Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche
Die Tränen der Rocky Mountain Eiche
Die Tränen der Rocky Mountain Eiche
eBook641 Seiten9 Stunden

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

David Hofer wächst als Sohn einer deutschen Einwanderin im prüden St Louis auf. Er gilt als Ausgestoßener, da er ein uneheliches Kind ist. Schon früh ist er Anfeindungen ausgesetzt und lernt die Doppelmoral der Spießbürger kennen. Als die Mutter stirbt, hält ihn nichts mehr in der Enge der Zivilisation. Mit einer Gruppe Trapper beginnt er eine abenteuerliche Reise bis hoch zum Yellowstone und zu den Shoshone. Er wird Mountain-Man, Voyageur und Abenteurer … bis die Zivilisation ihn auch an diesem abgelegen Flecken einholt.
Der Autor zeichnet scharf umrissene, einprägsame Charaktere, die jeder auf seine Weise – die harte Zeit der frühen Westwanderung repräsentieren. Er verknüpft seine Geschichte geschickt mit tatsächlichen Ereignissen und beweist auf den verschiedenen Handlungsebenen Sachkenntnis und eingehende Recherche. (Dietmar Kuegler, der das Buch vorab rezensiert hat)
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juli 2021
ISBN9783941485945
Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

Ähnlich wie Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Tränen der Rocky Mountain Eiche

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Tränen der Rocky Mountain Eiche - Charles M. Shawin

    Die Tränen der

    Rocky Mountain Eiche

    Historischer Roman

    von

    Charles M. Shawin

    logo.jpg

    Impressum

    Die Tränen der Rocky Mountain Eiche, Charles M. Shawin

    TraumFänger Verlag Hohenthann, 2019

    eBook ISBN: 978-3-941485-94-5

    Datenkonvertierung: digitalreprint gmbh

    Lektorat: Michael Krämer

    Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag

    Titelbild: Alfredo Rodriguez

    1. Auflage Mai 2021

    Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG, Hohenthann

    Printed in Germany

    Inhaltsverzeichnis

    Das Schiff

    Dave

    Cuthbert

    Der Anlegesteg

    Clarissa

    Mr Blackmore

    Orlando Bell

    Die Mandanen

    Yellowstone

    Blackfeet

    Boston

    Geschäfte

    Wölfe

    Waicoh

    Ein Geschenk

    Massachusetts

    Kaleb

    Weihnachten

    Das Blackfoot-Mädchen

    Die Shoshonen

    Wettspiele

    Four Ravens

    Das Ballrennenspiel

    Cheyenne

    Familie Borden

    Büffel

    Raub

    Die Rocky Mountain Eiche

    Trapper

    Skohkooni

    Flucht

    Humphrey

    Daisy

    Bennry

    Siedler

    Christuskreuz

    Die Siedlung

    Der Reverend

    Die Tränen der Eiche

    Sioux

    Mrs Hayden

    Blackmore

    Ein neues Haus

    Tanz

    Versuchung

    Die Kuh

    Samariter

    Baxter

    Notwehr

    Der Prozess

    Der Angriff

    Freiheit

    Das Schiff

    Stöhnend und fauchend quälte sich das Dampfschiff den Mississippi hinauf. Die gewaltigen Schaufelräder schlugen klatschend ins Wasser und trieben den hölzernen Kiel wie ein Ungeheuer gegen die braun-gelbe Flut. Aus dem Schornstein quollen dichte Wolken; schrill und ohrenbetäubend rief das Typhon: „St. Louis, ich komme!"

    Schon seit Wochen stand es in der Frontier News: St. Louis wird an die restliche Welt angeschlossen – zum ersten Mal wird es ein dampfbetriebenes Schiff ansteuern.

    Ein Korbflechter, der weiter südlich am Fluss gewesen war, um Weiden zu schneiden, kam an jenem Tag aufgeregt in die Stadt zurück gerannt und rief voller Freude: „Das Dampfschiff! Es ist da!" Die, die ihn hörten, folgten seinem Ruf und rannten zum Fluss, und als dann in der St. Michaels Kirche die Glocken läuteten, wussten es alle und rannten hinaus aus der Stadt. Der Schmied verließ seine Esse, der Schneider warf das Nähzeug weg, Frauen ließen das Mittagessen anbrennen und die Kinder vergaßen ihr Spiel. Aufgeregt standen sie unten am Fluss in der Sommerhitze des Jahres 1817 und warteten auf das große Ereignis. Die Stadt hinter ihnen war wie leergefegt. Noch immer läutete die Glocke der St. Michaels Kirche die Zukunft ein. Ihr Klang verfing sich hohl in den einsamen Gassen.

    Der fünfjährige David Heinrich Hofer war einer der Letzten, der unten am Pier ankamen. Sein schmächtiger Körper war den Leibern der Erwachsenen gegenüber nicht gewappnet; immer wieder wurde er beiseite gedrängt oder geschubst. Verzweifelt versuchte er,

    einen Blick auf den Mississippi zu erhaschen, aber vergeblich. Endlich erblickte ihn Hastings Blackmore. Die riesigen Hände des Zimmermanns packten den Knaben und hoben ihn auf die breiten Schultern. „Sollst es nicht verpassen, mein Junge, wenn der Fortschritt in St. Louis Einzug hält!", rief er vergnügt, und seine Augen funkelten erwartungsvoll.

    David lächelte zufrieden. Seine kleinen Hände pressten sich an Mr Blackmores Stirn, auf der dicke Schweißperlen standen. Der riesenhafte, korpulente Mann schwitzte ohnehin leicht, doch heute trieb ihm die fiebrige Erwartung den Schweiß in Bächen aus den Poren.„Wie geht es deiner Mum?", fragte Mr Blackmore, ohne den Blick vom Fluss zu wenden.

    „Ich glaube, gut", antwortete der Junge artig.

    Noch war das Schiff nicht zu sehen. Nur die Rauchfontäne war zu erkennen, die hinter der letzten Flussbiegung senkrecht in den Himmel stieg. Und die Sirene war zu hören, deren Tuten den Wartenden begeisterte Jubelrufe entlockte.

    Abseits der weiß getünchten Häuser von St. Louis standen einige, die von Schmutz strotzten und die teils zerschlissen und mit schäbigen Bretterabfällen notdürftig geflickt waren. Die Besitzer dieser armseligen Behausungen – man nahm an, es handle sich um Caddo-Indianer – Genaues wusste niemand zu sagen und wollte auch niemand wissen – lagerten wie Bettler vor der Stadt und lebten von dem, was ihnen die Eroberer ihres Landes in Anflügen von Barmherzigkeit zukommen ließen.

    Die Neugier trieb auch sie aus ihren Zelten. In schmutzigen Kleidern, mit verlausten Haaren, viele angetrunken, kamen sie zum Fluss. Mit stoischem Gesichtsausdruck, in verfilzte Decken gehüllt, ließen sie sich abseits der Weißen nieder und warteten.

    „Wie Tiere", knurrte Hastings Blackmore. Er zupfte David am

    Hemdsärmel. „Schau sie dir an, Dave! Arme Wichte sind das. Kommen hierher und glotzen den Fluss hinab. Und haben dabei keinen Schimmer, was dort gleich kommen wird."

    „Vielleicht wissen sie es doch, Mr Blackmore", widersprach Dave

    leise.

    Hastings Blackmore drehte schmunzelnd den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg mitleidig an.

    „Ich sagte dir doch, sie sind wie Tiere. Wie dumme, störrische Tiere. Und sie sind Diebe und Gotteslästerer. Allesamt. Aber sie sind auch arme Wichte."

    Cuthbert kam angerannt und forderte Dave auf, mit ihm und den anderen Kindern dem Schiff entgegenzulaufen. Er war Mr Blackmores Sohn. Er war neun, also vier Jahre älter als Dave, aber sein Körper zeigte schon gute Ansätze von Muskeln. Dave beneidete ihn deswegen, aber auch wegen der Art, wie Cuthbert sich selbst gegenüber älteren Kindern durchsetzte. Außerdem hatte Cuthbert schon Whiskey getrunken. Dave hatte ihn hinter Mr Blackmores Haus erwischt, aber er hatte es niemandem verraten.

    Nachdem ihn Mr Blackmore auf dem Boden gesetzt hatte, folgte Dave dem älteren Jungen ohne ein Wort des Widerspruchs. Viel

    lieber wäre er auf Mr Blackmores breiten Schultern sitzengeblieben, weil er sich dort oben geborgener fühlte.

    Endlich tauchte das Schiff auf. Der breite Rumpf lag flach in den Fluten; wie eine riesige rote Zigarre steckte der Schornstein in der Mitte und spie Feuerfunken und Rauch aus; an beiden Seiten lagen die Räder – sie waren fast so groß wie das ganze Schiff. Enorme Kräfte mussten sie antreiben, denn tosend gruben sie sich in das schlammige Wasser und wühlten es auf. Nichts schien die Gewalt dieses Monsters aufhalten zu können. Und dabei fuhr es ohne ein einziges Segel, wie einer der St. Louiser erstaunt bemerkte.

    Jetzt konnten sich selbst die Erwachsenen nicht mehr halten. Jubelnd rannten sie dem Ungeheuer entgegen. Die, die ihre Pferde dabei-

    hatten, ritten am Ufer entlang, schwangen ihre Hüte und waren schneller bei dem Schiff als die Kinder, die vorausgeeilt waren.

    Die Indianer liefen in die entgegengesetzte Richtung. Die imposante Erscheinung dieses Zauberkanus und der Lärm der Sirene versetzte sie dermaßen in Angst und Schrecken, dass sie in ihre Zelte rannten und sich dort versteckten.

    Am Bug des Schiffes stand der Kapitän. Nicht ohne Stolz nahm er die triumphale Begrüßung entgegen. Als er in Louisville aufgebrochen war, wusste er, dass das Schiff in St. Louis Aufsehen erregen würde, denn die meisten dort hatten noch nie ein Dampfschiff gesehen. Was ihm aber jetzt geboten wurde, übertraf seine Erwartungen.

    Winkend, lachend und Glückwünsche rufend säumten die Menschen den Fluss. Sie hielten Schritt mit dem Schiff und begleiteten es zum Pier. Ein paar Musiker hatten ihre Posaunen dabei und begannen, Amazing Grace zu spielen. Clara Gardner, die hübsche Frau des Reverends, stimmte mit kraftvollem Sopran ein, und dann sangen alle und huldigten der Zukunft, die mit diesem Schiff in St. Louis einzog.

    „Welch ein Fortschritt!, rief Hastings Blackmore, als das Lied verstummte und das Dampfschiff die Turbinen abstellte. „Wenn wir Menschen so etwas bauen können, dann steht uns die Welt offen. Wer wollte uns aufhalten?

    Reverend Al Gardner begrüßte den Kapitän im Namen der Stadt, indem er ihm lange Zeit kräftig die Hände schüttelte und immer wieder seinen Dank und seine Freude zum Ausdruck brachte. Schließlich wandte er sich an die jubelnde Gemeinde und forderte sie auf, Gott, dem Allmächtigen, und Jesus, dem Erlöser, zu danken.

    Der junge Reverend war ein gewandter Redner; seine kräftige Stimme übertönte das Rauschen des Mississippi und war lauter als der Südwestwind, der unablässig den Duft von Gras aus der Prärie in die Stadt trug. Gardner brachte die Geschichte von St. Louis in lebendigen Bildern in Erinnerung. Vor nahezu sechzig Jahren war dieses Land unberührt und leer gewesen. Nichts gab es, nur den Wilden, der barfüßig die Prärie betrat, um mit Speer und Pfeil den Bison zu jagen. Das Land hieß Louisiana und gehörte den Franzosen. 1764 war es, als der französische Pelzhändler Pierre Liguste la Clède hier an dieser günstigen Stelle – am Zusammenfluss von Mississippi und Missouri – einen Handelsstützpunkt errichtete, ihn St. Louis nannte und mit Palisaden vor Indianern schützte. Viele Jahre schlief die kleine Ansiedlung einen ruhigen Dornröschenschlaf. Pelzjäger und Händler brachen von hier aus in den Westen auf, doch St. Louis blieb nie mehr als ein Stützpunkt. Der Zuwachs war nicht nennenswert. Um die Jahrhundertwende zählte man nur etwa 925 Einwohner, die in 150 primitiven Hütten wohnten. Dies änderte sich erst ab dem Jahr 1803, als Louisiana an die Vereinigten Staaten von Amerika fiel.

    „Dem amerikanischen Pioniergeist ist es zu danken, schloss Gardner seine Rede, „dass St. Louis zu dem wurde, was es heute ist: eine blühende, dem Fortschritt aufgeschlossene Stadt. Über dreitausend gottesfürchtige Menschen leben heute hier. Und es werden täglich mehr. Mr Blackmore hat alle Hände voll zu tun, um Häuser für die Neuankömmlinge zu errichten. Gottes Wort findet hier im entlegenen Westen seine Verwirklichung: Machet euch die Erde untertan, heißt es im 1. Buch Mose. Dieses Schiff, liebe Gemeinde, das ohne Segel und ohne Ruder den Fluss befährt, ist ein Geschenk Gottes. Mit ihm wird es uns möglich sein, tonnenweise Fracht in die Wildnis zu schaffen, neue Städte zu errichten und Gottes Wort zu verbreiten. Und St. Louis wird das Tor in diese neue Welt sein.

    Der Reverend wurde mit anhaltendem Applaus bedacht. Seine Rede verstärkte bei den Zuhörern das Bewusstsein, einer Nation anzugehören, die – allen Gefahren trotzend – einer glorreichen Zukunft entgegensah.

    An diesem Tag ruhte die Arbeit. Man holte Tische und Bänke, Wein, Kuchen und Rosinenbrot. Und als es Abend wurde und die Sonne mit der scheinbar endlosen Prärie verschmolz, saßen sie singend an Feuern und brieten Rindersteaks.

    Die Indianer waren nach ihrem ersten Schrecken wieder vorsichtig aus ihren Behausungen gekrochen. Langsam fanden sie Zutrauen, einige Mutige wagten sich sogar auf das mächtige Zauberkanu und befühlten es mit heiligem Schaudern. Nach und nach kamen sie alle auf das Schiff. Schließlich nahmen die neugierigen Indianer so überhand, dass sich der Kapitän nicht anders zu helfen wusste und lachend die Sirene mit lautem Hupen ertönen ließ. Im Nu war das Deck wieder leer.

    David Hofer war nicht lange geblieben. Schon bald nach der Rede des Reverend machte er sich auf den Heimweg. Er ließ den Lärm, die Unruhe und Cuthberts dauernde Bevormundung hinter sich und lief die breite Hauptstraße entlang durch die verlassene Stadt. Die Stille hier tat ihm gut.

    Neue und alte Häuser säumten die Straße, aber alle waren in Ordnung, mit weißer Farbe bestrichen und sauber gearbeitet. Links befand sich die Werkstatt des Büchsenmachers Hawken. Dave drückte seine Nase an das Fensterglas und blickte in das Innere der Werkstatt. Messer, Schraubenzieher und Feilen lagen im Halbdunkel auf einem niedrigen Tisch. An der Wand hingen Büchsen und Flinten. Eine Weile betrachtete er die kunstvoll verzierten Waffen mit sehnsüchtigem Blick, dann wandte er sich ab und lief rasch weiter.

    Vor der St. Michaels Kirche – sie war erst vor wenigen Jahren hier errichtet worden – bog er rechts in eine schmale Gasse ein. Schon nach wenigen Schritten weitete sich der Weg, und Dave trat in einen geräumigen Hof. Bretter und Balken stapelten sich hier zu einer hohen Mauer. Ihr frischer Duft erfüllte den Hof. Dave sog ihn begierig ein. Rechts von ihm befanden sich der Pferdestall und die klobigen Wagen, auf denen die Hölzer von der Sägemühle zu den Baustellen transportiert wurden. Die Hinterseite des Hofes begrenzte Hastings Blackmores Haus, das mit dem Stall einen Winkel bildete. Das Haus war von perfekter Handwerkskunst, hatte ein Pultdach und sogar eine breite Gaube. Die Veranda zur offenen Westseite hin war mit fein geschnitzten Stützbalken versehen. Das Portal schmückte ein Holzrelief. Schon von weitem zeichnete das Haus seinen Erbauer als hervorragenden Zimmermann aus, wie man ihn wohl kein zweites Mal so weit im Westen fand.

    Dave betrat das Haus nicht, sondern nahm seinen Weg durch den Stall, verließ ihn durch die Hintertür und gelangte so zur Rück-

    seite von Blackmores Haus. Hier lag der Gemüsegarten, das umzäunte Gehege der Gänse und Hühner – und dahinter stand eine einfache, aber sauber gearbeitete Hütte. Dave trat in den einzigen Raum. Durch ein winziges Fenster fielen die Sonnenstrahlen schräg auf das karge Mobiliar: auf den gusseisernen Herd, den schmalen Tisch und die Bank dahinter – und auf die zwei Betten.

    In einem der Betten lag Daves Mutter. Sie war nicht zugedeckt, sondern hatte sich nur niedergelegt, um etwas auszuruhen. Einst war sie eine hübsche Frau gewesen, doch jetzt zeichneten sie Kummer, Armut und Krankheit. Obwohl sie erst zweiunddreißig war, umgaben dunkle Ränder die Augen. Seit zwei Jahren quälte sie eine heimtückische Krankheit, die selbst Mr Finn, der Arzt, nicht erkennen konnte. Der Medizin waren hier im entlegenen Westen bittere Grenzen gesetzt.

    Seine Mutter hieß Mary Hofer. Vor sechs Jahren war sie zusammen mit Heinrich Bennet in St. Louis eingetroffen – voller Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie wollten heiraten, Kinder bekommen und hier ihre Zukunft aufbauen. Mary war bald schwanger geworden. Die Hochzeit war bereits angesetzt, als Heinrich Bennet nach einem Sturz vom Dach – er arbeitete für Blackmore – unerwartet starb. Als dann Dave zur Welt kam, war er ein uneheliches Kind und Mary eine sündige Frau, die plötzlich mittellos dastand. Die Bewohner von St. Louis lebten einen modernen christlichen Glauben. Vieles wurde von den starren europäischen Richtlinien nicht unbedingt übernommen, wenn aber etwas vom Glauben mit hinüber in die Neue Welt getragen wurde, dann war es das heilige Sakrament der Ehe, und außerehelicher Verkehr war hier wie dort noch immer eine Todsünde. Und ginge es nach Mrs Clara Gardner, stünde auf dieses Vergehen, das ihrer Meinung nach nur vom Teufel kommen konnte, der Kirchenbann. Also ließen die St. Louiser Mary Hofer – und auch Dave – ihr Verschulden deutlich spüren. Sie wurden zu keinen Gesellschaften eingeladen, und auch sonst mied man sie. Und wenn man mit ihnen verkehrte, tat man es in herablassender, strafender Art.

    Mary litt sehr darunter. Aber auch Dave spürte die Abneigung. Er wusste nicht, weshalb er anders behandelt wurde als andere Kinder; er selbst sah keinen Unterschied, und die Mutter redete ihm ein, dass es keinen gab. Und doch musste etwas an ihm sein, was das Verhalten der Mitmenschen rechtfertigte. Cuthbert hatte zwar verschiedene Andeutungen gemacht, Dave war aber nicht schlau daraus geworden. Noch war er zu jung und unbewandert, um die Gesetze der Gesellschaft und das versteinerte Denken zu durchschauen. Nur eines wusste er: Sobald es ihm möglich sein würde, wollte er mit seiner Mutter weg von hier, weit weg, irgendwohin, wo man in Frieden und Freiheit leben konnte.

    Nur einen gab es in der Stadt, der von Anfang an zu Mary und Dave stand: Mr Hastings Blackmore. Er baute die Hütte, gab ihnen kostenloses Feuerholz, Cuthberts ausgetragene Hosen für Dave, ab und zu einen viertel Laib Brot oder einen geräucherten Schinken, allerdings nur, wenn es Mrs Blackmore nicht bemerkte. Mr Blackmore war es auch, der bei Reverend Gardner vorsprach und erreichte, dass Mary gegen ein kleines Entgelt – mehr als ein Taschengeld war es nicht – die St. Michaels Kirche putzen durfte. Zwar fanden sich danach noch zwei reiche Haushalte, bei denen Mary putzte und Wäsche wusch, zum Leben langte es aber allemal nicht. Ohne die gelegentlichen Zubrote von Mr Blackmore wären Mary und Dave wohl schon längst verhungert. Mary wusste das nur zu gut und war Mr Blackmore deshalb sehr dankbar dafür.

    Als Dave ins Zimmer trat, richtete sich Mary Hofer langsam auf ihrem Bett auf, zupfte ihr Leinenkleid zurecht, das farblos vom vielen Waschen war, und fuhr sich verlegen über das zu einem Dutt gebundene Haar. Sie lächelte mild. ‚Er sieht verwahrlost aus‘, dachte sie mit Bedauern. Sein Hemd war an den Ärmeln zu lang und schon mehrfach geflickt, die Hose speckig und abgewetzt, die nackten Füße aufgeschunden.

    „Hast du das Schiff gesehen, Dave?", fragte sie. Sanft strich ihre Hand über sein blondes Haar, das er vom Vater geerbt hatte. Als sie Daves Blick auf ihre rissigen, abgearbeiteten Hände bemerkte, verbarg sie sie rasch in einer Falte ihres Kleides.

    „Ja, Mum, antwortete Dave ohne besondere Begeisterung. „Mr Blackmore hat mich auf seine Schultern gesetzt, aber Cuthbert hat mich mitgenommen und wir sind den Fluss entlanggelaufen. Nach einer Weile fragte er: „Kann dieses Schiff überall hinfahren, Mum?"

    Mary Hofer schmunzelte. „Überall, wo es Flüsse gibt."

    „Kostet die Fahrt mit dem Schiff sehr viel Geld?", fragte er weiter.

    Sie sah ihn traurig an, denn sie wusste, worauf er anspielte. Der Traum seines Vaters war eine Farm weit im Westen gewesen, sie hatte ihrem Sohn manchmal davon erzählt. Dieser Traum lebte in Dave weiter.

    „Mehr, als wir je besitzen werden", sagte sie. Auch sie würde lieber heute als morgen aus dieser Stadt weggehen, aber es war unmöglich.

    Als sie sich jetzt erhob und zum Tisch ging, fühlte sie wieder den Druck in ihrem Bauch. Es war kein stechender Schmerz, mehr ein unangenehmes Empfinden, als ob ein großer, schwerer Stein im Magen lag. Ihr war dann jedesmal übel und schwindelig. Leichte Linderung verschaffte sie sich mit sanftem Balsamtee. Manchmal aber war es so schlimm, dass ihr die Arbeit sehr schwer fiel; dann wieder waren die Symptome tagelang verschwunden. Bis jetzt hatte sie die Krankheit, was auch immer in ihrem Bauch heranwuchs, vor Dave verheimlichen können.

    Sie schnitt eine Scheibe Brot ab und reichte sie Dave.

    „Hast du keinen Hunger?", fragte er.

    „Ich habe schon gegessen", log sie, wie so oft, wenn sie nicht wusste, was es am nächsten Tag auf den Tisch geben würde.

    Die Zeit verging, und es kam, wie Reverend Al Gardner es vorhergesagt hatte: Hastings Blackmore hatte alle Hände voll zu tun. Er musste sogar zwei Männer einstellen, um die anfallende Arbeit bewältigen zu können. Der Strom Menschen, der vom Osten in die Stadt kam, schien unerschöpflich. Die meisten blieben, viele aber nutzten St. Louis nur als Zwischenstation auf ihrem langen Weg in den fernen Westen.

    Der Zuwachs und der Bedarf an neuen Häusern machte Blackmore reich. Trotz seines Reichtums vergaß er aber die kleine Hütte hinter seinem Garten nicht. Die kommenden Jahre hatten Dave und seine Mutter so viel zu essen wie lange nicht mehr. Nur manchmal blieben die großzügigen Zuwendungen für zwei oder drei Tage aus. Dann hatte es wieder Streit mit Mrs Ashley Blackmore gegeben. Ihr war die fremde Frau in ihrer Nähe lange schon ein Dorn im Auge. Nicht nur, dass ihr Mann für sie eine Hütte baute – das duldete sie noch – nein, er trug auch fast täglich Essen zu ihr, und dann kam es vor, dass er stundenlang im Innern der Hütte verweilte.

    Hastings Blackmore, der zupacken konnte wie ein Stier, war gegen die Anfeindungen seiner Frau hilflos wie ein Kind. Einen Mann niederzuboxen, davor hatte er keine Skrupel, aber gegen seine Frau anzukommen, hatte er nie geschafft. Er war ein sehr verständiger Mann und schrieb ihre gereizte Unzufriedenheit der Tatsache zu, dass Ashley keine Kinder mehr bekommen konnte. Vielleicht deshalb lehnte er sich nicht gegen sie auf. So wartete er jedesmal geduldig, bis sich das Gewitter verzog, um dann von neuem Mary und Dave mit dem Nötigsten zu versorgen.

    Trotz ihrer schleichenden Krankheit versah Mary ihre Arbeit ordentlich und pünktlich. Niemand bemerkte, wie langsam, aber beständig die Energie ihres Lebens wich, wie der Wuchs in ihrem Bauch sie aushöhlte und aussaugte. Und dennoch fand die zierliche Frau Kraft, abends im dürftigen Schein der Öllampe Dave Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren. Zum Lesen nahm sie die Bibel oder alte Ausgaben der Frontier News, die Blackmore gelegentlich brachte. Für die Schule fehlte das Geld, aber ihr Sohn sollte einen anständigen Beruf erlernen können, sollte erfolgreich werden und nie den würgenden Arm des Hungers spüren.

    Am 4. April 1822, einem verregneten, ungemütlichen Tag – Daves zehntem Geburtstag – kam Mr Blackmore in die Hütte und übergab Dave ein Buch. Es hieß Robinson Crusoe, und es war sein erstes eigenes Buch. Es habe Cuthbert gehört, sagte Mr Blackmore bitter, sein Sohn zeige aber weder am Lesen noch am Rechnen Interesse. An Mary gewandt fügte er seufzend hinzu: „Und die Arbeit ist ihm auch ein Gräuel. Ich weiß nicht, was aus dem Jungen werden soll."

    Dave dagegen versank förmlich in dem Buch und fieberte mit Robinson Crusoe mit. Sein Lesen war noch holprig und langsam, doch als er das Buch zu Ende gelesen hatte, begann er wieder von vorne.

    Crusoe wurde zum Helden seiner Fantasie. Und wenn er nicht las, saß er irgendwo außerhalb der Stadt unter einem Baum, ließ sich vom nach Gras duftenden Präriewind das Gesicht streicheln, sah in die Ferne und träumte von einer anderen Welt. Einer Welt, die nur in seinem Kopf existierte und in der nur er bestimmte. Nicht Cuthbert, nicht der Reverend oder dessen Frau oder sonstwer sagte, was wann und wie zu tun sei, nein, nur er allein war Herr seiner Welt.

    Einen Hauch dieser Welt vermittelten ihm die Fallensteller, die sich jedes Frühjahr hier in St. Louis sammelten. In großen Booten schifften sie sich auf dem Missouri ein oder zogen mit Mulikarawanen westwärts, um dann Monate oder gar Jahre in der Wildnis zu verbringen. Dave wusste nicht viel von diesen nomadisierenden Menschen. Mr Blackmore hatte nur einmal bemerkt, dass es besser sei, sich wegen ihrer Rauflust nicht mit ihnen anzulegen.

    Aber auch in Mr Blackmore steckte jener Ur-Instinkt, der die Fallensteller hinaus trieb. Wenn es ihm die Zeit erlaubte, nahm er seine Kentucky-Büchse vom Haken und ritt in die Prärie. Manchmal blieb er Tage weg und kehrte dann mit einem Gabelbock oder einem Truthahn zurück.

    Einmal durften auch Cuthbert und Dave mit. Sein kleines Herz pochte, als er den blühenden Teppich der Prärie erblickte, den Duft der Blumen und Gräser in sich aufnahm, den Wind in seinem Haar spürte und die riesigen Herden Büffel dahinziehen sah: eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte.

    Als er zurückkam, schwärmte er seiner Mutter vor und fragte sie, ob sie nicht hinausziehen könnten in die Prärie. Er könnte eine Hütte bauen, und für Wild würde er auch sorgen. Und Geld bräuchten sie dort keines, fügte er schnell hinzu, um eventuelle Einwände im Vornherein abzuwehren.

    Mary Hofer schmunzelte. Dave hatte wahrlich selten Grund, sich so herzhaft zu erfreuen, deshalb wollte Mary seine Illusionen nicht mit einem Hammerschlag zerstören und sagte nur: „Das werden wir, Dave. Später werden wir das."

    Leider blieb es bei diesem einen Jagdausflug. So oft aber Dave die Blackmores besuchte, betrachtete er die Büchse, die in der Küche über der Essecke ihren Platz hatte und die ihn stets an das einzigartige Erlebnis erinnerte. Es war keine wertvolle Waffe, und sie war bei weitem nicht so elegant wie die Büchsen in Hawken‘s Werkstatt, aber für Dave war es das schönste Gewehr der Welt.

    Später ritt er manchmal auf Bessie, Mr Blackmores gutmütiger Stute, in der näheren Umgebung aus, das Gewehr bekam er aber nie mit. Mr Blackmore wollte es niemandem geben.

    Mit großer Befriedigung stellte Dave in jenen Tagen fest, dass sein Wachstum anscheinend erst jetzt begann. Zwar war er noch nicht ganz so groß wie Cuthbert, der Unterschied hatte sich aber deutlich verringert. Und auch die Muskeln begannen zu schwellen. Seine Mum bemerkte einmal, als er draußen vor der Hütte in einem Holztrog badete, er gleiche von Tag zu Tag mehr seinem Vater. Dave war sehr stolz darauf. Sie musste ihm jetzt viel von seinem Vater erzählen, den er nie kennengelernt hatte.

    „Er war sehr groß, sagte Mary und blickte versonnen in die Ferne, so, als sähe sie ihn wirklich vor sich. „Er war ein sehr gutmütiger Mann und ein geschickter Handwerker. Und er war immer sehr lieb und anständig zu mir.

    „Aber er hat doch etwas Böses getan." Dave sah mit großen Augen zu seiner Mutter empor.

    Mary hatte es ihrem Sohn eigentlich noch eine Zeit lang verheimlichen wollen, da er aber anscheinend schon das eine oder andere davon gehört hatte, wollte sie ihm die Wahrheit sagen. Lieber wollte sie es tun, als dass ein anderer es tat, der vielleicht Unschönes dazu-

    dichtete. „Weißt du, sagte sie und kniete sich neben ihm nieder, „Gott gab uns Gesetze, die wir Menschen befolgen müssen. Eines dieser Gesetze verlangt, dass ein Mann und eine Frau erst ein Kind haben dürfen, wenn sie miteinander verheiratet sind.

    „Und ihr wart nicht verheiratet, als ich geboren wurde? Warum nicht, Mum?"

    „Weil dein Dad starb, bevor wir heiraten konnten."

    Dave sah lange vor sich ins Badewasser. Er überlegte. Schließlich fragte er: „Und deshalb seid ihr Sünder?"

    Mary nickte. „Ja."

    „Das macht nichts, sagte Dave gleichgültig. „Ich hab dich trotzdem lieb, Mum. Und Dad auch.

    Mary war froh, dass es ihr Sohn so gelassen aufnahm. Er war noch ein Kind und sah die Welt mit anderen Augen. Was ihr Sorgen machte, war, dass Dave wegen ihr zum Außenseiter abgestempelt wurde.

    Wieder, wie schon so oft, versank sie in schweren Gedanken, wie die Zukunft wohl für ihn ausshen würde.

    Dave dachte längst nicht mehr darüber nach, wer welche Sünde beging. So oder so, sie waren sein Dad und seine Mum. Das war ihm genug. „War Dad sehr stark?", wollte Dave nun wissen.

    „Ja, er war sehr stark."

    „So stark wie Mr Blackmore?"

    „Gewiss, sagte sie. Und nachdem sie sich umgesehen hatte, fügte sie kichernd hinzu: „Dein Vater war aber nicht so dick.

    Beide lachten herzhaft.

    Es war das letzte Mal, dass Dave seine Mutter so lachen sah. Die Krankheit ließ sich nun nicht länger verbergen. Der Bauchdruck nahm zu, und Mary musste häufig erbrechen. Oft war Blut dabei. Als Folgeerscheinung verlor sie enorm an Gewicht, und ihre Haut wurde aschfahl.

    Doktor Finn, den Mr Blackmore durch Dave holen ließ und bezahlte, war machtlos. Er gab ihr ein schmerzstillendes Mittel, mehr konnte er nicht tun.

    Die Arbeit bei den zwei Familien musste Mary aufgeben, in der Kirche aber wollte sie unbedingt weiter arbeiten, wenn es ihr auch hart ankam. Gerade jetzt suchte sie die Nähe Gottes, der sie nie verlassen hatte, dessen war sie sich trotz ihres schweren Schicksals sicher. In der Hausarbeit wure sie von Dave unterstützt, der Holz hackte, Wasser holte und alles tat, um ihr das Leben etwas zu erleichtern. Mr Blackmore kam so oft wie möglich, und Weihnachten 1822 lud er Mary und Dave zu sich ins Haus ein. Mrs Blackmore war einverstanden und briet eine fette Gans, zu der sie weißen Wein servierte. Die Gans vertrug Mary nicht, ließ sich aber ein Glas Wein einschenken. Das sei der erste Wein, sagte sie, und wohl auch der letzte. Sie sagte es mit einem bekümmerten Blick auf ihren Jungen.

    Als der Frühling kam, trat unerwartet Besserung ein. Mary hatte das Gefühl, als beseele neue Kraft ihren abgemagerten Körper. Sie nutzte jetzt mehr als früher die Zeit zu einem Spaziergang in der aufblühenden Natur – noch nie empfand sie sie so voller Wunder –, genoss die lauwarme Prärieluft und dankte ihrem Schöpfer. Schon aus diesem Grund wollte sie unbedingt in die Kirche.

    Viele waren zum Gottesdienst erschienen; die meisten wussten von Mary Hofers Krankheit und sahen in ihr die gerechte Strafe für ihre begangene Tat, wenngleich jetzt der eine oder andere Mitleid mit ihr empfand.

    Mary und Dave gingen die Reihen entlang und hofften, dass jemand rutschte und ihnen Platz bot. In der vordersten Reihe saß Mrs Clara Gardner, die Frau des Reverend. Ihr, die nur „die Sittenwächterin" genannt wurde, war es maßgeblich zuzuschreiben, wie die anderen Frauen Mary behandelten. Das Seltsame war, dass Mary ihr es nicht verübelte, wusste sie doch selbst, dass sie sich der Sünde schuldig gemacht hatte. Und als Frau eines Priesters hatte Mrs Gardner wohl auch die Pflicht, auf Sitte und Moral zu achten.

    Neben Mrs Gardner war noch Platz frei, sie aber hob nur den Kopf und sah in kühler Abweisung weg.

    ‚Selbst im Hause Gottes‘, dachte Mary.

    In der hintersten Bank fanden sie und Dave einen Platz, dort setzten sie sich demütig nieder.

    Als Reverend Gardner seine Stimme erhob, erfüllte sein kräftiger Tenor das Kirchenschiff. Er sprach von der Zeit des Aufbruchs. Des Aufbruchs zum Säen, des Aufbruchs in ein neues Land, wie es jetzt wieder die Siedler taten, die gen Westen zogen. Es könne aber keinen Aufbruch geben ohne einen vorherigen Abschied, sagte der Reverend, egal, wohin man auch aufbräche.

    Unwillkürlich ergriff Mary Hofer die Hand ihres Sohnes. ‚Was wird aus ihm?‘, fragte sie sich. Sie sah ihn lange von der Seite an, ohne dass es Dave bemerkte.

    „Gott will, dass wir ständig aufbrechen, immer wieder von neuem", rief der Reverend seiner Gemeinde zu. „Gott schenkte uns diese Erde, und er machte uns zu Herren über alles, was da kreucht und fleucht. Gott will, dass wir sein Geschenk nutzen und nicht verkommen lassen.

    Vor langer Zeit setzte Gott Menschen in dieses Land, und er hoffte, dass sie seinem Willen folgen und das Land zu seinem Garten machen. Aber was taten diese Menschen? Ihr braucht nur hinaus vor unsere Stadt zu sehen, und ihr erkennt, was aus diesen Menschen geworden ist. Sie lungern herum, dösen unnütz in der Sonne, schütten sich mit Whiskey voll, huren und stehlen. Soll das Gottes Wille sein? Wohl kaum. Er machte eine Pause und sah mit strengem Blick auf seine Gemeinde. Nach einer Weile erhob er seine Stimme wieder: „Ihr gottesfürchtigen Menschen, deshalb schickte uns der Herr in dieses Land, deshalb verlangte er den Aufbruch aus der Alten in die Neue Welt. Wie einst Moses nach Kanaan aufbrach, so sind wir aufgebrochen, um Gottes Fügung zu erfüllen, um zu säen und zu ernten. Wir sind gekommen, um den Garten Gottes zu verwalten, weil er uns selbst als seine Verwalter einsetzte. Bald werden die Siedler in eine ihnen unbekannte Welt aufbrechen. Sie werden uns verlassen und eine Lücke hinterlassen, aber sie verlassen uns auch, um Neues zu schaffen, um dort, wo Wüste ist, Getreide zu säen, um dort, wo Steine sind, Wege zu schaffen, um Gott zu gefallen. Deshalb brechen sie auf, und niemand der Zurückbleibenden soll betrübt sein, wenn ein Mitmensch fortzieht. Denn sie brechen auf im Namen Gottes. Hier beendete der Reverend seine Predigt.

    Dave hatte aufmerksam zugehört. Obwohl er nicht alles begriff, beschäftigte ihn das Gehörte sehr. Und noch oft musste er darüber nachdenken.

    Der Gang zur Kirche und zurück hatte Mary mehr an als angenommen angestrengt. Entkräftet legte sie sich zu Hause sofort ins Bett. Ein paar Minuten Ruhe, beruhigte sie Dave, dann würde es wieder gehen.

    Ihr Sohn lächelte tapfer. Er wusste nicht genau, was seine Mum quälte; dass sie aber sehr krank war, spürte er wohl. Schon seit längerem bemerkte er ihren körperlichen Verfall und das Schwinden ihrer Kräfte. Aber er schwieg, weil seine Mum schwieg. Doch manchmal beobachtete er sie heimlich und sah, wie ihr das Laufen und sogar das Essen schwerfiel, und dann weinte er heimlich.

    Als kurz nach dem Gottesdienst Cuthbert kam, um Dave etwas enorm Wichtiges zu zeigen, schickte Mary ihn mit Cuthbert fort.

    „Soll ich nicht lieber bei dir bleiben, Mum?"

    „Geh nur", sagte sie.

    Ihr erschöpfter Blick folgte Dave die Tür hinaus. Sie war froh, dass er weg war, denn der Schmerz ergriff sie jetzt mit eiserner Hand, heftiger und quälender als je zuvor.

    Cuthbert führte Dave zur Stadt hinaus. Eine halbe Stunde liefen sie über die Prärie, die hier flache Wellen warf und auf der jetzt das frische Gras zu sprießen begann, bis sie einen kleinen Mischwald erreichten. Hier blieb Cuthbert stehen und deutete auf eine Hütte, die eingekeilt war zwischen den kahlen Ästen eines uralten Eschen-ahorns.

    „Das ist sie", sagte Cuthbert geheimnisvoll. Beide legten sich vorsichtshalber flach auf den Boden.

    Dave wusste sofort, was gemeint war: Vor ihm stand die Geisterhütte! Die Jungen in der Stadt hatten viel davon erzählt. Ein alter Medizinmann sollte hier leben, und seltsame Dinge sollten geschehen. Einmal, so sagte man, habe man von der Hütte aus einen Stern aufgehen gesehen, der geradewegs zum Himmel gestiegen war.

    Die Hütte sah verlassen aus und war so windschief, dass man befürchten musste, sie bräche jeden Augenblick knarrend in sich zusammen. Es machte nicht den Anschein, als bewohne sie irgendwer.

    „Geh!", befahl Cuthbert.

    Dave schüttelte heftig den Kopf. Er fürchtete sich.

    „Du kletterst den Baum hoch und von dort aufs Dach und siehst durch das Loch. Erkennst du das Loch im Dach?"

    „Warum gehst du nicht?", versuchte Dave sich zu drücken.

    „Weil ich zu schwer bin, Dummkopf!, sagte Cuthbert. „Das Dach würde mich nie halten. Du hast doch nicht etwa Angst?

    Dave sah ihn mit großen, flehenden Augen an, doch Cuthbert lachte spöttisch. „So was wie dich hab ich noch nie gesehen. Du bist ja ein richtiger Hasenfuß. Los, klettere schon rauf!"

    Dave zögerte noch immer. „Und der Indianer?"

    „Der ist weg. Oder siehst du ihn irgendwo?"

    „Und wenn er in der Hütte ist?"

    „Verdammt!, brummte Cuthbert. „Mein Vater hält so große Stücke auf dich. Wenn der erfährt, dass du dir vor Angst in die Hose machst, dann wird er ganz schön enttäuscht sein, sag ich dir.

    „Meinetwegen, sagte Dave jetzt. „Und du meinst wirklich, das Dach hält mich aus?

    „Darauf wette ich. Ich würde es ja selbst tun, aber ich bin fast doppelt so schwer wie du."

    Das stimmte zwar nicht, aber es wirkte. Vorsichtig stand Dave auf und musterte ängstlich die Hütte und den kahlen Ahorn.

    „Geh endlich!", drängte Cuthbert.

    Behutsam trat Dave näher. Das feuchte Laub dämpfte seine Schritte, und unbehelligt erreichte er den Baum. Die Hütte sah von nahem noch Angst einflößender aus. Eine Tür gab es auf dieser Seite nicht, und das einzige Fenster war vernagelt. Die Bretter waren von der Fäulnis befallen, dunkles Moos bedeckte sie. Dave blickte zurück zu Cuthbert, der fast ganz verschwunden war; nur sein Kopf spitzte etwas über dem Boden hervor.

    Der Stamm war von der Frühlingsfeuchte nass und glitschig, wenn Dave aber etwas sehr gut konnte, dann klettern. Im Nu war er oben. Er hangelte sich einen Ast entlang und befand sich nun direkt über dem Dach. Es war mit Schindeln bedeckt, die der Sturm an einer Stelle weggeblasen und so eine tellergroße Öffnung geschaffen hatte. Durch sie konnte man ins Innere sehen. Aber nicht von Daves momentanem Standpunkt aus, so weit er sich auch vorbeugte. Er musste tatsächlich den Baum verlassen und aufs Dach steigen.

    Er zögerte. Würden ihn die schwachen Schindeln auch wirklich tragen? Wieder schaute er zurück zu Cuthbert. Der richtete sich jetzt halb auf und fuchtelte mit den Armen. Mach schon! bedeutete das.

    Dave hangelte sich vom Ast und berührte mit den nackten Füßen das Dach. Er ließ sich etwas weiter ab, um die Stabilität zu prüfen. Die Schindeln gaben ein wenig nach, schienen aber seinem Gewicht standzuhalten.

    Im selben Augenblick aber, als er den Ast losließ, brachen die Schindeln. Dave fiel acht Fuß tief und schlug hart auf dem ausgetretenen Boden auf. Nur der rechte Arm war leicht aufgeschürft, ansonsten blieb er unverletzt.

    Durch die geöffnete Tür und durchs Dach fiel fahles Licht in die Hütte. Es roch nach muffigem Rauch; auf dem abgescheuerten Tisch vor ihm lagen Essensreste.

    Dave erhob sich. Ein unbestimmtes Gefühl lähmte seine Gedanken. Irgendwas oder irgendwer war mit ihm in diesem Raum. Er wagte kaum, sich umzusehen. Als er es doch tat, bemerkte er zuerst den Schatten, der schummrig an der Wand klebte. Wie durch einen inneren Zwang drehte sich Dave weiter um die eigene Achse. Und jetzt sah er auch den, der den Schatten warf: Vor ihm stand der alte Indianer. Er schien älter als der Ahorn draußen, das Haar schlohweiß, das dunkle Gesicht von tiefen Falten durchgraben; wie versteinert wirkte es. Dunkle, glanzlose Augen musterten Dave ruhig. Trotz seiner einfachen, aber sauberen Kleidung wirkte der Indianer stolz und erhaben.

    Dave stieß einen entsetzten Schrei aus, eine Sekunde später packte ihn eine knochige Hand am Arm.

    „Wie heißt du?", fragte der Alte mit rollender Stimme, die Dave an das bedrohliche Grollen eines Präriegewitters erinnerte.

    „David Hofer."

    Der Indianer ließ Dave los. Er sah ihn aber so finster an, dass der Junge nicht wagte, sich zu rühren. Mit einer vagen Kopfbewegung wies er nach draußen.

    „Wer ist dein Freund?", fragte er.

    „Mein Freund?"

    „Der, der eben geflüchtet ist", sagte der Alte.

    „Cuthbert Blackmore", antwortete Dave leise.

    „Hüte dich vor ihm!", sagte der Medizinmann und blickte Dave aus verschwommenen Augen an. Er sah ihn so intensiv an, dass Dave zu spüren glaubte, wie dieser Blick seinen Körper durchwanderte und in den tiefsten Grund seiner Seele griff.

    „Hüte dich vor Cuthbert Blackmore, denn er ist kein guter Mensch", sagte der Medizinmann.

    Dave wurde es unheimlich.

    „Ich muss heim, würgte er schnell hervor. „Mum wartet auf mich.

    Doch der Alte schüttelte traurig den Kopf. Nach einer Weile sagte er: „Tu immer, was du tun musst, David Hofer. Die Menschen sind schlecht, höre deshalb nur auf dein Herz."

    Er trat etwas zur Seite, und Dave stürzte zur Tür hinaus. Er rannte nur noch, sah weder zurück noch zur Seite. Erst kurz vor der Stadt glaubte er sich in Sicherheit. Erschöpft sank er ins Gras.

    Cuthbert war tatsächlich sofort geflüchtet, als Dave durchs Dach gebrochen war. Er versteckte sich hinter einem der Häuser, und als er Dave jetzt sah, trat er erleichtert hervor. Auch er war außer Atem. Und er schämte sich, weil er wie ein Hasenfuß davongerannt war.

    „Das bleibt unser Geheimnis, nicht wahr, Dave?", keuchte er.

    Daves Herz pochte wild. Er nickte nur.

    „Niemand wird es jemals verraten, okay, Dave?"

    „Ja."

    Noch immer stand Dave die Angst in den Augen, als er zurück sah, dorthin, wo die Hütte stand. Wie gläsern war sein Blick. Und selbst als er sich eine halbe Stunde später erhob und zur Hütte seiner

    Mutter trottete, zitterten seine Knie. Dieses Erlebnis wirkte in Dave lange nach. Noch Jahre später vermutete er in jedem Indianer etwas Mystisches und Geheimnisvolles. Und auch die Worte des alten

    Medizinmannes, die ihm jetzt noch ohne Bedeutung erschienen, vergaß er nicht.

    Dave

    Mary Hofer hielt die Schmerzen nicht mehr aus. Auf den Knien schleppte sie sich zur Tür und schrie nach Hastings Blackmore. Aber nur Mrs Blackmore kam, ihr Mann war auf einer Baustelle. Ashley half Mary wieder ins Bett und wollte dann weg, um den Arzt zu holen. Doch Mary hielt sie am Arm fest.

    „Holen Sie bitte Reverend Gardner", bat sie.

    Ashley starrte die Todkranke eine Zeit lang an. All die Jahre hatte sie Mary gehasst, weil Hastings ihr die Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die sie von ihm so sehr vermisste. Wie oft hatte sie der hübschen Nachbarin den Tod gewünscht. Sollte sich ihr Fluch jetzt tatsächlich erfüllen? Mit einem Mal hatte sie Mitleid mit dieser Frau, und es tat ihr im Herzen weh, sie sterben zu sehen.

    Ashley nickte stumm, dann eilte sie weg. Sie verständigte den Reverend, der versprach, sofort zu kommen, und rannte dann weiter zur Baustelle ihres Mannes. Mr Blackmore war sehr betroffen. Er warf seine Axt in die Ecke und eilte mit seiner Frau zurück zu Mary.

    Dave ahnte nicht, wie es zu diesem Zeitpunkt um seine Mutter stand. Der geheimnisvolle Indianer spukte ihm noch im Kopf herum, als er bei der Hütte ankam. Überrascht sah er, dass Mr und Mrs Blackmore vor der Tür warteten. Mr Blackmore saß am Boden, das Gesicht in die riesigen Hände gelegt.

    „Du kannst jetzt nicht rein, sagte Mrs Blackmore mit ungewohnt weicher Stimme. „Der Reverend ist bei deiner Mum.

    Dave verstand nicht, weshalb der Reverend bei seine Mum war. Sie war heute doch erst in der Kirche gewesen.

    „Was ist mit Mum?"

    Ein plötzlicher Gedanke schoss ihm in den Kopf. Er erinnerte sich, dass man den Reverend vor zwei Wochen zu der alten Frau Landers, zwei Häuser weiter, geholt hatte, und kurz darauf war sie gestorben. Mit großen, entsetzten Augen starrte er Mrs Blackmore an.

    Ashley war froh, nicht antworten zu müssen, denn die Tür öffnete sich und Reverend Gardner trat ins Freie. Gardner war in viele Häuser gekommen und hatte im Laufe seiner Priesterarbeit das Elend und den Tod kennengelernt, die ihn mit der Zeit dickfellig hatten werden lassen. Als er aber den Jungen vor der Tür stehen sah, der artig eine Verbeugung machte – die Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, Gottesdienern die ihnen zustehende Ehre zu erweisen – und der brav „gelobt sei Jesus Christus murmelte, da ergriff selbst den Reverend die Wehmut. Etwas unbeholfen legte er seine Hand auf Daves Kopf. Auf die fragenden Blicke des Ehepaars Blackmore antwortete er kurz: „Mary Hofer ist heimgegangen.

    Mr Blackmore war der Erste, der in die Hütte stürzte, seine Frau folgte ihm. Kurz darauf kam sie wieder heraus, um sich um Dave zu kümmern, aber der Junge war verschwunden.

    Dave rannte so weit und schnell er konnte; die Stadt hinaus, irgendwohin. Kraftlos ließ er sich zu Boden fallen. Alles drehte sich um ihn: die Bäume, die welligen Hügel, der Himmel, die Wolken. Sein Kopf war wie leer, so, als schwebe er zwischen den Welten.

    Als er wieder zu denken fähig war, erinnerte er sich an die Predigt, die er erst heute morgen in der Kirche gehört hatte. Und jetzt wusste er, dass seine Mum aufgebrochen war in eine andere Welt.

    Am 15. April 1823 wurde Mary Hofer beerdigt. Hastings Blackmore hatte die schönsten Bretter einer Linde aus seinem Lager gesucht und einen Sarg gezimmert. Als er das Kreuz in das Holz schnitzte, zitterten seine Hände.

    Ashley hatte ihr blaues Sonntagskleid umgenäht, das sie der Toten anzog. Dave dachte, seine Mum sähe darin aus wie eine vornehme Dame. Im Grunde war sie das auch gewesen. Vornehm in ihrer

    Gesinnung, ihrer Großherzigkeit, ihrer unerschöpflichen Liebe und ihrem Glauben.

    Der Elfjährige begriff bei weitem nicht, weshalb seine Mutter hatte sterben müssen. Er hatte gehört, wie Mr Blackmore am Tage vor der Beerdigung gesagt hatte, sie sei an seelischem Leid gestorben, was immer auch das bedeuten sollte.

    Alle, die Mary Hofer gekannt hatten, begleiteten sie auf ihrem letzten Weg zum Gottesacker. Auch Clara Gardner, die Mary am meisten verurteilt hatte, war unter ihnen.

    Unbewusst empfand Dave Hass. Er wusste nicht, woher dieser Hass kam, vielleicht war es die plötzliche Anteilnahme, die seiner Mum vorher immer verwehrt gewesen war. Immer hatte sie sich danach gesehnt, und jetzt weinten einige der Frauen sogar um sie. Eines aber wusste er sehr genau: Diese Menschen waren verlogener und schlechter, als es seine Mum, der sie die Sünde vorgeworfen hatten, je gewesen war. An diesem Tag wünschte Dave, mit seiner Mum aufbrechen zu dürfen in eine andere Welt.

    Der Hass, den Dave in sich barg, ließ keine Tränen aufkommen. Er weinte nicht, als seine Mutter hinaufgetragen wurde auf jenen kahlen Hügel, den tote Holzkreuze bedeckten. Er weinte auch nicht, als sich der Sarg in die rotbraune Erde senkte. Er weinte erst, als er die leere Hütte betrat, das leere Bett sah und das abgetragene alte

    Leinenkleid darauf, und mit einem Mal in vollem Umfang begriff: Seine Mum war ihm für immer genommen.

    Die nächste Zeit war schwer für ihn. Dave wohnte weiterhin in der Hütte, er wollte sie einfach nicht verlassen. Sein Verstand sagte ihm, dass er seine Mum nie wiedersehen würde, doch sein Herz hoffte stets darauf, denn deutlich war hier – zwischen dem einfachen Herd, dem schlichten Tisch und dem leeren Bett – die Aura der geliebten Mutter zu spüren. Täglich lief er den Hügel hinauf zum Grab, auf dem Mrs Blackmore Rosen angepflanzt hatte, und manchmal ertappte er sich dabei, wenn er leise weinend zu seiner Mum sprach.

    Erst viele Tage später ging Dave wieder in die Stadt. Die Aversion, die die St. Louiser gegen seine Mutter offengelegt hatten, übertrug sich nicht unbedingt auf ihn. Zwar war er noch immer Außenseiter, und manchmal wurde er von schlecht erzogenen Kindern ‚Bastard‘ gerufen,;Dave aber hatte gelernt, damit umzugehen. Dennoch versuchte er, die Menschen zu meiden. Ein tiefer Hass war seit der Beerdigung in ihm gewachsen, und er verteufelte diese zur Schau ge-

    tragene Scheinheiligkeit. Im Grunde waren ihm die Kinder lieber als die Erwachsenen; sie sagten wenigstens, was sie empfanden.

    Manchmal, wenn ihm die Einsamkeit in dieser Stadt zu bewusst wurde, erinnerte er sich an den alten Medizinmann in der windschiefen Hütte. Auf irgendeine Weise fühlte er sich zu ihm hingezogen, denn im Grunde waren beide gleich: Auch der Indianer war ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener. So schlich er sich einmal trotz seiner Furcht zu der gespenstischen Hütte, fand sie aber verlassen vor. Dave fragte sich, was aus dem Indianer geworden war. Erst Jahre später sollte er von dessen traurigem Schicksal erfahren.

    Der Einzige, dem sich Dave anvertraute, war Mr Hastings Black-more. In vielem war der Zimmermann seiner Mutter ähnlich. Wie sie schätzte er die Ehrlichkeit und war fest im Glauben verwurzelt. Aber auch ihn würde Dave von einer Seite kennenlernen, die eine Säule seiner kindhaften Weltsicht ins Schwanken brachte.

    Es war zur Gewohnheit geworden, dass Dave im Hause der Blackmores aß. Ashley Blackmore selbst wünschte es so aus einer nachträglichen Reue heraus. Sie hoffte, ihr schlechtes Gewissen dadurch beruhigen zu können, indem sie dem Waisen ein neues Zuhause bot.

    Die erste Zeit war es Dave unangenehm gewesen, neben Cuthbert – den er noch immer nicht mochte und manchmal sogar fürchtete – am Tisch zu sitzen – aber was blieb ihm anderes übrig? Für sich selbst sorgen konnte er noch nicht. Um wenigstens einen Teil der entstehenden Kosten auszugleichen, begleitete er Mr Hastings Blackmore auf die Baustellen, woran er schon bald Freude fand. Er half Bretter und leichte Balken tragen und holte Werkzeug, wenn es fehlte. Begeistert sah er zu, wie allmählich das Hausgerüst aus gehobelten Kiefern entstand, wie es mit Brettern eingekleidet und schließlich mit einem Pult- oder Satteldach bedeckt wurde. Das Dach blieb Mr Blackmores sicherste Auftragsquelle, denn viele, die reich genug waren, ließen ihr Haus aus Stein erbauen, das Dach aber würde wohl immer aus Holz sein müssen.

    Haus um Haus sah Dave heranwachsen, wo vorher bracher Boden gewesen war. St. Louis vergrößerte sich ständig.

    Zufrieden beobachtete Mr Blackmore Daves Interesse. ‚Ein Prachtjunge‘, pflegte er dann zu denken, und wünschte sich, Cuthbert besäße nur einen Bruchteil von Daves Arbeitseifer – denn sein eigener Sohn trieb sich lieber irgendwo herum, als auf der Baustelle zu helfen.

    Die Arbeit machte Dave hungrig, und abends, wenn sie sich am Tisch versammelten, langte er fleißig zu. Ashley sah es mit Genugtuung. Sie war eine hervorragende Köchin, und in jenen Tagen konnten sie sich vielles leisten, woraus sie die herrlichsten Gerichte zubereitete.

    Aber Dave nahm nicht nur am Essen der Blackmores teil, sondern ungewollt auch an deren Familienleben. So blieb ihm nicht verborgen, dass Mr Blackmore in der Zimmerei zwar ein hartes Regiment führte, zu Hause aber von seiner Frau herumkommandiert wurde. Ständig nörgelte sie an etwas herum. Mal beschimpfte sie ihn, weil er zu spät zum Essen kam, dann wieder beanstandete sie seine schlechten Tischmanieren. Und Cuthbert geriet ganz nach seiner Mutter. Er war bereits siebzehn, dachte überhaupt nicht daran, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, führte sich aber als selbstherrlicher Mann auf. Die guten Ratschläge des Vaters, endlich an die Zukunft zu denken, schlug er schnippisch in den Wind. Und wenn es darum ging, Geld zu fordern, das er im Saloon durchbrachte, konnte er – wenn es ihm sein Vater aus gutem Grund verweigerte – sehr jähzornig werden. Und seine Mutter deckte ihm den Rücken. Es wunderte Dave deshalb nicht, dass Mr Blackmore bei solchen Streitigkeiten stets das Haus verließ, um Ruhe zu finden – aber das Verhalten des väter-

    lichen Freundes, den er bis dahin für tapfer und selbstsicher gehalten hatte, enttäuschte ihn. Noch mehr aber war er enttäuscht – ja sogar schockiert –, als er eines Tages erfuhr, wo Mr Blackmore Ruhe suchte.

    Es war an einem warmen Septemberabend. Nachdem gegessen worden war, kam es wieder einmal zu Zankereien. Weil es Dave peinlich war, dabei anwesend zu sein, schlich er sich davon. Draußen war es noch hell, deshalb setzte er sich vor seine Hütte, um in Daniel Defoes ‚Robinson Crusoe‘ zu lesen. Er hatte sich kaum niedergesetzt, da bemerkte er, dass auch Mr Blackmore das Haus durch die Hintertür verließ und stadteinwärts schlenderte. Dave zuckte traurig mit den Schultern und beugte sich dann wieder über sein Buch. Eine Zeit lang las er in der Geschichte des einsamen Inselbewohners, die er schon fast auswendig kannte, die ihn aber stets aufs Neue faszinierte. Plötzlich fiel ihm etwas ein: Er hatte vergessen, die Handsäge mitzunehmen! Samuel E. Maddock, der Schlachter, ließ sich außerhalb der Stadt ein größeres Haus mit integriertem Schlachtraum aus Stein bauen, weil ihm das alte an der Hauptstraße zu eng geworden war. Für den Dachstuhl hatte er Mr Blackmore beauftragt. Als Dave nach Arbeitsschluss die Baustelle aufgeräumt und das Werkzeug ins Lager gebracht hatte, hatte er sie vergessen. Mr Blackmore mochte es nicht, wenn Dave wertvolles Werkzeug zurückließ, weil schon zweimal welches gestohlen worden war. Dave brachte das Buch deshalb in die Hütte und machte sich sofort auf den Weg zu Maddocks Haus.

    Hurtig durchquerte er die Stadt. Es begann inzwischen zu dämmern, und die Häuser der Hauptstraße wirkten wie beängstigende Schatten. Nur noch wenige Menschen waren unterwegs. Aus dem Saloon klangen laut das Piano und die kehligen Laute angetrunkener Männer. Mr J.D. Hudson, der Wirt, hatte vor zwei Jahren das Dach ausgebaut, um mehr Fremden Unterkunft zu bieten. Außerdem bekam man bei ihm warme Speisen. Das Haus war täglich voll, und Hudsons Kasse auch.

    Hundert Yards vom südlichen Stadtrand aus stand Maddocks halbfertiges Haus. Die Sparren des langgestreckten, aber ziemlich niedrigen Satteldachs

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1