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Die Madonna vom Grunewald
Die Madonna vom Grunewald
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eBook270 Seiten3 Stunden

Die Madonna vom Grunewald

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Über dieses E-Book

Hans Hauff, 35 Jahre alt, nervenschwach, angstbeladen und hypochondrisch, wird nach einer Nervenattacke ins Forsthaus am Teufelssee im Berliner Grunewald gebracht. Dort trifft er auf eine geheimnisvolle junge Frau, der er fortan auf sonderbare Weise immer wieder begegnet. Nach anfänglicher Zurückhaltung verliebt er sich immer mehr in die rätselhafte "Madonna vom Grunewald", die sein Inneres fast besser zu kennen scheint als er selbst. Doch je mehr er Hilda Donner habhaft zu werden wünscht, desto mehr scheint sie sich ihm zugleich zu entziehen. Ein außergewöhnlicher Liebesroman über die Angst vor dem Alleinsein, den Triumph des Willens über die eigene Schwäche und über die Macht der Liebe, die alle Hindernisse zu überwinden vermag. Mit dem scharfen Blick des Diagnostikers und mit den Augen des Dichters sowie absoluter Lebenstreue und, nicht zu vergessen, einer erfrischenden Prise Humor, hat Kretzer in diesem Roman einen Stoff behandelt, dessen faszinierende Eigenartigkeit ebenso überrascht wie fesselt. Die ganze Erzählkunst des bedeutenden naturalistischen Autors tritt hier glänzend zutage.Max Kretzer (1854–1941) war ein deutscher Schriftsteller. Kretzer wurde am 7. Juni 1854 in Posen als der zweite Sohn eines Hotelpächters geboren und besuchte bis zu seinem 13. Lebensjahr die dortige Realschule. Doch nachdem der Vater beim Versuch, sich als Gastwirt selbstständig zu machen, sein ganzes Vermögen verloren hatte, musste Kretzer die Realschule abbrechen. 1867 zog die Familie nach Berlin, wo Kretzer in einer Lampenfabrik sowie als Porzellan- und Schildermaler arbeitete. 1878 trat er der SPD bei. Nach einem Arbeitsunfall 1879 begann er mit der intensiven Lektüre von Autoren wie Zola, Dickens und Freytag, die ihn stark beeinflussten. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans "Die beiden Genossen" 1880 lebte Kretzer als freier Schriftsteller in Berlin. Max Kretzer gilt als einer der frühesten Vertreter des deutschen Naturalismus; er ist der erste naturalistische Romancier deutscher Sprache und sein Einfluss auf den jungen Gerhart Hauptmann ist unverkennbar. Kretzer führte als einer der ersten deutschen Autoren Themen wie Fabrikarbeit, Verelendung des Kleinbürgers als Folge der Industrialisierung und den Kampf der Arbeiterbewegung in die deutsche Literatur ein; die bedeutenderen Romane der 1880er und 1890er Jahre erschlossen Schritt für Schritt zahlreiche bislang weitgehend ignorierte Bereiche der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Prosaliteratur: das Milieu der Großstadtprostitution (Die Betrogenen, 1882), die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats (Die Verkommenen, 1883; Das Gesicht Christi, 1896), die Salons der Berliner "besseren Gesellschaft" (Drei Weiber, 1886). Sein bekanntester Roman, "Meister Timpe" (1888) ist dem verzweifelten Kampf des Kleinhandwerks gegen die kapitalistische Konkurrenz seitens der Fabriken gewidmet. Während Kretzer anfangs der deutschen Sozialdemokratie nahestand, sind seine Werke nach der Jahrhundertwende zunehmend vom Gedanken eines "christlichen Sozialismus" geprägt und tragen in späteren Jahren immer mehr den Charakter reiner Unterhaltungsliteratur und Kolportage. Er starb am 15. Juli 1941 in Berlin-Charlottenburg.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Mai 2016
ISBN9788711502778
Die Madonna vom Grunewald

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    Buchvorschau

    Die Madonna vom Grunewald - Max Kretzer

    Erstes Kapitel.

    An einem dunkeln Nachmittage, als kurze Regenschauer hintereinander den Grunewald durchnässt hatten, vernahmen Holzfäller tief im einsamen Forst laute Hilferufe, die vom Wege herzukommen schienen, der von der sogenannten Saubucht mitten durch eine offene Schonung führte. Und als zwei von ihnen mit langen Schritten der Stelle zueilten, fanden sie einen Herrn vor, der mit schreckhafter Miene auf einem Baumstumpf sass, sich abwechselnd mit der Linken an die Kehle und an sein Herz fasste und den Eindruck eines Menschen machte, der den Tod vor Augen zu haben glaubt.

    Er war ihnen nicht unbekannt. Schon öfter hatten sie ihn in Gesellschaft anderer Herren gesehen, die an bestimmten Tagen ihre Fusstour durch den Wald zu machen pflegten. Ohne ihn näher zu kennen, wussten sie nur, dass die Wandergenossen ihn mit Herr Doktor anredeten, und so benutzten sie denn auch diese Titulatur sofort, um sich nach der Ursache seiner Bedrängnis zu erkundigen.

    „Wo sind sie denn? Wohl durch die Schonung?" fragte Stahlknecht, nachdem er sich teilnahmsvoll zu ihm niedergebeugt hatte. Die blauen Augen des bärtigen Hünen, der, noch kaum ausgereckt von der Arbeit des ewigen Bückens, mit leicht geknickten Knien vor dem Unglücklichen stand, gingen suchend im Kreise, als müsste er noch irgendwo des Attentäters ansichtig werden, um ihn seine mächtige Faust fühlen lassen zu können.

    „So’n Gesindel. Schon am lichten Tag treiben sie’s," warf Vater Krause ein, ein bereits weissbärtiger Mann, der seinem Genossen kaum bis an die Schulter reichte. Und auch seine kleinen, kugelrunden Augen gingen beweglich hin und her, während er sich aber zugleich misstrauisch das Haar unter dem schmutzigen Filzdeckel kraute. Wenn es einen Überfall gab, so mussten doch mindestens immer zwei dabei sein, und er hätte bei den vierzig Jahren, die er hier im Walde zugebracht hatte, schwören mögen, nur einen Menschen zwischen den Bäumen bemerkt zu haben.

    Doktor Hauff gab ihnen in abgerissenen Worten Aufklärung, wobei seine Stimme schwach und unsicher klang. Er habe einen Nervenanfall gehabt, durch den er beinahe erstickt worden sei. Dort drüben, wo der Holzstoss liege, habe es begonnen. Das Herz habe ihm plötzlich wie dumpfer Kanonendonner geschlagen, ein grosses Schwächegefühl sei über ihn gekommen, fürchterliche Angst habe ihn gepackt und so habe er laut um Hilfe gerufen und sich hier niedergelassen, um den Tod zu erwarten. Seine Visitenkarte mit den letzten Grüssen an seine Angehörigen habe er neben sich gelegt.

    Alles das sagte er mit grosser Überzeugung, als hätte er Leute aus seinen Kreisen vor sich, die ihn sofort verstehen müssten. Aber Stahlknecht und Vater Krause verstanden ihn auch nicht, als die Worte „die Nerven, die Nerven" immer wieder an ihr Ohr drangen.

    Fast gleichzeitig nahm jeder von ihnen die kurze Pfeife aus dem Munde, drückte mit dem Finger den schmokenden Kanaster zusammen und sah dabei den anderen an, als wollte er sagen: „Merkst du ’was davon? Er sieht ja gesund als wie die Kiefer oben am Zopf. Am Ende will er uns nur aufziehen."

    Sie hatten von Nerven noch nichts gehört, wenigstens nicht in diesem Zusammenhange; und dass die Nerven nun gar imstande sein könnten, einen Menschen anzufallen — davon hätten sie sich niemals etwas träumen lassen. Am liebsten hätten sie lachen mögen, wenn sie bedachten, dass sterbenskranke Menschen auch danach aussehen mussten.

    Erst, als Doktor Hauff sich mit Mühe erhob und wie verlangend die Arme nach ihnen ausstreckte, hatten sie die dunkle Empfindung, es mit irgend einem Ereignis zu tun zu haben, für das ihnen das Verständnis abging. Bereitwillig zeigten sie die Unterstützung braver Menschen, ergriffen ihn sanft und hielten ihn aufrecht, in der Meinung, er könnte im nächsten Augenblick ihren Händen wieder entfallen.

    Hans Hauff blieb stehen und fühlte wieder jene Kraft in sich, die den nervenschwachen Menschen überkommt, sobald er das Bewusstsein hat, nicht mehr ohne Hilfe zu sein. Der Wille seiner fünfunddreissig Jahre regte sich kraftvoll, der stärkere Geist versuchte den Körper zu knechten, und so ging er am Arme Stahlknechts, zwar schwankend und unsicher wie ein Betrunkener, aber doch mit dem schönen Gefühle, das der Mensch hat, wenn er dem Tode soeben entwichen ist. Nur der Schauer der Sterbeangst war zurückgeblieben und durchzitterte nach wie vor seine Glieder. Unbestimmte Wahnvorstellungen folterten ihn und liessen ihn den Druck eines Seelenzustandes empfinden, den er niemals vorher gekannt hatte.

    „Führen Sie mich nach dem Forsthause, es soll Ihr Schaden nicht sein," sagte er, getrieben von der Sehnsucht nach einem Orte, wo er bekannt war.

    „Jawohl, Herr Doktor, das tu’ ich gern," gab Stahlknecht zurück.

    Man musste an der Stelle vorüber, wo die Männer arbeiteten. Im Herbst vergangenen Jahres hatte es einen starken Windbruch gegeben, so dass mächtige Kiefern wie die Halme gefallen waren. Das hatte Arbeit den ganzen Winter durch gemacht, um das Nutzholz wegzuschaffen, und nun war man dabei, das Brennholz zu spalten und aufzuklaftern und auch aus den Kronen das Brauchbare herauszuschneiden.

    Noch ein dritter Arbeiter rührte gemächlich die Hände. Er war taub, zog beim Anblick des Doktors nur die Mütze und arbeitete ruhig weiter. Erst als Vater Krause ihm etwas ins Ohr hineinrief, fiel es ihm auf, dass der Herr am Arm des Kollegen hing. Verwundert betrachtete er ihn einige Augenblicke, dann beugte sich der steife Rücken wieder zur Erde.

    Ein grosser, schwarzer Ziehhund, der unter der Deichsel des Holzwagens lag, wurde munter und stiess beim Anblick Hauffs ein kurzes freudiges Bellen aus, das dumpf und hohl den stillen Wald durchschallte. Die Herren vom „Waldklub hatten ihn wie die übrigen Tiere, die sie am Wege fanden, durch das Mitbringen von Knochen verwöhnt, und so witterte er auch jetzt die übliche Papierhülle in der Tasche des Doktors. Er beruhigte sich erst, als Stahlknecht ihn mit einem energischen „Kusch dich aus dem Bereiche Hauffs brachte, denn wütend hatte er zuletzt an seinem Strick gezerrt und den ganzen Wagen in Bewegung gebracht.

    Hauff gab jedem eine Zigarre, verschmähte nicht einen schluck aus der Flasche Vater Krauses, der ihm wie ein seltenes Labsal erschien, und schritt dann in Begleitung Stahlknechts die Schonung entlang, deren ganze äusserste Ecke man nehmen musste, um ans Ziel zu gelangen.

    Der frische Erdgeruch des beginnenden Frühlings stieg empor, erweckt vom warmen Regen. Schärfer als je strömten die Kiefern ihren Duft aus, mit dem sich der starke Geruch des Kiens im geschlagenen Holz mischte. Die Luft war rein und geklärt, aber noch erfüllt von den leisen Schauern der Nässe. Das erste frische Grün der Grasspitzen lugte verlangend aus dem Boden hervor. In der Ferne zwischen den Stämmen hing der graue Nebeldunst des Abends, der schwer und trübe, beschleunigt durch die dunkeln Wolkenmassen am Himmel, früh hereinzubrechen drohte.

    Und diese trostlose Stimmung im Walde war es gerade, die auf Hauffs Gemüt gewirkt und seine Nerven in Aufruhr gebracht hatte. Noch einmal wollte er in einem grossen Gedankenzug den Vorgang mit allen Einzelheiten zusammenfassen, aber es gelang ihm nicht, denn ihm fehlte die Kraft zum Denken — jene frische befriedigende Kraft, die ihn noch am Abend vorher in seiner Studierstube so beglückt hatte. Wie froh hatte er sich schlafen gelegt, zwar aufgeregt wie immer nach geistiger Tätigkeit, die bis tief in die Nacht währte, aber doch friedlich, ungepeinigt von dem Angstgefühl, das ihn nun die Einsamkeit wie ein Schreckgespenst empfinden liess. Denn er wusste: hätte man ihm einen goldenen Berg versprochen, er würde heute nicht noch einmal denselben Weg genommen haben, den er soeben zurückgelegt hatte.

    Er war krank, wirklich krank; in einer Stunde war er es geworden, wie die heitere Schönheit sich plötzlich in traurige Hässlichkeit verwandelt. Er fühlte einen anderen Menschen in seinen Kleidern, einen über die Jahre hinaus gealterten, der den Gedanken nicht los werden konnte, der Tod müsste ihn doch noch plötzlich ereilen.

    Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, so dass er fortwährend an die Kehle griff, und Handflächen und Stirn waren fettig von nervösem Angstschweiss, der immer aufs neue sich zeigte, so oft er ihn auch trocknete.

    Als das Stahlknecht eine Weile beobachtet hatte, kam ihm dieses Benehmen sonderbar vor, und noch mehr, als Hauff wiederholt mit der Frage hervorkam, wie er denn aussehe.

    „Aber ganz gesund, Herr Doktor, ganz gesund, gab er zurück. „Man sollte meinen, dass Ihnen gar nichts fehlt. Sein Gedanke dabei aber war: „Etwas los bei ihm da oben muss doch sein. Und er wurde in dieser Meinung noch bestärkt, als Hauff ihm erwiderte: „Die kranken Nerven kann man nicht sehen, lieber Mann.

    Stahlknecht schritt auf seinen grossen Waldtretern gleichmässig neben ihm her. Das Wort „Nerven" machte ihm wieder zu schaffen. Das mussten ja verflixte Dinger sein, die dem Menschen zusetzten, ohne dass man es ihm ansehen konnte. Nur die feinen Leute sollten sie haben, davon hatte er schon gehört. Menschen seines Schlages blieben davon verschont, das wusste er auch.

    „Nun können der Herr Doktor sich ja selbst etwas verschreiben, was gut tut dagegen, sagte er wieder. Seiner Meinung nach waren alle Herren, die diesen Titel führten, Ärzte. Und als Hauff ihm die Aufklärung gab, dass er es mit einem „anderen Doktor zu tun habe, machte der Hüne ein etwas dummes Gesicht, schob seine Mütze zurück und sagte wichtig: „Das is nu so, Herr Doktor. Sie müssen mit dem Kopp arbeiten und wir mit den Fäusten. Dafür kriegen wir auch die Dinger nich, die Sie haben." Dann, nach einer Kunstpause, kam er vorsichtig mit der Frage hervor, was die Nerven eigentlich seien.

    „Bestien, Bestien, lieber Stahlknecht, gab Hauff zur Antwort, „kleine, lose Bestien. Sie peinigen uns, ohne dass wir sie dafür bestrafen können. Im Gegenteil — wir müssen ihnen noch gut zureden und sie sanft behandeln. Sonst rächen sie sich doppelt.

    Nun wurde Stahlknecht erst recht nicht daraus klug. Mit einem „Ach, so ist das" schwieg er sich aus.

    Sie waren am Teufelssee angelangt, zu dem es bergab ging. Still und grau lag der Spiegel des Wassers, in dem sich der Torfstich vorn wie eine schwarze Wand in der Tiefe verlor. Der bewölkte Himmel, die dunkeln Kiefern, die sich drüben, den Berg hinauf, wie eine starrende Wehr auftürmten, das leise Prasseln des Regens, der jetzt aufs neue in grossen Strichen herniederfiel — alles erhöhte die trübe Stimmung in Hauffs Seele. Gerade so hatte sich plötzlich der Himmel verfinstert, als er es Nacht in sich und um sich werden fühlte.

    „Kommen Sie schneller," sagte er und klammerte sich ängstlicher an des Waldarbeiters Arm fest.

    „Nun hat’s keine Weile mehr, Herr Doktor. Da pustet die Maschine schon."

    Vorn, der Fahrstrasse zu, die hinauf nach Westend führte, lagen die Charlottenburger Wasserwerke. Das rote Mauerwerk hob sich leuchtend aus dem Waldesgrunde ab, und wie eine Porphyrsäule ragte der Schlot in den Regendunst hinein, gekrönt von dem schwarzen Qualm, der sich in mächtigen Flocken um seinen Kranz legte. Das dumpfe Fauchen der Maschine schien aus der Erde zu kommen. Hauff blieb verwirrt stehen. Er glaubte wieder das laute Klopfen seines Herzens zu vernehmen, und so ging er erst beruhigt weiter, als Stahlknecht ihm seinen Irrtum genommen hatte.

    Das Forsthaus lag hinter dem Wasserwerk. Es war ein schmuckes, steinernes Haus, das mit seinem Erker und den Treppenüberdachungen mehr den Eindruck eines Landhauses machte. Hinter dem Hause befand sich ein Gärtchen, in dem kleine Lauben mit Naturtischen dm Wanderer zum Ruhen einluden. Es gab nur Kaffee und frische Milch. Die Frau Förster, eine rundliche Frau mit einnehmenden Zügen, stand im Rahmen der Haustür. Sie hatte die beiden kommen sehen und war verwundert hinausgeeilt.

    „Dem Herrn Doktor ist schlimm geworden, raunte ihr Stahlknecht zu, als Hauff wortlos nach einem „Guten Tag in dem kleinen Wohnzimmer Platz genommen hatte, das mit den vielen Geweihen, dem Schmuckschrank, der mächtigen Truhe und sonstigen Möbelstücken ein Gemisch von Stadt- und Landeinrichtung bildete.

    Oh, das tue ihr leid. Sie wolle gewiss alles tun, um dem Herrn wieder auf die Beine zu helfen. Sofort kam sie mit Baldriantropfen, von denen sie fünfzehn auf ein Stückchen Zucker tröpfelte, das sich Hauff geduldig in den Mund schieben liess. Dann blickte er wieder, den Kopf auf die Hand gestützt, durch die kleinen Scheiben hinaus in den Wald, ohne an etwas anderes als an seinen Zustand zu denken. Die Stubenluft tat ihm plötzlich wohl. Und so gab er sich mit stillem Behagen der ersten Ruhe hin.

    „Herr Doktor, ich kenne Sie ja gar nicht wieder," rief die Frau Förster aus, die ihn bisher nur als einen munteren, stets gut aufgelegten Herrn gekannt hatte.

    „Er hat’s mit den Nerven, raunte ihr Stahlknecht wieder zu, der, die Mütze in der Hand, bescheiden an der Tür stehen geblieben war. „Das sollen ja höllische Bestien sein, Frau Förstern. Und gut zureden soll man ihnen — und gut behandelt müssen sie auch werden.

    Sie lachte unterdrückt. „Das wollen wir schon besorgen, Stahlknecht. Ein starker Kaffee tut Wunder. Sie können draussen auch eine Tasse trinken."

    Hauff hatte ihm ein Markstück in die Hand gedrückt, und so empfahl er sich mit einem ungeschickten Bückling, dem Herrn Doktor gute Besserung wünschend.

    Es dauerte nicht lange und die Frau Försterin kam mit dem heissen Kaffee, den Hauff begierig schlürfte. Allmählich fühlte er sich belebt, die Mattigkeit schwand, das Herz schlug ruhiger, obgleich er den fettigen Schweiss nach wie vor auf Stirn und Hand verspürte. Die Neugierde der Wirtin regte sich. Stahlknecht hatte ihr zwar draussen von dem Auffinden Hauffs erzählt, sie hätte diesen aber noch gar zu gern ausgeforscht, wie denn alles gekommen sei. Schon wollte er gesprächig werden, als er bemerkte, dass sie nicht allein waren.

    Hinter ihm, am Sofatisch, sass eine junge Dame, die ebenfalls ihren Kaffee trank und allem Anscheine nach gleich ihm hier eingekehrt war. Sein Blick hatte sie nur flüchtig gestreift, so dass ihm nur ein Paar grosse, ganz merkwürdige Augen in der Erinnerung geblieben waren. Und so fühlte er sich plötzlich eingeschüchtert, hier von seiner Schwäche zu reden.

    „Oh, es ist durchaus nichts Besonderes, Frau Förster, bemerkte er ausweichend. „Nur ein kleines Unwohlsein, das bald vorübergehen wird. Das kann ja einem Menschen begegnen, der Frau und Kinder hat, wie Ihr Mann immer zu pflegen pflegt.

    „Und der Herr Doktor haben noch nicht ’mal welche." Sie glaubte einen Witz gemacht zu haben, lachte laut auf, so dass ihre kernigen Zähne sichtbar wurden, fragte nach seinem sonstigen Begehren und ging dann, als er dankend abgelehnt hatte, mit einer alltäglichen Bemerkung hinaus, weil lautes Kindergeschrei vernehmbar wurde.

    Eine Weile herrschte Stille im Zimmer. Gleichmässig ertönte das harte Ticktack der alten Wanduhr und dazwischen das sanfte Klirren des Löffels vom Sofatische her. Hauffs Gedanken drehten sich um die Frage, wie er wohl nach Hause kommen werde. Der Regenschauer war wieder vorübergegangen, ein Sonnenstrahl verirrte sich verheissungsvoll zur Erde nieder und durchleuchtete die grossen Regentropfen, die an den Sträuchern im Gärtchen hingen. Und während sein Auge erquickend diesen ersten Sonnenstrahl am dunkeln Nachmittage mit einer gewissen Erlösung förmlich einsog, platzte eine melodische Stimme in sein stilles Brüten hinein, so dass er erschreckt auffuhr.

    „Bitte um Verzeihung, mein Herr ... Ich hörte soeben, dass Sie nervenleidend seien — Sie sollten dann jedenfalls nicht allein Ihre Spaziergänge machen."

    Er war so überrascht, dass er nicht gleich eine Antwort fand, sondern seinem Stuhl einen Ruck gab, sich ihr zuwandte und sie erwartungsvoll anblickte. Von dem Bedürfnis beseelt, in dieser schweren Stunde fremde Gesichter zu fliehen, fühlte er sich gerade jetzt am wenigsten aufgelegt, sich mit einer Unbekannten in Erörterungen über seine persönlichsten Dinge einzulassen. Und so erwiderte er etwas kurz angebunden:

    „Ich werde jedenfalls Ihren Rat befolgen, mein Fräul— — werte Frau," verbesserte er sich rasch.

    „Bitte, bleiben Sie bei dem Fräulein, warf sie lächelnd ein. „Das tut ja auch nichts zur Sache. Ihr ,jedenfalls‘ gibt mir ,jedenfalls‘ eine Lehre, mich nicht um die Leiden anderer zu bekümmern. Es interessierte mich nur, weil es einem mir bekannten Herrn gerade so erging wie Ihnen heute. Er hatte auch einen Anfall, als er allein war. Leider hatte er nicht die Willenskraft, Herr über seine Nerven zu werden.

    Ihre letzten Worte waren von einem schwachen Seufzer begleitet. „Bitte nochmals um Verzeihung für meine Voreiligkeit."

    Damit leerte sie rasch ihre Tasse und sah sich nach der Tür um, als müsste sie jeden Augenblick das abermalige Erscheinen der Frau Förster erwarten. Schon vorher hatte sie, Geld aus einem kleinen Netzportemonnaie genommen, und so rüstete sie sich nun zum Aufbruch.

    Hauff fühlte sich leicht beschämt, denn diese Wendung hatte er nicht erwartet. Und sich sofort bewusst werdend, dass er eine Dame vor sich habe, die mit den Gepflogenheiten der grossen Welt da draussen vertraut sei, lenkte er ein, indem er nun seinerseits um Entschuldigung dafür bat, dass man in seinem „jedenfalls" etwas gefunden, was er nicht beabsichtigt habe.

    „Na, na, Sie haben es doch getan," klang es unter einem Lächeln zurück, das mehr Gutmütigkeit als Spottsucht enthielt.

    „Und Sie nicht? gab er mit leisem Ärger zurück. „Ich habe Ihr ,jedenfalls‘ auch ganz gut verstanden, meine Gnädige.

    „Ich bin nicht gnädig, mein Herr, Gott allein ist es. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass wir wirkliche Gnade nur vom Himmel zu erwarten haben. Deswegen brauchen Sie mich aber nicht gleich für fromm zu halten. Keineswegs. Aber von allen Phrasen, die wir Menschen im täglichen Leben wechseln, ist mir das Wort ,Gnädige‘ am verhasstesten. Was ist heute nicht alles gnädig: der Hausknecht, wenn er Protz geworden ist, die Köchin, wenn sie auf derselben Glücksleiter emporgeklimmt ist, und schliesslich auch der unreinlichste Mensch, wenn er die gehörigen gesellschaftlichen Waschungen durchgemacht hat. Ich bilde mir das wenigstens ein. Gnade soll das Vorrecht der Fürsten auf Erden sein, also doch nicht etwas Alltägliches. Wir aber haben das Wort gnädig zu einer ganz gewöhnlichen Umgangsform herabgewürdigt, und das imponiert mir nicht."

    Alles das sagte sie sehr ruhig und bestimmt, während sie den Schleier, den sie über den schmucklosen, dunkeln Winterhut gestreift hatte, langsam über das Gesicht zog und glättete, wobei er ihre auffallend schmalen und weissen Hände bewundern konnte.

    An diesen Händen hing sein Blick mehr als an ihrem Gesicht, in dem auch jetzt noch die grossen Augen auffallend sich bemerkbar machten und ihren unberechenbaren Glanz durch die Maschen des Schleiers sandten.

    Er wusste nicht, ob er sich durch diese lebensphilosophische Auseinandersetzung angenehm berührt fühlen sollte; jedenfalls empfand er im Augenblick keine grosse Lust, darauf einzugehen. Und so nickte er nur zerstreut, ungefähr wie jemand, der derartige Redensarten sehr schön findet, sich aber dadurch belästigt fühlt. Bei sich aber dachte er: „Dumm scheint sie nicht zu sein. Schade nur, dass ich heute keinen Geschmack daran finde. Schliesslich kann man ja nie wissen, wie’s gemeint ist."

    Eine trübe Erfahrung hinter sich, verspürte er keine Neigung, sich eine neue Bekanntschaft aufzuhalsen, und so glaubte er durch eine letzte höfliche Verbeugung seiner Anstandspflicht genügt zu haben. Er wandte sich wieder dem Fenster zu und blickte mit Seelenwollust in die breiten Sonnenstreifen, die nun das junge Grün des Waldes hell erglänzen liessen.

    Als er dann ein kurzes „Adieu vernahm und ebenso erwiderte, sah er nur flüchtig eine schlanke Gestalt zur Tür hinausschlüpfen. Sie musste sich besonnen haben, nicht mehr länger auf die Wirtin zu warten, vielmehr draussen zu bezahlen, denn er hörte ein lautes „Auf Wiedersehen der Frau Förster. Unwillkürlich reckte er den Hals, um der Unbekannten noch einmal ansichtig zu werden. Wirklich sah er sie auch vorübergehen, und dabei hatte er die Empfindung, sie müsste noch einen Blick auf ihn zurückwerfen. Aber sie tat es nicht. Rasch war sie um die Ecke verschwunden.

    Plötzlich empfand er grosse Unruhe. Das Zimmer erschien ihm dumpf und eng, er erhob sich, ging hastig von einem Fenster zum anderen und blickte hinaus, um nach Menschen zu spähen. Erst als die Frau Förster eintrat, atmete er erleichtert auf.

    „Was machen wir nun, was machen wir nun, brachte sie lebhaft hervor. „Ich wollte Ihnen den Revierjungen mitgeben, und nun ist er hinter meinem Rücken fortgegangen. Er muss es gerade überhört haben.

    Sie war sehr besorgt um Hauff, denn sie hatte sich zusammengereimt, dass er auch noch bis zum Bahnhof eines Begleiters bedürfen

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