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Schatten des Grauens: HALLER-Horrorgeschichten 2
Schatten des Grauens: HALLER-Horrorgeschichten 2
Schatten des Grauens: HALLER-Horrorgeschichten 2
eBook251 Seiten3 Stunden

Schatten des Grauens: HALLER-Horrorgeschichten 2

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Über dieses E-Book

Die Freude an Horrorgeschichten speist sich meist aus dem Auftauchen übernatürlicher Gestalten, von Geistern, wiedergeborenen Toten und Monstern. Das wahre Grauen aber liegt oft ganz nah an der sichtbaren Oberfläche der Welt.
Aus einer großen Fülle an Texten ausgewählt, präsentiert Corinna Griesbach ein Best-of für die Fans der Düsternis und des Grauens. Es sind die Furcht und die Finsternis, die den Leser erfüllen. Wesen von der dunklen Seite der Wirklichkeit. Der schwarze Mann, der Zombie, Lisas neuer Papa.

"Schatten des Grauens" ist der zweite Band dieser Sammlung; Band 1 erscheint unter dem Titel "Blutmond". 
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum12. Okt. 2016
ISBN9783957659705
Schatten des Grauens: HALLER-Horrorgeschichten 2

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    Buchvorschau

    Schatten des Grauens - Corinna Griesbach

    3

    Christine Millman: Der Jäger

    Tief im Schatten verborgen stehe ich und beobachte dich. Händchen haltend mit deinem Freund verlässt du das Haus. Du hast Geschmack, das muss ich dir lassen. Der Kerl sieht aus wie einem Katalog für Männermode entsprungen. Ich dagegen bin nichtssagend. Ein Mann, den man sofort wieder vergisst, wenn man ihn überhaupt bemerkt. Aber das macht nichts. Ein Jäger braucht kein buntes Fell und kein schönes Gesicht. Ein Jäger muss unauffällig sein und mit der Umgebung verschmelzen, damit die Beute, damit du mich nicht bemerkst.

    Du küsst deinen Freund zum Abschied, bevor er in sein Auto steigt. Seine Miene ist düster und er wirkt bleich und übernächtigt. Ob er ahnt, dass er dich nie wiedersehen wird?

    Wie jeden Tag tragen dich deine Schritte den Gehweg entlang zur Bushaltestelle. Unauffällig folge ich dir. Wie anmutig du läufst. Ein makelloser Körper in Harmonie mit den Bewegungen. Dein langes, dunkles Haar glänzt in der Morgensonne wie eine frisch geschlüpfte Kastanie.

    Du bist so schön.

    Als wärst du nicht von dieser Welt. Bist du auch nicht. Aber das weiß niemand außer mir, nicht einmal dein Freund. Eine Windbö reißt die letzten Blätter von den Bäumen und bläst sie über den Asphalt. Fröstelnd schlage ich den Kragen meiner Jacke hoch und ziehe den Kopf ein. Der Wind trägt deinen Duft zu mir heran. Maiglöckchen mit einem Hauch Verwesung, den normale Menschen nicht wahrnehmen. Aber ich. Ich rieche den Tod. Er haftet an dir wie ein übles Gerücht, folgt dir überall hin. Instinktiv taste ich unter die Jacke nach der Lederscheide an meinem Gürtel. Ein Jagdmesser steckt darin mit achtzehn Zentimeter langer, handgefertigter Klinge aus Hochleistungsstahl. Eine Aufbrechklinge, mit der Jäger die Bauchdecke ihrer Beute aufschlitzen, um die Innereien nicht zu verletzen, damit das Fleisch nicht verdirbt. Dasselbe mache ich auch. Ich muss das tun, um das Böse in dir zu vernichten. Bedauern darüber, dass ich deinen vollkommenen Körper ruinieren muss, gemischt mit Erregung durchflutet mich bei der Vorstellung und ich frage mich, wann dich der Dämon wohl erwischt hat. Es kann nicht allzu lange her sein, denn du bist noch jung, Anfang zwanzig vielleicht. Das ist gut.

    Die Jungen sind leichter zu töten.

    Der Weg zur Bushaltestelle führt dich durch einen kleinen Kiefernwald, dessen hohe, schlanke Stämme kaum Schutz vor neugierigen Blicken bieten. Doch das macht nichts. So früh am Morgen sind nur wenige Menschen unterwegs, und ich bin schnell und effizient.

    An der Kreuzung vor dem Waldstück bleibst du stehen und siehst dich um, als hätte dich eine dunkle Ahnung beschlichen. Spürst du den nahenden Tod? Normalerweise bemerkt niemand das Feuer, das in meinem Herzen brennt und mich dazu treibt, gegen das Böse zu kämpfen. Manchmal frage ich mich, ob es andere gibt, die so sind wie ich. Die sie ebenfalls wahrnehmen, die dämonische Präsenz in dieser Welt.

    Du wendest dich um und blickst zurück. Erschrocken husche ich in einen Hauseingang. Mein Herz klopft. Hast du mich bemerkt? Sekundenlang verharre ich in Regungslosigkeit. Bei jedem hektischen Atemzug strömen Kondenswolken aus meinem Mund. Raschelnde Blätter fegen vorbei. Witterst du mich? Ich warte, zähle langsam bis zehn, bevor ich es wage, um die Ecke zu spähen. Du betrittst den Feldweg, der zum Wald führt. Erleichterung durchflutet mich. Jetzt schnell über die Straße, bevor du dich erneut umsiehst.

    Der Waldboden dämpft meine Schritte. Geschickt weiche ich Zweigen und Blättern aus, leichtfüßig wie eine Katze. Nur noch wenige Meter, dann schlage ich zu. Mein Herzschlag beschleunigt sich, Adrenalin strömt durch meine Adern. Der Verwesungsgeruch, der deinem Körper anhaftet, legt sich über den frischen Duft des Waldes.

    Seltsam. Warum ist er plötzlich so stark?

    Lautlos schleiche ich näher. Du verlangsamst deinen Schritt und drehst dich um. Ohne zu überlegen, hechte ich hinter einen umgestürzten Baum. Zu spät. Du hast mich entdeckt.

    »Warum folgen Sie mir?« Deine Stimme klingt ruhig. Entweder beherrschst du deine Angst oder du hast keine. Warum auch? Der Dämon in dir gibt dir Kraft. Deine Hand tastet nach etwas in deiner Jackentasche, ein Pfefferspray vielleicht oder dein Handy. »Lassen Sie mich in Ruhe. Verschwinden Sie!«

    Unwillkürlich muss ich grinsen. Immer die gleichen Worte. Gehen Sie weg, lassen Sie mich in Ruhe, was wollen Sie. Wie albern und unnötig. Gelassen trete ich hinter dem Baumstamm hervor, meine Arme hängen entspannt nach unten und ich lächle entschuldigend. »Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie sind mir aufgefallen und da bin ich Ihnen gefolgt. Tut mir leid. Das hätte ich nicht tun sollen.«

    Ich halte den Atem an. Wirst du mir glauben? Deine Augen wandern über meine Gestalt, verharren einen Moment zu lang in Höhe meiner Hüfte. Das Messer liegt gut verborgen unter meiner Jacke, oder? Deine Miene ist wie in Stein gemeißelt, verrät nichts von deinen Gefühlen. Doch etwas sagt mir, dass du es weißt. Dass du weißt, dass ich dich töten werde. Fast unmerklich weichst du zurück, Zentimeter für Zentimeter. Ich zögere nicht mehr und schlage zu. Mit einem Satz bin ich bei dir, schnappe deinen Arm und wirble dich herum, während ich blitzschnell das Messer ziehe und es an deine Kehle drücke. Keuchend stößt du den Atem aus deinen Lungen. Du bist überrascht, ich weiß. Ich sehe nicht aus, als wäre ich so schnell. Aber das bin ich. Oh ja.

    »Bitte«, stößt du hervor. In deinen Augen spiegelt sich echte Angst, doch ich lasse mich nicht täuschen. Du bist kein Mensch und ich muss dich vernichten. Hitze strömt durch meinen Körper, gefolgt von einem erregenden Kribbeln. All meine Sinne sind geschärft. Ich rieche dein Blut, spüre deine Panik.

    Du strampelst mit den Beinen, versuchst, deine Arme zu befreien. Dann fängst du an zu schreien. In einer fließenden Bewegung lasse ich die Klinge über deine Kehle gleiten. Tief dringt sie in dein Fleisch, durchtrennt die Halsschlagader und deine Luftröhre. Dein Schrei verebbt in einem Gurgeln. Blut strömt aus deinem Mund über deine Jacke. Schnell zerre ich dich vom Weg, zu dem hohlen Baumstamm, wo ich den Leichensack versteckt habe. Deine Gegenwehr erlahmt. Ich knie mich hin und bette deinen Kopf auf meinen Schoß.

    »Pschscht. Alles wird gut.« Beruhigend streiche ich über dein Haar. Es ist nicht so seidig, wie ich dachte, dafür duftet es nach Apfelshampoo. Dein Mund schließt und öffnet sich wie ein Fisch auf dem Wasser, während dunkles Blut zwischen deinen Lippen hervorquillt. Panisch siehst du zu mir auf. Eine Träne rinnt deine Schläfe hinab. Der Anblick stimmt mich traurig. So sollte es nicht sein. Eine junge, schöne Frau sollte nicht sterben müssen wegen widerlichen Teufelswerks.

    Als dein Blick bricht und der letzte Atemzug aus deinen Lungen strömt, mache ich mich ans Werk. Vorsichtig lege ich dich auf den Boden. Die Erde ist kühl, Raureif bedeckt Gräser und Zweige und benetzt deine Kleider. Ich öffne deine Jacke und schlitze den grau melierten Pullover auf, den du darunter trägst. Dein Bauch ist perfekt. Makellos weiß. Andächtig streiche ich mit den Fingern darüber, hinterlasse rote Spuren auf deiner Haut. Meine Hand zittert. Das ist nicht gut. Ich will ja keine Sauerei anrichten, während ich deine Bauchdecke öffne. Die aufgeschlitzte Kehle ist schon genug. Übelkeit steigt in mir empor. Der Verwesungsgeruch wird immer stärker. Wie klebriger Sprühnebel legt er sich auf meine Atemwege. Tief atme ich durch den Mund ein und entlasse die Luft durch die Nase, den Speichel, der sich in meinem Mund sammelt, spucke ich ins Gras.

    Was ist nur mit mir los?

    Ruhig. Ich muss ruhig bleiben. Das Knacken eines Astes lässt mich hochfahren. Was war das? Ein Tier? Oder ein Fußgänger? Egal. Ich muss mich beeilen. Noch einmal tief durchatmen, den Würgereiz unterdrücken und los. Die Klinge fährt durch dein Fleisch, durchtrennt Fett und Muskelgewebe. In wenigen Sekunden habe ich die Bauchdecke geöffnet. Den Blut- und Fäkalgestank ignorierend wühle ich mich durch das Gedärm auf der Suche nach dem verdorbenen Stück. Meistens liegt es zwischen Gallenblase und Dickdarm. Diesmal nicht. Konzentriert suche ich, bis ich ferne Schritte höre, die der der Wind zu mir heranträgt. Mir bleiben nur Minuten noch. Zur Hölle noch mal, es muss doch irgendwo sein. Ich kann es riechen. Da! Nein. Hektisch wühle ich weiter. Das Blut pocht in meinen Ohren und ich beginne zu schwitzen.

    Warum kann ich es nicht finden?

    »Zeig dich, Dämon«, zische ich und schnuppere. Der Verwesungsgeruch wird mich führen. Ich beuge mich näher, ziehe den Atem durch die Nase und folge der unsichtbaren Spur. Näher. Immer näher. Über deine Bauchdecke hinweg zu … zu mir. Ich erstarre. Das kann nicht sein. Ich bin der Jäger, nicht die Beute. Meine Augen wandern über deinen Körper. Habe ich eine Unschuldige getötet? Meine Faust krampft sich um das Messer, keuchend stoße ich den Atem aus. Langsam hebe ich meinen Arm und schnuppere an ihm. Eindeutig Verwesungsgeruch. Die Erkenntnis raubt mir die Luft, ist wie ein Felsbrocken, der mich unter eiskaltes Wasser zieht.

    Ich bin der Dämon, nicht du. Ich bin es.

    Die Schritte sind nun ganz nah. Gleich wird man mich sehen, wie ich hier auf dem Waldboden sitze, eine aufgeschlitzte Frau vor mir liegend. Oh Gott. Was hab ich getan? Wimmernd sinke ich auf deinen toten Leib.

    Wann hat es mich erwischt? Und warum habe ich nichts gemerkt? Bin ich infiziert worden von denen, die ich getötet habe? Hundert blutige Leichen schweben vor meinem geistigen Auge, richten ihren leeren Blick auf mich. Eine stumme Klage.

    Ich höre einen Schrei. Wie aus weiter Ferne dringt er in mein Bewusstsein. Schwerfällig hebe ich den Kopf. Auf dem Waldweg steht eine Frau in Sportkleidung und starrt mich an, blankes Entsetzen im Gesicht.

    »Ich … ich wollte das nicht«, stoße ich hervor.

    Die Frau fixiert das Messer in meiner Hand und rennt dann los.

    »Bitte«, rufe ich ihr nach. »Es ist nicht meine Schuld.« Vergeblich. Sie sieht sich nicht einmal um. Mein Magen krampft sich zusammen, beißende Flüssigkeit schießt in meinen Mund. Ehe ich mich versehe, beuge ich mich zur Seite und übergebe mich. Nachdem sich mein Magen beruhigt hat, rapple ich mich auf. Mein Blick gleitet zwischen deiner Leiche und dem Messer in meiner Hand hin und her.

    Ich habe versagt.

    Der Verwesungsgeruch hüllt mich ein wie ein teuflischer Kokon, erinnert mich daran, wer ich bin und dass es noch nicht vorbei ist. Der Jäger bäumt sich auf, verlangt nach seinem Stück Fleisch. Ich zwinge mich zur Ruhe, schließe die Augen und horche in mich hinein. Wo ist der Dämon? Wo hat er sich versteckt? Langsam, in Zeitlupe fast, öffne ich den Reißverschluss meiner Jacke, knöpfe das Hemd auf und entblöße meinen Bauch. Eine seltsame Ruhe senkt sich auf mich hinab. Keine Angst, keine Verzweiflung, nur kalte Berechnung.

    Ich bin ein Jäger. Ich werde den Dämon vernichten. Koste es, was es wolle.

    Regina Schleheck: Die Tasche

    Der blau Uniformierte ließ die Ledertasche nachlässig in die Plastikwanne fallen. Es gab ein hohles Geräusch, die Wanne setzte sich in Bewegung und dann legten sich die schwarzen Gummistreifen fast zärtlich über den Inhalt, als sie ins Dunkle gezogen wurde. Erdinger hielt die Luft an. Seine Wadenmuskeln spannten sich. Er vergaß ganz, den Mann vor dem Bildschirm im Auge zu behalten, so sehr konzentrierte er sich auf das Innere der Box. Erst als die junge Beamtin am anderen Ende des Fließbands die Tasche hochhielt, löste sich seine Lähmung und er stürzte auf sie zu. Ein weiterer Uniformierter stellte sich ihm in den Weg, hielt ihn an den Schultern zurück, griff ihm unter die Achseln und tastete ihn ab. Erdinger widerstand dem Impuls, den er im Knie verspürte, als der Mann so dicht vor ihm stand. Stattdessen sagte er: »Thank you«, und ging zu der freundlich lächelnden Beamtin, die ihm die Tasche entgegen hielt.

    Im Flugzeug lag sie auf seinen Knien. Er legte seine Hände darauf. Spürte durch das dicke Leder die Wölbung. Das Zittern setzte wieder ein.

    »Coffee, tea, orange juice, soda?«, fragte die Stewardess. »Or do you want white or red wine?«

    »No, thank you«, sagte Erdinger. Die Tasche blähte sich auf unter seinem Klammergriff. Seine Fingerspitzen waren weiß vor Anstrengung. Dann schob sich der Wagen mit den Getränken weiter durch den Gang.

    Den Flug hatte er also auch geschafft.

    Erst im Taxi griff er nach den Druckverschlüssen. Er tastete sie ab. Sie wurden warm unter seinen zärtlichen Berührungen. Draußen flogen Straßenschilder vorbei. Autos näherten sich, drängelten sich heran, beschleunigten und verschwanden wieder.

    »Antwerpener Straße?«, wiederholte der Fahrer. Er musterte seinen Passagier im Rückspiegel.

    Erdinger ließ die Schnallen los und legte die Arme über die Tasche.

    »Nummer fünf«, sagte er.

    »Nummer fünf lebt«, sagte der Taxifahrer und verzog den Mund zu einem Grinsen.

    Erdinger sah aus dem Fenster. Sie fuhren über den Rhein. Für einen Moment hatte er das Gefühl, wie wenn das Auto Gas geben und auf das Geländer zuhalten würde. Er schloss die Augen, spürte aber seltsamerweise nichts, umklammerte die Tasche, während der Wagen flog, er spürte ein Ziehen im Bauch im Fallen, und öffnete die Augen wieder. Sie fuhren am Heumarkt vorbei.

    »Kennen Sie den?«, fragte der Fahrer.

    Erdinger schrak zusammen: »Wen?«

    »Den Film.«

    »Welchen Film?« Erdinger ärgerte sich im gleichen Moment, dass er überhaupt gefragt hatte.

    »Nummer fünf lebt«, sagte der Mann. »Der Film mit dem Roboter.«

    »Ich gucke solchen Science-Fiction-Mist nicht.« Erdinger hoffte inständig, dass der Mann es damit gut sein lassen würde.

    Bis zur Aachener Straße schwieg er tatsächlich. Dann sagte er trotzig zu dem LKW, der unmittelbar vor ihm die Warnblinkanlage anstellte, um zu entladen: »Das ist keine Spinnerei. Das ist sehr gut möglich, dass Dinge ein Eigenleben entwickeln. Dass sie Gefühle haben.«

    Erdinger sagte nichts.

    Der Fahrer fixierte ihn im Rückspiegel, während sein Taxi dem LKW auf die linke Fahrspur auswich, ohne sich um den Verkehr zu kümmern. Ein Auto bremste scharf und hupte.

    »Ich weiß, was ich sage«, beharrte der Mann. »Sie können das gerne lächerlich finden. Aber ich fahre dieses Taxi seit achtzehn Jahren. Und ich weiß genau, wann es schlecht drauf ist oder jemanden nicht leiden mag.«

    Erdinger schwieg.

    Als sie die Nummer fünf schließlich erreichten, zog Erdinger hastig die Brieftasche hervor und hielt dem Fahrer einen ziemlich großzügig bemessenen Schein hin. »Stimmt so.«

    Der Taxifahrer knurrte etwas Versöhnliches.

    Kaum hatte Erdinger die Tür hinter sich zugeschlagen, fuhr das Taxi mit quietschenden Reifen los, als könnte es nicht erwarten, endlich seinen Fahrgast hinter sich zu lassen.

    Als Erdinger seine Wohnung aufschloss, hatte er Mühe, die Tür gegen den Widerstand der dahinter aufgetürmten Kartons zu öffnen. Er hatte sich kaum bis zur Küche durchgekämpft, als das Telefon klingelte. Nürten war dran.

    »Alles gut gelaufen?«, fragte er. »Sie haben den Vertrag mit Merten und Co. in der Tasche?«

    »Der Vertrag ist perfekt«, sagte Erdinger. Ihm fiel ein, dass das eigentlich ein Grund war, stolz zu sein.

    »Und Sie haben gut durchgehalten?«, fragte Nürten weiter. »Alles im grünen Bereich?«

    Eigentlich musste Erdinger ihm dankbar sein, dass er ihm diese Chance gegeben hatte. Dass er ihn immer wieder eingesetzt hatte, trotz seiner Ausfälle. Aber im Moment hasste er ihn.

    »Merten ist ein sehr umgänglicher Mensch, nicht wahr?«, fragte Nürten weiter.

    »Ja, sehr sympathisch. Aber auch ein knallharter Geschäftsmann.«

    Sein Chef lachte. »Umso mehr können Sie doch auf sich stolz sein, dass Sie das geschafft haben«, meinte er. »Hat er Sie denn noch eingeladen?«

    »Nein, er hatte einen dringenden Termin«, sagte Erdinger müde.

    »Na gut, dann können wir ja ganz froh sein«, meinte Nürten. »Ich sage Ihnen, Holger, Sie schaffen das noch. Ich vertraue fest auf Sie.«

    »Wieso eigentlich?«, hätte Erdinger am liebsten gefragt. Er beließ es bei einem »Danke, Carsten«.

    Die Küche war sehr schweigsam, als er aufgelegt hatte.

    Die Tasche auf dem Tisch lachte lautlos und in freudiger Erwartung.

    Bereitwillig gab sie jetzt ihren Inhalt preis, den Merten ihm als kleines Dankeschön zum Geschäftsabschluss in die Hand gedrückt hatte.

    Die goldgelbe Flüssigkeit der Flasche rann in seine Kehle, ohne ein Absetzen zu dulden. Er konnte ihren Weg genau verfolgen. Spürte, wie sie durch die Speiseröhre in den Magen rann, wie die Magenschleimhäute sie begierig aufsogen, wie sie weiter sickerte, durch die Membrane, seine Adern und Lymphen eroberte, ihm die Glieder wärmte, seinen Kopf füllte, wie in ihm ein Gesang anhob, der anschwoll, der alles um ihn herum auslöschte, ihn erhob und fliegen ließ, genau so wie eben im Auto, nur dass es bis zum Fußboden nicht so weit war, wie bis in den Rhein und dass die Flüssigkeit, als sie wieder aufstieg, die ganze bittere Masse mitbrachte, die sie im Magen vorgefunden hatte. Sie hatten sich dort unten innig vereint, hatten Freudentänze vollführt, und jetzt wollte dieses Gemenge wieder hinaus. Es nahm ihm den Atem, weil er ja auf dem Rücken lag und sich nicht wehren konnte. Dass die leere Tasche ihn auf seinem Weg nach unten begleitet hatte, kam erschwerend hinzu. Denn sie legte sich über sein Gesicht und ersparte der Nachbarin, die zwei Tage später, von Nürten alarmiert, mit dem Nachschlüssel die Wohnung betrat, gnädig den Blick in Erdingers Augen und auf die Überreste dieser Masse, die mit Erdingers letzten Zuckungen verendet war.

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    »Kreuzungen sind mächtige Orte.« Das hat ihre Großmutter immer gesagt. »An einer Kreuzung treffen die Welten aufeinander, in der Dämmerung die Zeiten. Der Stoff der Wirklichkeit wird durchlässig.« Ihre Großmutter hat viel über solche Dinge gewusst.

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