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Ruf der Kraniche
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eBook221 Seiten3 Stunden

Ruf der Kraniche

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Über dieses E-Book

Nachdem der Himmelstürmer Verlag von Svenson Björglund bereits die beiden erfolgreichen Romane 'Catwalk Dreams' und 'Gebrochene Flügel' herausgebracht hat, legt er mit 'Ruf der Kraniche' das neueste Werk dieses Autors vor. Auch hier geht es um besondere Lebensschicksale und die junge Liebe zwischen zwei Freunden, die durch viele Hindernisse ihren gemeinsamen Weg zu finden suchen. Gleichzeitig beschreibt Svenson Björglund ein Stück grausamer Zeitgeschichte, die sich niemals wiederholen darf. Es ist dies eine mitreißende Fluchtgeschichte, die uns in das traditionsträchtige Ostpreußen mit den berühmten Pferdezüchtern und den scheinbar endlosen Kornfeldern führt. Hier wächst Jan auf dem elterlichen Gestüt in gutbürgerlichen Verhältnissen auf und entdeckt mit seinem Freund Christian und Jenny, Tochter der Haushälterin, das Leben in allen Facetten. Jan und Christian mögen sich und machen gemeinsam ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Christian wird schließlich zur Hitlerjugend eingezogen, damit kommt auch der Krieg nach Ostpreußen. Es beginnt für sie die schmerzliche Zeit der Trennung. Erst jetzt bemerkt Jan seine Liebe zu Christian, hat aber nicht den Mut, sich zu ihr zu bekennen. Als die russischen Soldaten auch nach Stallupönen einfallen, begeben sich Jan, Jenny, ihre Mutter Hanna und Kossmann, der alte Knecht, im Treck auf die Flucht heim ins Reich. Sie erleben das ganze Elend des Krieges mit Luftangriffen, Flucht über das vereiste und brüchige Haff, Vergewaltigungen und viel Hunger und Not. Als der polnische Zwangsarbeiter Adam zu ihnen stößt, erfährt Jan vom Schicksal seiner Eltern und schließt seine Vergangenheit ab. Von nun an blickt er noch nach vorn mit dem einzigen Ziel, zu überleben. Dabei wird die Liebe zwischen Jan und Adam die tragende Kraft. Als sie schließlich im Reich ankommen, werden sie zum Spielball vernichtender Intrigen. Es ist ein spannender Roman voller überraschender Momente, in dem auch die Erotik nicht zu kurz kommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum1. Jan. 2014
ISBN9783863614300
Ruf der Kraniche

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    Buchvorschau

    Ruf der Kraniche - Svenson Björglund

    Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

    E-mail: info@himmelstuermer-verlag.de

    www.himmelstuermer.de

    Foto: Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de

    Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

    www.olafwelling.de

    Originalausgabe, März 2008

    Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

    ISBN print: 978-3-934825-97-0

    ISBN epub 978-3-86361-430-0

    ISBN pdf 978-3-86361-431-7

    Vorwort

    Nachdem der Himmelstürmer Verlag von Svenson Björglund bereits die beiden erfolgreichen Romane „Catwalk Dreams und „Gebrochene Flügel herausgebracht hat, legt er mit „Ruf der Kraniche" das neueste Werk dieses Autors vor. Auch hier geht es um besondere Lebensschicksale und die junge Liebe zwischen zwei Freunden, die durch viele Hindernisse ihren gemeinsamen Weg zu finden suchen. Gleichzeitig beschreibt Svenson Björglund ein Stück grausamer Zeitgeschichte, die sich niemals wiederholen darf.

    Die Liebhaber und Sprachexperten des wunderschönen ostpreußischen Dialektes mögen es dem Autor verzeihen, wenn er bei den Dialogen wegen zu geringer Kenntnis nicht der offiziellen Schreibweise dieser besonderen Sprache folgt, sondern nur den Versuch einer einfachen Nachschrift wagt. Er tut dies aber auch, damit auch jeder Ungeübte die Dialoge verstehen kann.

    In Erinnerung an meine Mutter, die mit vier kleinen Kindern unter unsagbaren Entbehrungen und großen Opfern Krieg, Flucht und Neuanfang durchlitten hat.

    Die Heimat

    Ein leichter Wind wehte über die weiten goldgelben Kornfelder Ostpreußens und ließ die überreifen Kornähren sich gefährlich zur Seite neigen. Es wurde Zeit, dass die Ernte begann. Der Himmel meinte es seit Wochen übermäßig gut. Auch heute waren nur wenige grauweiße Wolken zu sehen. Sie schienen sich verirrt zu haben, mal zogen sie gehorsam in die Richtung, die ihnen die Ähren vorzeigten, dann wieder schienen sie erstarrt zu verharren, als wüssten sie nicht, in welche Richtung ihre Reise gehen sollte. Die Feldränder sahen wie in einem Bilderbuch festlich bunt geschmückt aus. Fast schon feierlich wirkten die Farbtupfer am Wegesrand. Zwischen den duftenden weißen Kamillestauden und den Margeriten hob sich das intensive Blau der Kornblumen ab, unterbrochen vom feuerrot leuchtenden Mohn. Einige Lerchen schmetterten ihre fröhlichen Loblieder in den tiefblauen Himmel, während sie mit ihren kleinen Flügeln die Luft rastlos zu zerhacken schienen.

    Auf den angrenzenden sattgrünen, von vielen Butterblumen und rotviolett blühendem Klee gleichmäßig kunstvoll besprengten Wiesen, tummelten sich einige Dutzend Jungpferde, jedes von ihnen war ein kleines Vermögen wert. Von weit her, aus dem ganzen Großdeutschen Reich und darüber hinaus kamen zweimal im Jahr professionelle Pferdehändler in dieses kleine ostpreußische Gut, das fast schon versteckt zwischen dem berühmten Trakehnen und der Kreisstadt Stallupönen direkt neben der Pissa lag, einem Nebenarm der Pregel, um die berühmten Trakehner aufzukaufen. Dieser Hof hatte sich über Jahrzehnte einen guten Namen erworben, auf den der Besitzer Erich Kowalski stolz war. Er war mit seinen vierzig Jahren ein erfahrener Gutsherr und Pferdezüchter in dritter Generation. Nach ihm würde sein einziger Sohn alles weiterführen. Jan war erst sechs. Er hatte noch viel Zeit, sich einzuarbeiten. Sorgen machte dem Gutsherrn lediglich, dass Jan kein richtiger Junge war, kein richtiger Kerl. Er war das, was Erich früher immer salopp abwertend als „Schwächling" bezeichnet hatte. Lag es daran, dass der Junge zu sehr verwöhnt wurde? Wie oft musste der Vater eingreifen, wenn seine Frau versuchte, dem Jungen sämtliche Steine aus dem Weg zu räumen und seine Weichheit noch unterstützte. Wie sollte er so das Leben kennen lernen, wie sollte er so zu einem richtigen Mann werden?

    Kowalski ging den schmalen ausgefahrenen Feldweg entlang zu seinem Einspänner und prüfte die Körner, die er aus den Ähren mit beiden Handflächen herausgerieben hatte. Ja, das Korn war reif, sehr reif. Er musste unbedingt mit der Ernte beginnen, wenn er keinen Verlust einfahren wollte. Es versprach eine enorm gute Ernte zu werden.

    Er band die Zügel vom Wagen los und schwang sich auf den Kutschbock. „Hüh!" Der braune Zweijährige setzte sich in Bewegung. Nun musste der Gutsherr nur noch zu den anderen Weiden, auf denen die restlichen Trakehner-Pferde weideten. Er musste nachsehen, ob sie auch noch genug Grünfutter hatten und alle Tränken ausreichend mit frischem Wasser gefüllt waren. Eigentlich konnte er sich auf seine Mitarbeiter verlassen.

    Der Weg führte ihn durch eine großzügig angelegte Eichenallee, die jetzt zur Mittagszeit angenehmen Schatten spendete. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. So sollte es auch sein, sie waren alle an ihrer Arbeit. Schon bald würde es hier anders aussehen, wenn erst die Ernte begonnen hatte. Nur gut, dass sie ihren Schwerpunkt auf die Pferdezucht gelegt hatten und nicht auf die Getreideproduktion. Was sie hier ernteten, war nur für den eigenen Bedarf bestimmt.

    Als der Gutsherr auf seinen Hof einfuhr, stoben einige Hühner aufgeregt gackernd auseinander. Hasso, der Schäferhund, der sein Herrchen sonst immer auf seinen Touren begleitete, lag faul in der heißen Sonne und schaute nur kurz auf, als er die wohlbekannten Geräusche des Einspänners vernahm. Der junge Stallknecht Martin kam über den mit großen zugehauenen Feldsteinen gepflasterten Hof zum Gefährt gelaufen und nahm dem Gutsherrn die Leine ab.

    „Danke, Martin!"

    Man konnte es dem fröhlichen Blondschopf nicht sofort ansehen, dass er nicht gesund im Kopf war. Die Leute erzählten, dass sein Vater ihn als Kleinkind immer mächtig auf den Kopf geschlagen haben soll, weil er sich nicht damit abfinden konnte, ein krankes Kind zu haben. Deshalb habe der Gutsherr ihn auch schließlich auf seinen Hof genommen. Genaues wusste aber niemand so richtig. Es war reines Mitleid, soviel jedenfalls war bekannt. Hier konnte er sich nützlich machen und ging keinem auf die Nerven.

    Martin kannte sich gut mit Pferden aus, erstaunlich gut sogar. Er hatte den Zweijährigen am Halfter gefasst und ihn, nachdem er ihn vom Wagen losgebunden hatte, in den Stall geführt, um ihn mit einer Handvoll Stroh trocken zu reiben. Sicher würde er ihm sogleich auch einen Eimer mit kaltem Wasser vorstellen. Manchmal hatte der Gutsherr den Eindruck, dass Martin mit den Tieren sogar sprechen konnte. Das würde auch durchaus gut zu ihm passen. Auf ihn war auf alle Fälle Verlass.

    „Na Martin, ist Jan auch schon zurück?"

    Martin schüttelte den Kopf: „Neji, noch nich, hat noch Schule!" Er schaute den Gutsherrn dabei nicht an, das tat er grundsätzlich nicht, wenn er mit jemandem sprach, egal, wer es war.

    „Dann wird er ja gleich kommen." Kowalski stampfte einige Male auf die abgetretene Terrazzotreppenstufe, um die restliche lehmige Felderde von den Lederstiefeln zu klopfen, bevor er in die große Empfangsdiele eintrat. Hier atmete noch alles den Geist der vergangenen Jahrhundertwende. Erich Kowalski liebte dieses traditionsträchtige Gutshaus, barg es doch wie ein riesiger Blumenstrauß tausend Geheimnisse in sich. Hier war er selbst aufgewachsen, hier war sein Sohn Jan geboren, hier verbrachte er sein Leben.

    Der ganze Bau zeugte von robuster und zweckmäßiger Architektur, ohne dass der für ein Gutshaus notwendige solide Prunk dabei zu kurz kam. Es waren hohe Räume, großzügig mit barockem Gipsstuck und Deckenornamenten verziert. Die schweren Eichentüren ließen den ganzen Raum irgendwie geheimnisvoll dunkel erscheinen. Die Türgriffe waren so hoch angebracht, dass Jan sie erst seit zwei Jahren selber öffnen konnte. Vorher reichten seine kleinen Hände nicht zu den Türgriffen heran. Ein teurer Kronleuchter hing in der Mitte des Raumes. In einer Ecke stand ein alter Kamin, der den Geruch von abgestandenem Rauch und frischem Birkenholz verbreitete. Er war sorgfältig gesäubert worden. Einige dicke Holzkloben lagen aufgestapelt daneben. Der Fußboden war gespänt. Es war immer eine gewaltige Aktion, wenn das ganze Gesinde unter Leitung der Küchenmagd mit einem Ball aus Stahlwolle die Dielenbretter bearbeitete.

    Manchmal, wenn viele Gäste erwartet wurden, wurde auch hier eine lange Speisetafel aufgestellt und es waren meistens die Kinder und das Gesinde, die hier ihre Mahlzeiten einnahmen. Die erwachsenen Gäste saßen dann im Speisezimmer, das durch die vielen Urkunden und Ölgemälde von prämierten Pferden an den Wänden ausgeschmückt war. Es gab weit und breit unter den über fünfzehntausend privaten Züchtern kein Gestüt, das bessere Pferde aufzuweisen hatte als sie. Vielleicht lag es an der Nachbarschaft zu Trakehnen? Zumindest profitierten sie von der einzigartigen und für die Pferdezucht vorzüglichen Bodenbeschaffenheit. Als der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. im 18. Jahrhundert beschloss, ein Gestüt hier in dieser entlegenen und unwirtlichen Gegend im nordwestlichen Teil Ostpreußens zu gründen, war es noch alles Sumpfgebiet. Aber man besann sich der alten Zeiten, als hier noch die Schweiken, jene robusten Urpferde, 1231 im Rahmen der Christianisierung von den Deutschordensrittern als Streitrosse eingeführt, in dieser Gegend erfolgreich gezüchtet wurden. Mit sechshundert preußischen Soldaten wurde in nur sechs Jahren aus dem unbrauchbaren Land bestes Weideland, vermischt mit Kalk und Phosphor, welches den Pferden ihr hartes Knochengerüst gab. Damit begründete Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1732 die Pferdezucht in Trakehnen und Erich Kowalski profitierte immer noch davon. Er war jedes Mal stolz, wenn er einem Fohlen das begehrte Brandzeichen, die siebenzackige doppelte Elchschaufel, auf den linken Hinterschenkel einbrennen lassen konnte. Ja, seine Pferde waren zumindest genauso wertvoll wie die aus dem staatlichen Gestüt Preußens. Einer seiner Hengste war sogar bei den Siegerpferden, die bei der Olympiade 1936 in Berlin drei Gold- und eine Silbermedaille erkämpft hatten. Doch, er war stolz auf seine Pferde.

    Es lag noch gar nicht so lange zurück, dass er im schlossähnlichen Landhaus des Landstallmeisters in Trakehnen war, um mit seinem Freund über diesen Erfolg zu sprechen. Er kam dabei auch an dem wunderschönen Denkmal von „Tempelhüter" vorbei, dem berühmtesten Deckhengst des Gestüts. Voller Ehrfurcht schaute er auf dieses Rassepferd aus gegossener Bronze. Man musste nicht einmal wissen, dass dieser Hengst der Sohn des berühmten englischen Vollbluthengstes ‚Perfectionist’ war, der dem Gestüt ein Vermögen gekostet und sich schon nach drei Jahren wegen eines unglücklichen Sturzes in seiner Stallbox das Becken brach und eingeschläfert werden musste. Wer einen solchen Hengst wie Tempelhüter im Stall hatte, brauchte sich um den Absatz kaum zu sorgen. Der Name war bereits Garantie für Rasse und Qualität.

    Es lag stets eine erhabene Ruhe in den Räumen des Gutshauses. Hier wurde weder laut gerufen noch sonst wie unnötig Lärm geschlagen.

    Wenn der Hausherr allein war, hielt er sich am liebsten in der Bibliothek auf. Riesige Bücherregale, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, füllten die Wände. Hier stand auch sein schwerer Schreibtisch, der besonders kunstvolle Holzschnitzereien aufwies. Dahinter stand ein hoher Lehnstuhl, der die gleichen Ornamente wie der Schreibtisch hatte, nur, dass er in der Rückenlehne einen kunstvoll geschnitzten Adler mit ausgebreiteten Flügeln zeigte. Jan überkam jedes Mal ein ehrfürchtiger Schauer, wenn er diesen Raum betrat, wie jetzt, als er, nachdem er seine Schultasche auf dem alten Stuhl in der Diele abgestellt hatte, leise an die Bibliothekstür klopfte.

    „Ja, mein Sohn, komm rein!"

    Jan öffnete die schwere Tür und stellte sich neben den Schreibtisch. Er musste warten, bis sein Vater ihn zuerst ansprach, eine Regel, die er von ganz klein an lernen musste.

    „Wie war es in der Schule?"

    Sollte Jan jetzt erzählen, dass der Herr Lehrer den Werner, den Sohn vom alten Müller, mit dem Rohrstock tüchtig verdroschen hatte? Sollte er auch sagen, dass er gezüchtigt worden war, weil er seinen Schwamm für die Schiefertafel, der aus dem Ranzen seitwärts hervor hing, zu Hause nicht angefeuchtet hatte? Sicher würde der Vater es gerecht finden. Erich Kowalski hielt sehr viel von Ordnung und Pflichterfüllung. Eine deutsche Tugend sei es, wenn man Pflicht und Disziplin kenne und auch entsprechend handele. Kürzlich gab es bei einem Mitschüler fünf Stockhiebe auf die Innenseite der Finger, weil das Schulbuch zwei große Eselsohren aufwies. Nein, bei Jan würde es sich der Lehrer nicht trauen, ihn zu züchtigen, aber bei den anderen tat er es umso mehr. Martha, die Tochter des Dorfschmieds, kam kürzlich zu spät, sie waren bereits zum Unterrichtsbeginn aufgestanden und sangen die erste Strophe ihres Gesangbuchliedes, als sie mit hochrotem Kopf und verschwitzten Haaren in den Klassenraum hereinstürmte. Sie kam nur wenige Minuten zu spät. Zwei Stunden musste sie deshalb nachsitzen.

    Jan saß im einzigen gemeinsamen Klassenzimmer in der ersten Reihe. Vorne saßen immer nur die Kleinsten, dahinter dann die höheren Klassen. Man rückte also automatisch mit jedem Klassenwechsel ein Stückchen weiter nach hinten. Sie waren ohnehin nur höchstens zwanzig Kinder. Jan durfte vorne sitzen bleiben, ein Privileg, dass die meisten anderen Schüler so akzeptierten.

    Von hier aus sah er den riesengroßen Wallnussbaum und dahinter die alte Scheune vom Hubert mit dem Storchennest auf dem Wagenrad, das die Männer vor einigen Jahren mit viel Aufsehen dort oben befestigt hatten. „Dagobert" hatten die Jungs den ersten Storchenvater getauft, der sich dort oben mit seiner Storchenbraut niedergelassen hatte. Seitdem war es schon die dritte Generation, die auf diesem erhöhten Dorfplatz ihr Zuhause eingenommen hatte. Es gab viele Störche im Dorf.

    „Ich hab eine Eins bekommen für’s Schönschreiben!" Jan hatte sein Schulheft schon längst in der Hand und reichte es stolz seinem Vater zur Ansicht hin.

    „Sauber, mein Junge. Ja, so soll es sein. Schau, dass du gute Zensuren bekommst, dann wird auch was rechtes aus dir. Du sollst ja einmal hier an meinem Platz sitzen und die Geschicke des Gutes leiten. Dazu muss man viel lernen!" Wie zum Zeichen, dass nun die Audienz beendet war, reichte der Vater dem Jungen das Heft zurück. Dann wendete er sich seinem großen Journal zu, das geöffnet auf dem Schreibtisch lag. Es füllte fast den halben Schreibtisch aus.

    Jan ging zurück in die Empfangsdiele. Im gleichen Moment ging die Tür zur Küche auf. Hilde, die Küchenmagd, hatte den Jungen bereits kommen hören.

    „Junge, da bist du ja! Ich hab schon auf dich gewartet." Irgendwann, es musste weit zurückliegen, war Hilde als Mädchen aus Sachsen in Stellung nach Ostpreußen gekommen, warum auch immer. Sie nahm den schmächtigen Jungen in ihre starken Arme und drückte ihn an ihren dicken, weichen Busen. Sie trug auch heute wieder ihre weiße Schürze und die kleine Spitzenhaube, die sie als Küchenchefin auszeichnete. Die anderen Leute vom Gesinde machten Späße über sie, über ihren dicken Hintern, über ihre runden Beine. Jan verstand das überhaupt nicht. Er mochte sie, und er mochte auch ihren süßen Schokoladenpudding mit Mandeln, den sie auch jetzt wieder neben dem Teller mit den Bratkartoffeln mit viel Kümmel und gebratenem Speck stehen hatte.

    „Wo ist meine Mutter?", wollte Jan wissen.

    „Sie hat sich hingelegt, du solltest sie nicht stören!"

    Jan wusste, dass es nichts Schlimmeres gab, als wenn er jetzt seine Mutter aus dem Mittagsschlaf aufwecken würde. „Und wo ist Jenny?" Wieder schaute Jan die Küchenmagd an.

    „Sie is’ jetzt Gänse hüten, seit einer Stunde vielleicht!"

    Jenny war Hildes Tochter, gemeinsam bewohnten sie mit den anderen Angestellten das kleine Gesindehaus, gleich neben dem herrschaftlichen Gebäude. Wer Jennys Vater war, blieb stets ein Geheimnis. Jan konnte von seinem Zimmer aus direkt auf ihr Stubenfenster sehen.

    Jan beeilte sich mit dem Essen. Er hatte sich mit Christian verabredet. Christian war der Sohn vom Stallmeister, er war ein Jahr älter als Jan und ging schon in die zweite Klasse, genau wie Jenny. Gemeinsam wurden sie von Günter, dem Jungknecht, mit dem Einspänner zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Der Weg war viel zu lang, um ihn zu Fuß zurückzulegen. Sie würden zwei Stunden brauchen, ganz bestimmt. Im Winter brauchten sie dann doppelt so viel Zeit, denn es gab immer viel Schnee. Überhaupt waren die Wintermonate grauselig ungemütlich, nicht selten hatten sie dreißig oder manchmal auch vierzig Grad minus. So waren alle über diese Lösung froh.

    Die Gänse flogen schnatternd auseinander, als Jan und Christian mit ihren Fahrrädern angeradelt kamen. Sie schlugen wild mit den Flügeln um sich und stürmten davon. Die Jungs radelten zum Endspurt um die Wette. Ihre Schutzbleche klapperten so laut, dass jedes Lebewesen automatisch Gefahr vermutend flüchtete. Jenny schaute ihnen entgegen. Sie mochte ihre beiden Freunde, die doch eigentlich so grundverschieden waren. Christian war für sein Alter recht groß und stämmig. Er hatte blondes, halblanges Haar und blaugraue Augen. Jan dagegen wirkte schwächlich, fast schon mädchenhaft. Er trug sein Haar lang. Immer wieder fielen ihm die Locken ins Gesicht. Sein Blick war verträumt, als würde er immer nebenbei noch zu Besuch in einer anderen Welt sein.

    „Hey, kuckt mal, was ich hier hab! Jenny hielt ein Marmeladenglas in der Hand, in dessen Deckel große Luftlöcher gestochen waren. Im Glas war eine Handvoll frischer Fliederblätter, die inzwischen halb verwelkt waren. Dazwischen krabbelten einige Maikäfer herum. „Ich hab einen Schornsteinfeger und einen Müller, seht mal. Sie reichte das Glas Jan, der es gegen das Licht hielt, um alle drei Tiere zu sehen. „Wir können uns ja heut Abend noch mehr fangen, geht ihr mit?"

    Jenny hatte Mühe, die aufgeregten Gänse wieder einzufangen. Sie hatte sich eine Weidenrute abgeschnitten und schlug damit energisch auf den Boden. „Los, ihr Lorrrbasse, jejit ins Wasser!", rief nun auch Christian und klatschte dabei in die Hände. Sofort rannten die Gänse schnatternd mit langen Hälsen in Richtung Fluss. Schon sprangen sie ins Nass.

    „Hast schon in der Bunge nachgesehen?", wollte Jan wissen.

    Vorgestern hatten sie das selbst gebaute Fischfanggerät in der Pissa versenkt. Mit Grausen musste Jan an den

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