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Das Prinzip der Mittelmäßigkeit: Science-Fiction-Roman
Das Prinzip der Mittelmäßigkeit: Science-Fiction-Roman
Das Prinzip der Mittelmäßigkeit: Science-Fiction-Roman
eBook318 Seiten4 Stunden

Das Prinzip der Mittelmäßigkeit: Science-Fiction-Roman

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Über dieses E-Book

Der Historiker H'Thüsos Maisyn ist fremd in der deutschen Kleinstadt, in die er durch Raum und Zeit gereist ist. Auf seiner Suche nach weisen Alten und fruchtbaren Frauen verirrt er sich an sonderbare Orte und verliert sein Herz an Menschen, die ihn nicht verstehen.
Er unterzieht Cordelia in langen Gesprächen einer Prüfung, um herauszufinden, ob sie die Richtige ist, um sich mit Leib und Leben der Zukunft seiner eigenen Welt zu opfern. Doch sie misstraut ihm und will ihm nicht folgen.
Dann begegnet er Catrin. Ist sie vielleicht die zukünftige Retterin der letzten Menschen? In einem Strudel aus Hoffnung und Verzweiflung versucht Maisyn, in einer untergehenden Welt die richtige Entscheidung zu treffen.

Dieser Roman ist wie das Drehbuch zu einem Film, in dem Zeitreisen das geringste Problem sind und es um nicht weniger geht als um das Überleben der Menschheit.

Das Titelbild schuf Thomas Franke.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum14. Juli 2017
ISBN9783957659606
Das Prinzip der Mittelmäßigkeit: Science-Fiction-Roman

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    Buchvorschau

    Das Prinzip der Mittelmäßigkeit - Corinna Griesbach

    Science-Fiction-Roman

    1 Missglückte Reise

    Die eigenen Kinder ertränkt.

    London (dpa). Eine einunddreißigjährige Frau und Mutter von drei Kindern gestand gestern der Londoner Polizei, in einem Anfall von Wahnsinn ihren vier Jahre alten Sohn und ihre Tochter (zwei Jahre) ertränkt zu haben. Nachdem die beiden größeren Kinder tot waren, hatte sie zuletzt versucht, sich selbst und den wenige Tage alten Säugling zu ertränken. Der Ehemann und Vater der drei Kinder steht unter Schock. Die Frau befindet sich unter psychiatrischer Aufsicht.

    Mutter sprang mit zwei Kindern in den Tod.

    Karlsruhe (dpa). Eine zweiunddreißigjährige Frau ist gestern in Karlsruhe mit ihren beiden Kleinkindern von einem zehnstöckigen Hochhaus gesprungen. Die drei schlugen in dem gepflasterten Hinterhof auf und waren sofort tot. Das Wohn- und Geschäftshaus ist frei zugänglich, teilte die Polizei mit. Bei den Kindern handelt es sich um ein zweijähriges Mädchen und einen sechs Monate alten Jungen. Das Motiv für diese Tat ist völlig unklar. Die Frau und ihre Kinder konnten zudem erst nach Stunden identifiziert werden, da weder ein Abschiedsbrief gefunden wurde, noch die Frau irgendwelche Papiere bei sich trug. Dazu kommt, dass Mutter und Kinder völlig nackt waren. Ein Polizeisprecher: »Wir suchen mit Hochdruck nach den Hintergründen der Tat!«

    Offensichtlich hat die Mutter zunächst das zweijährige Mädchen hinunter geworfen und dann einige Zeit gewartet, bis sie mit dem Jungen hinterher sprang. Die Kleidung der Toten wurde noch nicht gefunden.

    2 Füchse in der Stadt

    Der Fremde stand am Rande der Geisterstadt. Der Staub über der Landstraße, die zum Ort geführt hatte, war aufgewirbelt. Lastwagen und Kettenfahrzeuge pflügten sich über das, was von der Straße übrig war. Frischer Teer wurde aufgeschüttet, um Löcher und Risse zu stopfen. Maisyn lief unbehelligt den Fahrzeugen hinterher, ihm war übel vom Gestank. Es war nicht nur der Teer, es waren tote, verwesende Fische. Kot. Aufgebrochene Abwasserleitungen, verdorbenes, gärendes Essen. Er blieb vor einem eingestürzten Haus stehen und sah einem Mann zu, der mit einer beschädigten Gartenschaufel getrockneten Schlamm von seiner Hauswand schlug. Er würde ihm helfen. »Hast du noch eine Schaufel?«

    »Ein Brett«, antwortete der Mann und trat beiseite.

    H’Thüsos Maisyn nahm die Latte, auf der der Mann gestanden hatte. Der sank sofort ein wenig in die Erde, Matsch besudelte seine Knöchel und Maisyn sah, dass er nackte Füße hatte. Vorsichtig klopfte Maisyn die dünne Schicht Schmutz von der Wand. Eine nutzlose Arbeit.

    »Wirst du bleiben?«, fragte er.

    »Was sonst?«

    Maisyn nickte. Es wäre umsonst gewesen, zu antworten. Er klopfte zwei Stunden an der Hauswand herum, versank tiefer im Matsch und legte irgendwann das Holz in den Schmutz. Als er ging, drehte der Mann sich nicht um.

    Außer ihm war nun niemand mehr zu sehen. Er drang in das Innere der Stadt vor, dorthin, wo die Kettenfahrzeuge nicht kommen konnten, ohne die von Geröll verschütteten Straßen völlig zu zerstören. Vier Wochen war es her. Die Häuser waren unbewohnbar. Es würde Geld geben, viel Geld, diese Stadt würde wieder aufgebaut werden, die Sonne würde über den neu errichteten Dächern aufgehen.

    Die Häuser, die äußerlich noch stabil wirkten, deren Fassade noch aufrecht stand, waren mit rotem Flatterband wie mit Geschenkband eingewickelt. Einmal herum um ein Zuhause: Betreten verboten.

    Ein anderer Mann kam Maisyn entgegen, von weit her winkte er ihm zu. Bleib weg! Komm näher! Was immer es heißen sollte. Höflich winkte der Fremde zurück. In einer Nacht im September war die kleine Stadt von einer Flutwelle vernichtet worden, unglaubliche Wassermassen hatten Garagen, Steine, Felsen, Autos, Bäume und Menschen über den Ort gespült, Häuser einstürzen und Kinder in ihren Betten ertrinken lassen.

    Hunderttausend Tonnen Schutt hatten die Überlebenden bereits aus der Stadt geschafft, kleine Bagger, Schubkarren, private Fahrzeuge waren eingesetzt worden, bevor das Militär mit Räumfahrzeugen eine Schneise bis zum Stadtrand gefräst hatte. Die meisten Häuser waren mit wenigen Schlägen abgerissen worden, wenige standen noch aufrecht, noch weniger waren in ihrem jetzigen Zustand bewohnbar.

    Die Abwasserkanäle waren geborsten, es gab weder Strom noch Frischwasser.

    Der Katastrophenschutz hatte fast alle Menschen evakuiert; denen, die bleiben wollten, lieferten sie mit Hubschraubern Wasser, Nahrung, Campingtoiletten und Generatoren.

    Es wurde alles getan, was die Hochwasseropfer wollten. Keine Diskussion über Sinn und Unsinn. Keine Umsiedlungspläne. Keine Grundsatzdebatten. Und alle, die evakuiert worden waren, würden zurückkommen. Aufräumen, anpacken, neu bauen. Egal, um welchen Preis.

    Maisyn blickte in den Himmel. Regen zog herauf.

    Er verlangsamte den Schritt und blieb schließlich stehen. Er hatte eine Mission zu bestehen.

    Wenn er fremd war in einer der Städte, die er bereiste, suchte er oftmals lange nach den wahren Zentren der Macht. So hatte er viele Stunden lang an den Nachmittagen in dieser vielversprechenden Mediathek zugebracht. Er hatte im Schein des künstlichen Lichts dort, das ihn so verwirrte, die Meinung der unterschiedlichsten Menschen eingeholt und alles hatte darauf hingewiesen, dass genau hier ein verstecktes Machtzentrum liegen mochte: zwischen den von Plakaten verhangenen Fenstern, im Dämmerlicht flackernder Neonröhren.

    An diesem dunklen, windigen Morgen stand er nun frierend vor der geschlossenen Tür der Mediathek, sein schwarzer Mantel flog im kalten Morgenwind um seine Hüfte. Der Fremde fror fürchterlich, er spürte die Kälte bei jedem Anflug des Windes, mit jedem Atemzug.

    Ihm war niemals klar, wann welche Tür sich ihm öffnen würde und ahnte nicht, warum diese jetzt geschlossen war und er allein vor ihr stand. Hier wollte er Cordelia treffen. Wie so oft war sie nicht da, und wahrscheinlich war das wie meistens seine Schuld. Richtiger Ort, falsche Zeit. Er lugte durch eine Lücke zwischen den Plakaten ins Innere. Dort hatte er DVDs geliehen, über Kriegsführung und das Raumfahrtprogramm der Russen gesprochen und die Ahnungen und Annahmen der Menschen in sich aufgenommen. Sie waren wertvoll für ihn, die verschiedenen Menschen. Männer, Frauen, angeschwemmt von der nahen Straße. Ihm waren ihre Meinungen zum Zustand der Welt wichtig.

    Jetzt war niemand hier außer ihm selbst.

    Einer, dessen Worte aus dem Brei der Anschauungen herausragte, einer, der sich Sam nannte, war zum Beginn ihrer Bekanntschaft begeistert gewesen, dass er dem Fremden hier begegnet war. Sam hatten die Fragen und die Zeit, die der Fremde ihm widmete, begeistert. So hatte er sich einmal zu ihm hinüber gebeugt, hatte bewundernd und zufrieden in dessen dunkles Gesicht gesehen und euphorisch gesagt: »Dass ich dich hier kennengelernt habe, mein Junge!« Und hatte ihm anvertraut: »Kaum noch jemand nimmt doch die Russen wirklich ernst!«

    Mit Sam zusammen hatte Maisyn auch all die Nachrichten über die Dürre in Australien verfolgt. Sam liebte Australien mehr, als er die Russen je gefürchtet hatte, erfuhr Maisyn. Die Flammenfronten im Süden Australiens hatten deshalb auch Sams Herz verzehrt. Tausende von Feuerwehrleuten hatten Brandsperren errichtet und waren verglüht. Pro Tag waren zweihunderttausend Hektar Busch verbrannt, der Norden Australiens war bereits lange vorher in der größten Dürreperiode des Landes verwüstet worden: jeder Blitzschlag ein Feuer. Canberra gab es nicht mehr. Auch mehrere andere Städte waren nicht mehr zu finden, Sam vermutete, Landkarten würden neu geschrieben werden müssen. Maisyn bestätigte Sams Meinung traurig.

    Er hatte während dieser vielversprechenden Unterhaltungen mit zwei Männern verbotenerweise regelmäßig ein klein wenig Bier getrunken und Skat gespielt. Das Spiel und seine Regeln hatte er bald verstanden. Das war gut, denn über das Spiel hatte er Cordelia kennengelernt. »Erwarte nicht zu viel«, hatte sie gesagt. »Ich bin eine mittelmäßige Spielerin!«

    »Ich erwarte nicht zu viel«, hatte er fassungslos geantwortet. »Ich bin hier, um das Mittelmäßige in dir zu finden.«

    Geraucht hatte er nicht. Cordelia hatte erklärt, sie habe vor Jahren eine Zigarette geraucht und sei verurteilt worden. »Jugendstrafe. Das hat mir gereicht.«

    Georgia, eine große Frau, die ihm zu Beginn ihrer Gespräche erklärt hatte, sie suche einen Weg aus der Mittelmäßigkeit ihres Daseins heraus, rauchte immer. »Frag nicht nach Abendrot, Jungchen«, sagte sie gern und rauchte eine. »Und frag mich nicht, was für eine!«, bedeutete sie ihm und so fragte er nicht. Georgia gehörte der Gesellschaft zur Entdeckung der Langsamkeit an und das hatte ihn eine Weile gehalten, aber dieser Verein zur Verzögerung der Zeit war eine falsche Spur gewesen. Georgia war so falsch gewesen, wie ihr Name, es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie eine Frau im Körper eines Mannes gewesen wäre.

    Er war dennoch lange Zeit immer wieder hier hergekommen. Wollte Cordelia nicht aus den Augen verlieren. Hatte abgewartet. Es waren so oft die kleinen Orte, sagte er sich, die er suchte und wo er schließlich auch fand.

    Doch er sah nun ein: Das Zentrum der Macht war diese Mediathek, in der er mit Georgia und Sam so lange herumgelungert hatte, wo er die angeblichen Raumfahrtexperten über den dunklen grünen Teppichboden hatte schlurfen sehen, wohl doch nicht gewesen. Gestrandete, Betrunkene, sinnlos Redende hatten ihm nicht weiter geholfen. Und so nahm er heute Morgen den Laden von seiner inneren Liste.

    Der Wind wurde heftiger, seine Hoffnung, Cordelia hier zu treffen, schwand, Papier schleuderte über die Gehwege, ein letztes Mal stellte er sich an die dunkle Säule vor der schmutzigen Eingangstür und betrachtete das Waffenarsenal auf dem durch die Glastür dargebotenen Plakat. Die Säule, neben der er stand, war unten nass von Hundepisse. Der Marmor glänzte nur an den Stellen, die in der Nacht übermäßig mit Fuchsurin beschmutzt worden waren. Der Fremde war, gemessen am Rest dieser Welt, von nur mittelgroßer Gestalt, die Spur der höchsten Pinkelfontäne reichte bis an seine Hüfte. Der Wind, ständiger Sturm und Wind, machten ihn auch heute Morgen nervös. Er war darauf vorbereitet gewesen, aber es machte ihn verrückt. Es war fast so schlimm wie das Rückwärtssitzen in Bussen. Schrecklich. Alles war entsetzlich: Busse und das Rückwärtssitzen darin, Bier und seine sofortige Wirkung, die Bilder der Waffen in den Schaufenstern, die so fassbar und echt wirkten, Vereine zur Verlangsamung der Zeit, die ohne Wirkung blieben. Ein letzter Blick um die Ecke, die Straße entlang in die Richtung, aus der er Cordelia erwartete, dann verließ er den Ort.

    Regen wich dem Nebel und der Fremde meinte eine Füchsin zu sehen, die streifte einige Meter entfernt von ihm einen Baum, zog bedächtig um einen Hauseingang und begann dort, aus einer zerrissenen Tüte zu fressen.

    Die Füchse hatten die Stadt vor vier Jahren endgültig erobert, sie hatten diesen Siegeszug lange vorbereitet. Vor fünfzehn Jahren waren sie bereits vereinzelt aufgetaucht, waren auf der Suche nach Nahrung aus den Wäldern gekommen, waren leise in die Städte eingefallen. Es war verboten, Füchse in der Stadt zu jagen oder aus der Stadt zu vertreiben. Sie gehörten zum Projekt Tiere in der Stadt und wurden von etlichen Tierschützern beobachtet und erforscht. Die Wege, die sie suchten, durch die Nacht, durch die nun oft unbeleuchteten Straßen der Menschen, wurden aufgezeichnet. Ihr Kot wurde gesammelt und auseinander gezupft. Untersucht. Man wollte wissen, was sie aßen und was sie verschmähten, die Füchse in den Städten. Ihre Fellspuren wurden untersucht. Man war zu dem Schluss gekommen, dass die Stadt nun ihrem ursprünglichen, natürlichen Lebensraum mehr glich, als der Wald in seinem aktuellen Zustand. Füchse waren zudem hübscher und aufregender als Ratten. Aufgerissene Mülltüten, ausgegrabene Blumenbeete, stinkende Reviermarken waren der Preis für die neue Nachbarschaft.

    Der Fremde beachtete das Tier nicht weiter und nahm jetzt auf das Geratewohl einen Papierfetzen auf, der sich wie ein Kreisel im Rinnstein drehte. Das Stück Papier war einigermaßen sauber und entstammte einer Zeitung. Montagsausgabe. Er versuchte, die Überschrift zu entziffern. Lo – … Lobgesänge vielleicht. Lokal. Er las, was Gott Zufall ihm vor die Füße gespült hatte und ihn überwältigte das Gefühl, am Ziel zu sein: Er hielt ein Bild in Händen, das zeigte einen gekrönten, mit Federn geschmückten Mann. Der Fremde kannte ähnliche Bilder aus anderen Erdteilen, die er kurz, atemlos, delirierend bereist hatte. Es waren immer die mit dem Federschmuck, die ihn verstanden und ihm weiter geholfen hatten. Dies hier war ein Mann aus dem Jetzt, lebendig, alt, mit Brille, gold- und ordengeschmückt, der ihn ansah.

    Lokales. Ezbach. Am ersten Mai ist es wieder soweit. Der Schützenkönig Wilhelm Spatzek wird gekrönt! Hier zu sehen sein Vater, Wilhelm Spatzek senior, dreimaliger Schützenkönig. Auch Großvater Johann Spatzek, hier auf dem Foto links, war Schützenkönig von Ezbach. Nun soll der vierhundertfünfzigste Geburtstag der Schützenbruderschaft Oberezbach gefeiert werden! Ohne eine Unterbrechung seit vierhundertfünfzig Jahren zu bestehen, das ist schon was, äußert sich der Fahnenträger (nicht im Bild), vor Rührung und Stolz zittert seine Stimme ein wenig. Mit Pauken und Trompeten, Pfeifen und Trommeln soll der Festzug rund um Oberezbach ziehen, dann das Dorf diagonal durchqueren bis zum Dorfplatz (auf dem angeblich die einzig verbürgte Hexe des ganzen Landkreises vor neunhundert Jahren gesteinigt worden sein soll) und dort der Krönung beiwohnen.

    Speisen und Getränke werden im Sportheim Sankt Johanna eingenommen. Um Punkt zweiundzwanzig Uhr wird die Feuerwehr des Ortes mit den Freiwilligen des Roten Kreuzes und der Schützenbruderschaft einen Fackelmarsch zum Festzelt organisieren.

    Beendet wird der Festakt mit dem Zapfenstreich.

    Maisyn las den Text mit Ehrfurcht. Ja. Es waren die kleinen Dinge! Er fummelte in der Innentasche seines Mantels herum und lenkte dann sein Drittes Auge durch den Stoff auf den Zeitungsausschnitt, ließ das dünne Papier alsdann ohne Hast zu Boden fallen und lächelte.

    Es war wirklich nicht leicht, es war ein gigantisches Puzzle mit echten Schluchten und Gefahren, aber jedes Teil fügte sich irgendwann ein und würde ein Gesamtbild schaffen.

    Er richtete seine kleine Gestalt hoch auf: »Ein König. In dritter Generation. Dazu Kreuze, Hexen und Kronen!« Der alte König, der Großvater, ein unscharfes Bild eines lächelnden Mannes, bärtig. Auf dem Bild ungekrönt. Dazu der Vater mit weißer Blume am Kragen, streng nach rechts blickend. Sicher ein gerechter Herrscher. »In einem Reich«, flüsterte Maisyn, »in dem sich Gerechtigkeit und Herrschaft nicht ausschließen. Und dann der Junge: Prachtvoll fotografiert!« Er lachte leise, er liebte seinen Beruf, ja, manchmal ruhte er ganz und gar in sich selbst und liebte, was er tat.

    Der Ruf in immer neue, fremde Städte führte ihn oft in Sackgassen und er machte unentwegt Fehler um Fehler. Aber nun: Die Sache gedieh! Er würde erfolgreich sein und er würde – zurückkehren. Zwei Dinge musste er nun tun: »Ich muss herausfinden«, redete er sich selbst gut zu, »wo Oberezbach liegt und Vladimir fragen, wie weit es noch hin ist bis zum ersten Mai.«

    3 Titanwurz und Kaffee

    Vladimir würde ihm nicht nur mit dem ersten Mai weiter helfen, er wüsste vielleicht auch, wo Cordelia sich versteckte. Maisyn machte sich auf den Weg ins Sei gegrüßt, Fremder, das Café mit dem täglichen, großen Frühstücksbuffet bis vierzehn Uhr.

    Er war nicht wirklich sicher, was Cordelia betraf. War es ein Verlust, dass sie verschwunden war? Oder eine Gnade? Er durfte die Entscheidung nicht übereilen. Er hatte lange nach ihr gesucht.

    Rubrik: Hybride. Gottesform: monotheistisch-jenseitsgläubig. Der Glaube an ein Leben danach schien eine wertvolle Hilfe zu sein. Fortpflanzungserfolg: zwei Kinder. (Beide Mädchen!)

    Sie hatten bis zum heutigen Tag so schöne, vielversprechende Nachmittage gehabt!

    »Was möchtest du heute tun?«, hatte er sie vor einigen Tagen gefragt und sich noch weiter vorgewagt: »Es muss hier eine Art Museum für Blumen geben, ich habe gehört, wie Leute darüber gesprochen haben.«

    Diese mit allem gesegneten Menschen! Auf dem stinkenden Haufen Müll, auf dem sie lebten, wuchsen wie bunte Schimmelpilze die großartigsten Dinge. Museen zum Beispiel. Er hatte gehört, es sei unmöglich, im Laufe eines Menschenlebens jedes existierende Museum zu besuchen. Unfassbar! Allerdings gab es Unterschiede. Gravierende. Es gab welche, in denen wurde Unerhörtes gezeigt. Die Mutter mit dem Kind. Immer wieder die Mutter mit dem Kind. Als wüssten sie es bereits. Andererseits gab es zusammengeklebten Müll, nicht anders als der, der sowieso auf den Straßen lag. Und Badewannen, wie sie in jedem Haus zu finden waren. Ab und zu wurden sie geputzt.

    »Meinst du den Botanischen Garten?«, hatte Cordelia geantwortet.

    »Einen Garten? Ich weiß nicht. Ich möchte die Titanwurz blühen sehen.«

    »So!« Sie hatte sich damals sehr gefreut. »Du möchtest die Titanwurz blühen sehen!« Lachend war sie mit ihm, auf seinen Wunsch hin zu Fuß, zum Botanischen Garten gegangen. Und tatsächlich: Er hatte ihre Knospe gesehen! Der purpurfarbene Gigant maß fast drei Meter, und während Maisyn eine Stunde lang um die ihm so bekannte und geliebte Pflanze herumgelaufen war, hatte Cordelia ihn fester in ihr Herz geschlossen.

    Bei ihren anderen Treffen hatte sie Kaffee trinken wollen und er hatte sie ins Sei gegrüßt, Fremder gebracht. Das war etwas, hatte er gelernt, was alle mittelmäßigen Frauen unbedingt von ihm wollten, und was er verabscheute: Kaffee. Aber er hatte gelernt zu tun, was nötig war. Er hatte begonnen, seinen empfindlichen Körper an das Gebräu zu gewöhnen, Kaffee mit den Frauen zu trinken und sich dabei an ihrer Mittelmäßigkeit zu ergötzen. Er trank von nun an Kaffee aus Kännchen und Tasse, Milchkaffee aus handgroßen, runden Wannen und übergab sich regelmäßig nach einer Portion Kaffee mit Schuss. Der Schuss schmeckte nach Gift. Er musste Kaffee à la Mocca trinken, der in vorgewärmten Kannen serviert und in winzige Tassen gefüllt wurde. Im Schwarz schwammen dann Kaffeekrümel, in seinem Mund nachher auch. Er lernte marokkanischen Kaffee kennen und Kaffee mit Kokosgeschmack. Kaffee mit Schaum und kalten Kaffee. Es war furchtbar.

    Aber bei einem dieser Kaffees hatte Cordelia begonnen, zu sprechen. Sie redete über die Emanzipation von Konsum, über Selbstbestimmtheit und wie süß er, Maisyn, neben der Titanwurz ausgesehen hatte.

    »Wenn du mehr Titanwurz sehen willst«, hatte er angefangen.

    »Das ist wirklich nicht nötig, Maisyn«, hatte sie gesagt, aber dabei hatte sie gelacht.

    Sie wollte etwas Neues, etwas Eigenes, etwas erreichen, erzählte sie und wollte wissen, ob er ihr helfen könne.

    Das hätte er gern getan! Doch nun war sein Werben womöglich vergeblich gewesen.

    Nun, es hatte verschiedene Pannen gegeben in letzter Zeit. Zum einen war es hier und jetzt schwierig, eine mittelmäßige Frau zu finden. Es gab einige untrügliche Hinweise. Kaffee. Kinder. Dieser besondere Blick. Der Nimm-mich-mit-Blick. Was dann kam, war seinem Instinkt überlassen. Manche Frauen hatten beim Abfragen zu vieler Details beim ersten Treffen mehr als abweisend reagiert. Er war deshalb dazu übergegangen, ihnen seine Zeit zu schenken. Zeit war immerhin kein Problem. Und das schien ihnen zu gefallen: »Lass dir Zeit …«, sagte er zu ihnen. Jedes Mal wieder.

    Was Cordelia betraf, sie schien nicht bereit zu sein, ihm ohne ihre Kinder zu folgen. Manchmal schien es, als hinge sie sogar an ihrem Mann. Ihre Tränen hatten es bewiesen, als sie ihm anvertraut hatte, dass er ihre Freundin geschwängert hatte. Maisyn gab dazu keinen Kommentar ab, aber er beneidete den Mann. Es war umsonst, was er getan hatte, aber er hatte es versucht. Er hatte es eben nicht besser gewusst.

    Andere Frauen vor Cordelia hatten es kategorisch ausgeschlossen, ohne ihre Kinder zu gehen, was Maisyn rätselhaft fand. Er konnte diese Laune nicht deuten. Niemand konnte doch vorhersagen, ob diese Kinder das gesunde Maß an Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit entwickeln würden, wie ihre aufgrund dessen eigens ausgesuchten Mütter. Es war menschenkundlich betrachtet wahrscheinlich, dass ein unerwartetes, besonderes Erlebnis im Kindesalter, vielleicht verbunden mit einem Schockzustand, nicht zu einer Entwicklung zur Mittelmäßigkeit beitrug. Eins komma sechs Kinder geboren zu haben war aber nun einmal das Merkmal einer Mittelmäßigen. Und ihre Annahme, besser gesagt, ihr bedingungsloser Glaube daran, das Beste für ihre Kinder seien unter Ausschluss von Alternativen sie selbst, die Mütter, gehörte ebenfalls zum Wesenszug der mittelmäßigen Frau. Ein Paradoxon, das er seiner Suchmaske unlängst beigefügt hatte. »Wohin mit diesen so bedingungslos geliebten Kindern?«, rätselte er und traf auf dem Weg ins Café auf ein unerwartetes Hindernis.

    Er war sich der Uhrzeit, nach der sich hier von der Jagdzeit der Füchse bis zum Öffnen und Schließen der Läden und Restaurants alles richtete, nie sicher. Deshalb war er nur langsam den bekannten Weg zum Sei gegrüßt, Fremder geschlendert, um ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. Was Vladimirs Café anging, das er regelmäßig besuchte, hatte er sich sofort gefragt, ob nur ein Zufall die Namensgebung bestimmt hatte. Der Inhalt des Buffets, neben allerlei beinah Ungenießbarem doch offensichtlich beherrscht von ungezuckerten Früchten, frisch, und nicht mit Konservierungsstoffen behandeltem Brot, ließ ihn allerdings annehmen, dass jemand dort einen Stützpunkt errichtet hatte. Ob derjenige allerdings noch da war, blieb ihm verborgen.

    Maisyn blieb entsetzt stehen, als er bemerkte, dass sich der Weg zum Eingang des Cafés verändert hatte, beinahe blind war er in etwas hinein gestolpert, das er hassen gelernt hatte, das man Markt nannte. Markt war etwas, das ohne Muster immer und beinahe überall auftauchen konnte. Unberechenbar. Wie ein Pilz. Aber ein großer und von Menschen betriebener Pilz. Ein Pilz mit Musik. Bis zur Ohnmacht hatte ihn der Gestank der Käsetheke beim ersten Mal getrieben und sein Kontakt mit dem Notarzt hatte ihn in äußerste Bedrängnis gebracht.

    Schnell verstopfte er sich jetzt die Nasenlöcher mit frischem

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