voll Schlaf nehmen. Denk’ inzwischen darüber nach."

    Und danach warf er sich wieder auf die Seite und tat so, als ginge ihn nun auf der Welt nichts weiter mehr an.

    Es war dasselbe Thema, das Thomas Nagel während der Wanderschaft wiederholt angeschlagen, und das er nun, Gabriels Meinung nach, mit dem fliegenden Menschen zu einer Ausgeburt krankhafter Phantasie erhoben hatte, gegen die man mit göttlicher Vernunft, und alle Vernunft hielt Kreuz als von Gott gegeben, nicht mehr ankämpfen konnte. Er hätte derartige Phantastereien des ewig zu Spott nnd Witz aufgelegten Genossen für Scherz gehalten, wenn die ganze Person Nagels nicht dazu geschaffen gewesen wäre, die Welt eines Tages mit etwas Unglaublichem zu überraschen. Durch und durch Verblüffungsmensch, dessen stets neue Einfälle ungeahnten Attacken glichen, gegen die Kreuz sich mit allem Verstande zu wehren hatte, schüttete er immer neue Erfinder-Ideen aus seinem mächtig gebauten Schädel, so dass jemand, der seine gesunde Ruhe nicht kannte, ihn mindestens für grössenwahnsinnig gehalten hätte. Gabriel Kreuz jedoch hatte sich schon daran gewöhnt, sowie er ohne Aufregung die vielen schäumenden, gurgelnden und wirbelnden Wildbäche in die Tiefe hatte gehen sehen, ohne etwas von Schwindel zu erleben. Und weil dem so war, liess er die überschüssigen Gedanken des Genossen auch diesmal austoben, ohne sich ihnen zu widersetzen.

    Die Natur lud zum Schweigen ein. Göttliche Stille herrschte, die für den Denkenden etwas Ergreifendes hatte. Die ganze Landschaft lag im Traume, in dem sie nicht gestört sein wollte. Kein Vogel sang, kein Wipfel rauschte, kein Quellwasser murmelte, keine Biene summte dem Honig nach. Die grosse Luftharfe, die man sonst hörte, ohne sie zu sehen, sonnte sich unberührt, und wenn sich die Grashalme zum sanften Kosen neigten, so geschah es nur angehaucht von der leisen, kaum merklichen Kühle, die von den Höhen herunter über die Wiesen strich. Es war nur ein Fächeln, aber kein Wind. Und in diese Träumerei hinein wob die Märchenpracht ihre Farben. Rote und blaue Blumentupfer machten die Wiese zu einem bunten Teppich, dem das Buschwerk, das sich quer herüberzog, die dunkelgrüne Borte gab. Dahinter stiegen goldgelbe und braunrote Matten die Berglehne hinan, aber ohne das Wogen, das sonst den vollen Ährenfeldern die Bewegung des Meeres gab, denn schon war das Korn geschlagen und in die Scheunen gebracht. Ein dunkler Fichtenwald ragte starr über den Matten und umzog jenseits das ganze Tal. Zerstreut wie Spielzeug lagen die Häuschen eines einsamen Dorfes hoch oben in der Einöde, gerade noch erkennbar dem scharfen Auge. Dann aber wuchsen die kahlen, grauen Felsen wildzerrissen empor und türmten sich zu einem mächtigen, spitzen Gipfel auf, der in der klaren Luft schreckhaft gross und nahe erschien, obwohl es einer Tagesreise bedurft hätte, um an seinen Fuss zu gelangen. Im Sonnenlicht glitzerten, weiss wie flüssiges Silber, die schmalen Wasserfälle, die in den Felsenrinnen zu Tale gingen, und allmählich verwob sich das eintönige Grau und Grün zu einem violetten Dunst, in dem sich weit in der Ferne die Alpenkette verlor, am Horizont hingehaucht wie mit dunkelblauer Tusche auf hellblauem Himmel. Nur die Schneehäupter hoben sich blendend ab, hingeklext wie weisse Farbe in den Äther.

    Noch immer blickte Gabriel Kreuz in das Unendliche. Die Art und Weise, wie die Wolken sich bildeten, erregte nun unausgesetzt seine Aufmerksamkeit. Vor fünf Minuten war über ihm noch reine Bläue, und nun lag da oben bereits ein dichter, von der Sonne durchleuchteter, weisser Flaum, der sich merklich zusammenballte. Wie aus einem Nichts war er entstanden. Kaum, dass das Auge Zeit fand, dieses Himmelsspiel zu verfolgen, hatten sich zarthelle Schwaden aus dem Äther losgelöst, fast wie dahinziehende Schleierchen, und waren bestrebt, sich zu vereinigen. Und schon wollte das Wölkchen im Luftmeere dahinsegeln, als der Wind es wieder auflöste und die zerfetzten Schleier höher trieb, bis das Blau des Himmels sie wieder verschlang. Dasselbe Spiel wiederholte sich, bald hier, bald dort, so dass Gabriel Kreuz seine Freude daran hatte, denn er bildete sich nun ein, etwas zu beobachten, worauf die meisten Menschen gewiss nicht achteten. Sie sahen eben den Himmel zuerst in reiner Bläue, erblickten dann plötzlich Wolken an ihm, ohne nachzuforschen, woher sie so schnell gekommen waren. Und doch ging alles ganz natürlich zu, wenn auch mit der Eile von Minuten.

    Die weisse Wolke über ihm stand unbeweglich, denn sie trotzte gewissermassen der Luftströmung dort oben, die nur imstande war, die Form stetig zu verändern. Sie türmte sich auf, nahm Gestalt an und erschien nun wie der Oberkörper eines riesenhaften Menschen, der rechts und links die in Hermelin gehüllten Arme ausstreckte und ein Haupt mit langem Barte und langen Locken trug. Ein mächtiger, ehrwürdiger Greis schien segnend auf die Erde herabzublicken. So zauberte es wenigstens die reiche Phantasie Gabriel Kreuz vor, und im Augenblick ganz eingenommen davon, versäumte er nicht, den Wandergenossen darauf aufmerksam zu machen.

    „Du, Thomas, hör mal zu, ermunterte er den Trägen, „ich habe eine neue Entdeckung gemacht.

    „Ist sie technisch oder idiotisch," fragte Nagel zurück, ohne sich im mindesten zu rühren. Das war seine ständige Redensart, womit er als Praktiker alles abtat, was seinen Zweifel erregte.

    „Ich habe nämlich die Sprache der Wolken gefunden," fuhr Kreuz lebhaft fort.

    „Also idiotisch, sagte Nagel ganz offen, weil er wusste, dass ihm nichts übel genommen wurde. Seine Stimme war wie immer belegt, und die Worte kamen aus verfetteter Kehle. „Ich gebe dir einen guten Rat: Gib ein Wolkenlexikon heraus und nimm ein Patent darauf. Ohne Patent ist heute nichts zu machen.

    Gabriel Kreuz lachte, obwohl er auch diese Litanei des zukünftigen grossen Erfinders zur Genüge kannte.

    „Sieh doch lieber nach, ob du das Geld noch hast, sprach Nagel weiter, „das scheint mir im Augenblick viel wichtiger zu sein. Man kann nie wissen . . .

    Unter dem Deckel des spitzen Lodenhutes, den er sich über das Gesicht gestülpt hatte, riss er die Augen weit auf. Es war derselbe starre Blick ins Dunkle und Wesenlose, der ihn während der ganzen Nacht oben im Passasyl munter gehalten hatte, weil die aufgescheuchten Nerven in seinem Gehirn hässliche Bilder entstehen liessen, die, immer wiederkehrend, seine ganze Seele gefangen nahmen.

    Gabriel Kreuz fühlte aus Gewohnheit unter dem Lodenjakett nach der linken Brustseite, wo in der Innentasche der Weste das Kuvert mit den siebzehntausend Mark in Scheinen steckte, dem Reste von dem Erbteil seiner Mutter. Und zum Überfluss glitt auch die Hand über die Hosentasche, in der sich das Portemonnaie mit dem losen Gelde für den Tagesbedarf befand. „Noch alles da, beruhige dich," sagte er dann, während er daran denken musste, wie oft der Freund mit derselben Frage gekommen war, fast täglich und bei jeder Gelegenheit, besonders wenn sie sich zum Aufbruch rüsteten. Und er hatte das auch zu würdigen verstanden; denn ohne viel Sinn für die Güter dieser Welt ging er etwas leichtfertig mit ihnen um. War es ihm doch erst neulich passiert, dass ihm vor dem Ankleiden das Kuvert aus der Weste gefallen war, was er wohl kaum gemerkt hätte, wenn nicht Thomas rechtzeitig mit seiner Aufmerksamkeit gekommen wäre.

    „Na, dann ist es gut, sagte dieser und schob den Hut etwas höher hinauf, so dass seine Worte verständlicher wurden. „Du weisst ja: Dich muss man bewachen wie ein kleines Kind, sonst gehst du verloren. Was sollten wir beide wohl machen, wenn wir irgendwo festsässen, wie? Dann könnten wir als Landstreicher weiterziehen.

    Gabriel Kreuz zeigte ein heiteres Angesicht. „Du, das wäre gar nicht so übel. Das Dasein einmal von dieser ganz jämmerlichen Seite kennen zu lernen, — darin läge noch Poesie."

    „Und das entspräche auch ganz deinen Erwartungen von der menschlichen Nächstenliebe, nicht wahr? Steht ja wohl als Nummer eins in deinem Lebensprogramm."

    „Gott sei Dank. Ich glaube noch an die Menschheit."

    „Ich nicht," kam es barsch über Nagels Lippen. Und er warf sich auf die rechte Seite, so dass er dem Freunde jetzt zugekehrt war.

    „Wie oft soll ich das eigentlich noch betonen, sprach Kreuz ruhig weiter, immer die hellen Augen zum Himmel gerichtet. „Du kennst doch meine Ansichten, die ich mit der Muttermilch eingesogen habe. Menschheit und Menschen sind zwei ganz verschiedene Begriffe, ebenso wie die Erde und Erde. Die Erde ist etwas unendlich Reines, Herrliches, von Gott Geschaffenes. Erde aber, verstehst du, als Teilchen gedacht, kann Schmutz enthalten.

    „Du, das habe ich bemerkt, als wir uns zuerst da oben hinlegen wollten, wo es so angenehm duftete," brachte Nagel seinen Witz wieder an.

    „Der Wert des Edelsteins bleibt derselbe, auch wenn schmutzige Hände ihn berühren, fuhr Kreuz ernst fort, „und hat er gar in Schmutz gelegen, so wäscht man ihn einfach ab.

    „Und ganz genau so ist es mit den Menschen, warf Nagel ein. „Sind sie einmal in Dreck gefallen, dann erheben sie sich wieder und säubern sich einfach.

    „Ein kleiner Unterschied ist doch dabei, mein lieber Thomas. Denn siehst du, es gibt bei den Menschen einen inneren Schmutz, den alles Bürsten nicht vertreibt."

    „Den man aber Gott sei Dank nicht sieht," erwiderte Nagel mit gesteigertem Ärger.

    „Aber er äussert sich durch schlechte Gesinnung und durch schlechte Handlungen," fuhr Gabriel Kreuz lebhaft fort, ganz aufgehend in seiner Meinung, ohne dabei an einen besonderen Fall zu denken.

    Nagel schnaufte schon beinahe vor Wut, wie stets, wenn solche ihm unbehaglichen Fragen von Kreuz angeregt wurden. „Meinetwegen mag er sich äussern, wie er will, mein treuer Gabriel, — du kennst ja meinen Standpunkt: Die Welt ist da zum Geniessen und nicht zum Kopfzerbrechen über ihre Mängel. Jawohl. So ist es. Meine Meinung. Basta. Und er bohrte den Arm in die Luft und schrie jedes seiner Worte aus voller Kehle. „Übrigens, du — wenn’s dir Spass macht, geh doch mit deiner Poesie fechten und lasse mir’s Geld. Wir werden dann ja sehen, wer weiter kommt mit seiner Moral. Verlieren wirst du deine paar Kröten doch noch, ich seh’s schon kommen. Nächstens vergisst du noch, die Weste anzuziehen. Oder du schenkst sie aus aller Menschenfreundlichkeit einem armen Wurzelsepp und machst ihn in deiner Liebenswürdigkeit noch darauf aufmerksam, dass darin ein grosses Kuvert stecke, falls er an den lieben Gott schreiben wolle. Ja, lache nicht, dir traue ich’s zu.

    Gabriel Kreuz lachte wirklich dazu, obwohl ihm ganz ernst zu Mute war bei dem Gedanken, all’ seine Güte wieder so unterdrückt zu sehen. Thomas Nagel, der arm wie eine Kirchenmaus war, lebte während der ganzen Touristenfahrt nur von ihm; aber zartfühlend wie Gabriel war, unternahm er niemals den leisesten Versuch, ihn das merken zu lassen. Und so wartete er lieber auf den schönen Augenblick, bis der Freund von selbst einmal zu dieser Einsicht kommen würde, wenn auch nur dadurch, indem er der Ansicht des opfernden Gebers weniger herausfordernd und auch weniger zynisch begegnete. Dass aber dieser Augenblick bis jetzt nicht gekommen war, störte ihn nicht in seinem Bestreben, sich auch fernerhin ohne jede Selbstsucht zu zeigen, und nur der Stimme des Herzens zu folgen. Denn von all’ den schönen Sprüchen, die ihm sein alter Vater, der Schulmeister dort oben in Ost-Friesland, mit auf den Weg gegeben hatte, war ihm der Spruch des Evangeliums: „Geben ist seliger denn Nehmen" am heiligsten.

    „Reiss doch wenigstens einmal die Augen auf und sieh das wunderbare Gebilde da oben, es kostet ja nichts," ermunterte er abermals den Faulen, nun ebenfalls von Ärger erfasst.

    Thomas Nagel tat ihm den Gefallen. Mit einem Ruck wälzte er sich auf den Rücken und blickte mit zwinkernden Augen in die Höhe, weil das weisse Tageslicht ihn blendete. „Wo denn? Ich sehe nichts."

    „Aber ich bitte dich! Sieht das nicht wie Gott aus, der über den Wolken thront?"

    „Ich habe den alten Herrn noch nicht kennen gelernt, also kann ich nicht urteilen, weisst du," spottete Nagel los, wie immer so auch diesmal bestrebt, in solchen Dingen dem Freunde seinen Widerspruch zu erkennen zu geben. Man las ihm den Ärger von dem breiten, gesunden Gesicht ab, in dem die etwas kleinen, verborgen spielenden Augen mit der Schläfrigkeit kämpften. Er war unrasiert, und so sah er, sonnenverbrannt wie er war, etwas wüst aus, ganz im Gegensatz zu Gabriel Kreuz, der nun mit der schmalen, feinen Hand über das rötlich blonde Haar und über den vollen Spitzbart strich.

    „Jetzt trägt er sogar eine Krone, sieh doch nur," fuhr dieser ganz entzückt fort.

    „Dann ist es sicher der alte Barbarossa, der uns guten Tag sagen will, stiess Nagel unwirsch hervor und legte sich wieder auf die Seite. „Sprich dich nur ruhig mit ihm aus, lieber Gabriel, — mich aber lass gefälligst zufrieden mit dieser Bekanntschaft. Sei so gut, ja.

    „Geradezu einzig . . . herrlich . . . wunderbar," begeisterte sich Kreuz weiter. Und seine grossen, meerblauen Augen waren unablässig auf das köstliche Zufallsspiel hoch oben in der Luft gerichtet, das wirklich eine Minute lang etwas von einer überirdischen Erscheinung bot, dann aber anfing, in seinen scharfen Umrissen zu zerstieben. Die Herrlichkeit zerrann: die Krone schwebte fort, das Lockenhaupt wurde verzerrt und die ausgestreckten Arme im Hermelin fielen schlaff zusammen, als hätten sie es aufgegeben, die böse Welt da unten zu segnen. Kreuz bemühte sich, etwas Neues aus dem verschobenen Gewölk herauszulesen, gab dann aber die Hoffnung auf. Himmlische Wunder waren eben selten, das war im Augenblick seine Überzeugung.

    „Nun, was sagt der alte Kyffhäuseronkel?" meldete sich wieder Thomas Nagel, um ihn ein wenig aufzuziehen.

    „Er meinte, du seiest ein ungläubiger Thomas, der niemals belehrt werden könne, besonders, was Gottes Sprache anbetrifft. Und deshalb hat er sich rasch verzogen."

    „Hübsch von dem alten Mann. Um so näher wirst du ihm ja sein, denn du heisst ja nicht umsonst Gabriel. Von einem Erzengel hast du allerdings wenig."

    Kreuz lachte hell auf, denn empfänglich für Humor, konnte er sich diesen Scherzen des Freundes selten verschliessen. Wie gross auch ihre innern Gegensätze waren, — Heiterkeit und Frohsinn des Lebens wurden immer wieder zur Brücke, auf der sie sich versöhnt fanden.

    Gabriel Kreuz fuhr in seinen Beobachtungen fort. Kaum, dass er es bemerkt hatte, waren plötzlich überall weisse Wölkchen aufgetaucht, als hätte eine unsichtbare Hand sie aus dem unermesslichen, blauen Himmelsdom herniedergestossen. Sie ballten sich zusammen und rundeten sich zu übereinander geschichteten Kuppeln, und plötzlich ragte am Horizont eine riesige, weisse Wand empor, die fast die Täuschung hervorrief, als streckte sich dort ein unermesslicher Gletscher empor. Sie veränderte sich, und schon in einer halben Minute sah es aus, als wenn ein springendes Untier mit Hörnern von dort aus sich auf die Welt stürzen wollte. Und in seiner Freude über diese neue Entdeckung setzte Gabriel seine philosophische Erkenntnis wieder in Worte um: Alles, was ist, habe Sinn, denn sonst würde die ganze Schöpfung, die mit der Genauigkeit eines Sekundenmessers ihren Kreislauf vollbringe, keinen Zweck haben. Überall im Weltall sehe man die ordnende Hand einer unbegreiflichen Weisheit, und wenn alles dafür spräche, Sonne, Mond und Sterne, so sähe er nicht ein, weshalb auch nicht die Wolken ihre Sprache haben sollten, die sich bildlich äussere dem Sehenden und Empfindenden. Und sollten in ihr auch nur blosse Winke enthalten sein, sie seien doch immerhin dazu angetan, zum Nachdenken anzuregen. Und in diesem Falle hätten die wunderlichen Wolkengebilde ihren Zweck schon erreicht, denn sie zeugten vom Leben, das zum Leben spräche. Es gäbe eben nichts Totes in der Welt: alles fliesse, alles zeige den Strom ewigen Lebens, wenn es auch in anderer Form wiederkehre.

    Gabriel Kreuz sprach das aber alles nur zu einem Tauben, denn Thomas Nagel, schon sattsam gewöhnt an diese Weltanschauung, der er kein Verständnis entgegenbrachte, gähnte laut und warf sich unruhig hin und her. Dann, wieder auf dem Rücken liegend, streckte er sich ganz gehörig und sagte trocken: „Dann lass nur alles ruhig weiterfliessen. Nur den Regen beschwöre nicht herauf, das bitte ich mir aus, denn davon haben wir schon genug zu kosten bekommen. Jetzt aber sei so gut, wenn ich bitten darf, nur ein Viertelstündchen, ich möchte schlafen. Und dann weiter, damit wir bald zu einem anständigen Glase Münchener kommen! Und ist ein hübsches Mädel dabei, um so besser. Gute Nacht."

    Und um seine Müdigkeit zu beweisen, spielte er mit Talent den Schnarchenden.

    Das alte Schweigen trat ein, und die Natur träumte weiter in ihrer göttlichen Stille. Nur die beiden Menschen wachten, ein jeder auf seine Art, und überliessen sich ihren Gedanken, die so verschieden waren wie der blaue lachende Himmel und der tiefe, dunkle Abgrund, der sich irgendwo inmitten der Felsenriesen dahinten auftat.

    2.

    Gabriel Kreuz, überzeugt davon, dass der Freund schlief, überliess sich seinen Gedanken. Seine Eltern waren tot, er stand allein auf der Welt, und so dachte er darüber nach, was er, wieder heimgekehrt, beginnen solle, nachdem der Erbschaftsrausch sich in Nüchternheit aufgelöst haben werde. Er hatte Theologie studiert, zuerst in Greifswald, dann in Berlin, ohne aber, und das war das Merkwürdige, volle Befriedigung darin zu finden. Denn was ihn mächtiger anzog, ihn noch himmlischer dünkte als Gottes Wort, war die Musik, weil sie ihm gerade so weit entgegenkam, um die Stimmungen in seiner Gefühlswelt auszulösen. Sein Vater hatte vortrefflich Geige gespielt, und von irgend woher war in seiner Familie die Sage herübergeweht, dass ein Vorfahre, als die Kreuzens noch in den Dithmarschen angesiedelt waren, ein grosser Orgelspieler vor dem Herrn gewesen sei, zu dem sich das Volk in Scharen aufgetan habe, um sich an seiner mächtig brausenden Musik zu erbauen. Vielleicht, dass aus diesen vergangenen Jahrhunderten der Sinn für Töne sich gerade bei seinem Vater und ihm wieder neu belebt hatte nach dem Gesetz der sprunghaften Übertragung, woran er nun einmal glaubte wie an die ewigen Geheimnisse von Ursache und Wirkung im Weltall. Das hatte sich bei ihm schon als Kind gezeigt, da er, als bester Sänger im Dorfe, rein und melodisch sang, ohne eine Note zu kennen, und seiner Mutter Tränen der Rührung entlockte, wenn er am Weihnachtsheiligenabend das „Stille Nacht, heilige Nacht" anstimmte. Das war es auch, was ihn nach Berlin getrieben hatte, in die Hochflut der musikalischen Genüsse, in der sein Brotstudium unterzugehen drohte, wie die Redensart des besorgten Vaters war, der den zukünftigen Pastor schon Schiffbruch leiden sah. Etwas Wahres war daran, Gabriel konnte es nicht bestreiten, wenn auch sein religiöses Gefühl dasselbe blieb.

    Aber die elterliche Sparkasse sollte unter seinem schönen Eigensinn nicht leiden. Er nahm Stellungen als Stundenlehrer an, quälte sich, schon als junger Student, mit den unbegabtesten Rangen herum, um sein Musikstudium zu bezahlen und Oper und Konzerte besuchen zu können. Und diesen schweren Lebensweg zu gehen erleichterte ihm seine himmlische Geduld. Einmal erwog er, Sänger zu werden, dazu reichte aber seine Stimme nicht aus, und so begnügte er sich mit dem Klavierspiel, in dem er es nach und nach zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte. Das Geigenspiel hatte er bereits vom Vater gelernt, es aber über dem andern Spiel vernachlässigt. Das alles aber genügte ihm nicht; er wollte höher hinauf, etwas Grosses erreichen: wollte Tonsetzer werden, unsterbliche musikalische Werke schaffen. Obwohl er aber drei Jahre lang ein Konservatorium besucht hatte, fast meist in den Abendstunden, kam er bald dahinter, dass seine Begabung sich nur in engen Grenzen bewegte. So blieb er in der Musik mehr der Empfangende als der Gebende: nicht nur zum Kummer seiner selbst, sondern auch seines Vaters, der den Gedanken an diese zersplitterte Existenz seines Einzigen mit ins Grab nahm.

    Die Mutter glaubte mehr an ihn, so wie gute Mütter glauben. Und wenn Gabriel in den Ferien zum Besuch in das stille friesische Haus kam, sich an das alte Klavier setzte und seine schönen Lieder sang, ihr alle Opern vorspielte, dann sass sie mit gefalteten Händen da und hielt ihn für einen grossen Künstler, dem Gott wohlgefällig die Wege zu allen Offenbarungen gezeigt habe und noch weiter zeigen müsse. Wohl ihm, dass sie ausser dem Häuschen auch noch ein nettes Sümmchen für ihn bereit hatte, das ihm dereinst den Flug zur Höhe gar sehr erleichtern werde!

    Und so war es denn gekommen, dass Gabriel Kreuz schon an die Dreissig sich befand, als auch die Mutter alles überstanden hatte, aber nicht, wie der treue, vorangegangene Lebensgefährte, irre geworden an dem Ein und Alles ihres Lebens; und so war es auch gekommen, dass Gabriel nun mit Schrecken inne wurde, dass er schwankender denn je in seinen Entschlüssen sei, ob er nun umkehren oder vorwärts solle. Er sah den toten Punkt, der einen Lebensabschnitt beschloss, ohne dass der Anfang zu einem neuen schon gefunden war. Des Haderns mit sich selbst müde, die Aussichten in der Tasche, wenigstens nicht Not leiden zu müssen, machte er sich zu einer Erholungsreise auf, um in den Bergen Kraft zu neuem Lebenskampfe zu schöpfen. Und dieser Lebensruck wurde tapfer von seinem Freunde Thomas Nagel unterstützt, der sofort der Meinung war, dass es sich zu zweien besser wandere, als allein. Gabriel Kreuz war das willkommen, denn so verfiel er nicht der Grübelsucht über sich und sein Schicksal, unter der er letzthin, war er allein, beinahe schon gelitten hatte. Und im Grunde genommen, liebte er doch die Geselligkeit, schon um der Aussprache willen über alles Grosse, was den Menschengeist bewegt. Und war es mit dem meistens spottsüchtigen und verneinenden Nagel auch nur ein Plaudern, manchmal über Tagesdinge, — so bot das doch genug Ablenkung und verkürzte die Zeit während der Fahrten.

    Und das war es auch, was ihn besonders zu Thomas Nagel hingezogen hatte, als er ihn vor zwei Jahren als Stubennachbar bei seiner Wirtin in Berlin kennen gelernt hatte, in einer der älteren Strassen des Potsdamer Viertels, aus denen die Vornehmheit allmählich weiter nach dem Westen geflohen war. Er sah sofort, dass Nagel ein armer Teufel war, der alles Heil vom anderen Tage erwartete und an sich glaubte, wenn er auch nicht besonders wählerisch in den Mitteln war, die diesem Glauben zum Siege verhelfen sollten. Aber, du mein Gott, borgen war keine Schande, wenn die Not an die Tür pochte! Und da Gabriel Kreuz die Nächstenliebe als Pastor dereinst hatte verkünden sollen, so hielt er sich für verpflichtet, nun, wo er entgleist war, ebenso die offene Hand zu zeigen, wie er es nach christlicher Anschauung später erst recht hätte tun müssen. Ausserdem: in diesem findigen Techniker steckte etwas, was erst herausgeholt werden musste, und das war die beste Gewähr dafür, dass dieses Wohltun sich dereinst gut verzinsen würde; auch als Darlehen gedacht, denn grosse Gaben hatte Kreuz nicht zu verschenken.

    Er hätte ebenso gut einen Kunstgenossen mit auf die Wanderfahrt nehmen können, denn es liefen genug davon herum im grossen Berlin, die mit Freuden eingeschlagen hätten. Dann wäre er aber um seine ganze Erholung gekommen, denn die Musik war dazu da, um sie auszuüben, nicht aber, um während des ganzen Tages davon zu sprechen. Thomas Nagel hörte aber darüber nur geduldig zu, ohne zu streiten, denn er verstand nichts von Musik, höchstens, dass er landläufige Bemerkungen darüber fallen liess, und das war für Gabriel Kreuz gerade das Beruhigende und Erfrischende. Er konnte seine Meinung austoben lassen, ohne wenigstens darin auf Widerstand zu stossen.

    Und dann gab es noch eines, was sein Gemüt befruchtete: die drastische Ausdrucksweise des Freundes, die ihm, dem Norddeutschen von der Waterkant, wo die Derbheit manchmal gottgefällig war, als wohltuender Ausgleich mit der verlogenen Süssigkeit der überfeinen Kulturwelt dünkte. Denn dieser behagliche Dessauer, in jungen Jahren schon nach Spree-Athen gekommen, hatte sich mit der Zeit so ins Berlinertum eingelebt, dass sich aus dem Provinzialen schliesslich einer jener grossen Überschlauköpfe entwickelt hatte, von denen die Einheimischen einfach lernen können.

    So glichen sie zwei aufgeweckten Kameraden, die um so besser miteinander auskommen, je entfernter ihre Lebensziele liegen. Ein jeder nahm die Belehrungen des anderen gerne hin, weil sie mit seinem Berufe nichts zu tun hatten. Und platzten sie in weltphilosophischen Dingen aufeinander, dann war es Gabriel Kreuz, der durch seine sanfte Ruhe den Zorn des anderen verrauchen liess, teils des Friedens wegen, teils weil er Mitleid mit ihm hatte.

    Während Kreuz so seine Gedanken spann und nun erwog, ob es nicht an der Zeit sei, den Gefährten zu wecken, damit man weiter komme, wurde er, wohl durch den steten Blick auf die weisse Wolke über ihm, selbst von der Müdigkeit befallen, gegen die er vergeblich kämpfte. Bald schlief er ein, und seine regelmässigen Atemzüge verkündeten, dass dieser Schlaf in freier Luft tief und fest war, von der Art, wie ihn die Sorglosen und Unbekümmerten schlafen.

    Gabriel träumte. Zuerst war es ein schöner Traum, aus reiner Seele geboren. Er sass oben in Ost-Friesland, im alten Schulmeisterhaus, bei Vater und Mutter. Sie lachten alle drei. Dann ging die Tür auf, und man brachte Johannes Kreuz, seinen Bruder herein, der als Matrose übers Meer gezogen war, und den man niemals wiedergesehen hatte, weil der Dreimaster mit Mann und Maus untergegangen war. Man legte ihn stumm und still auf die Dielen. Der Vater war starr, die Mutter aber schrie auf. Und da gerade, als sie sich jammernd über ihn geworfen hatte, wurde Johannes wieder lebendig, richtete sich auf und lachte sie alle an. Und sie lachten mit, und die Männer, die ihn gebracht hatten, lachten ebenfalls. Der Vater aber wischte sich die Tränen aus den Augen und meinte zu dem Wiedergekehrten, er solle doch solche Witze lassen. Dann nahm er seine Geige und spielte ihnen etwas Lustiges auf. Plötzlich war Gabriel allein im Zimmer und lag auf derselben Stelle, wo soeben noch der tote Bruder gelegen hatte. Es wurde dunkel, und ein Ungeheuer kroch auf ihn zu, und er konnte weder schreien noch sich bewegen, obwohl er beides wollte.

    In Wirklichkeit passierte etwas Ähnliches. Thomas Nagel hatte sich zur Hälfte erhoben, sah sofort, dass der Freund fest eingeschlafen war, und machte sich vorsichtig an die Arbeit. Er knöpfte dem Schläfer das Lodenjackett auf, dann die Weste darunter, beides gerade weit genug, dass er hineinfassen und das Kuvert mit dem Gelde nehmen konnte. Rasch verbarg er es in seiner

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