Die Schneekugel: Ein Roman in Erzählungen
Von Hugo Ramnek
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Über dieses E-Book
Die titelgebende Erzählung erhielt den Premio letterario internazionale Merano-Europa 2019. Patrick Rina, ORF, schreibt in seiner Laudatio: Uns allen täte ein Schütteln – in diesem Fall ein Lesen – der Schneekugel gut. Dieser Text fesselt den Leser einerseits mit dem dosierten (niemals schulmeisterlichen!) Rückgriff auf Kärntens verminte Zeitgeschichte, mit dem Erläutern der Nachkriegsdemenz, mit der Vorwegnahme einer Bodenprobe des Haider-Humus. Andererseits besticht der Text durch die weißen Zwischenräume. Er lebt auch vom Nicht-Geschriebenen, vom bloßen Anstupsen eines Gedankendominos, von den "verhauchenden Atemwölkchen" der Gefühle. Eine große kleine Erzählung mit poetischer Kraft!
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Buchvorschau
Die Schneekugel - Hugo Ramnek
Schneien
DER ABDRUCK
Auf dem Schreibtisch steht die Schneekugel. Ihm ist heiß. Im Vorhang verfängt sich die Sonne.
Unter der Kuppel liegt Schnee.
Überall eingefrorene Fährten. Alles still.
In die weißgestäubte Landschaft ist eine Figur gestempelt. Ein Menschenabdruck, hingebreitet, schwarz, ein Arm weggestreckt, der andere verschmolzen mit der dunklen Fläche, weit auseinandergestreckte Beine, die Füße nach außen gedreht. Kahle Bäumchen stehen am Wegrand, ein geknickter, laubloser Ast, Zweige am Weg. Schwarze Schuhstapfen führen weg vom Körper, der fehlt.
Oben weit weg im Bergschnee ist eine viertatzige Spur, die geht hin und her.
Er schüttelt die Schneekugel.
SCHATTENTANTE
Erst bei ihrer Beerdigung hat er erfahren, dass sie Vaters Schwester war.
Irgendwie hat er es vielleicht ja gewusst. Zwischen Vater und ihr gab es etwas, das anders war als bei seiner Schwester und ihm, etwas Verhaltenes trotz aller Zuneigung. Es war, als müssten sie sich einen Ruck geben, bevor sie sich zur Begrüßung küssten und sich wie über eine Bodenspalte hinweg umhalsten.
Früher war ihm bei der Hinfahrt jedes Mal am Rücksitz schlecht geworden, jetzt saß er vorne und lenkte das Auto die kurvige Strecke dem Grenzgebirge entlang, neben ihm Vater, hinten Mutter, Schwester, Bruder. Als sie zum Friedhof einbogen, fragte er: Wie sind wir eigentlich mit ihr verwandt? Sie ist – Mutter stockte – sie war die uneheliche Tochter deines verstorbenen Großvaters, die er mit einer von unten hatte. Sag bloß, dass du das nicht weißt.
Es ist immer Mutter, welche die Familiengeschichten erzählt, auch die der Vaterseite.
Was er von der Tante wusste, war, dass sich ihre leibliche Mutter nie um sie gekümmert hatte, doch erst bei ihrem Begräbnis erfuhr er, dass sie einige Jahre zusammen mit seinem Vater aufgewachsen war. Warum hatte er niemals gefragt? Zu keiner Zeit war darüber geredet worden. Da klaffte ein Loch. Oder hatte er das alles überhört? Vater hatte bestimmt nicht darüber gesprochen. Maulfaul ist er, sagte Mutter immer wieder, er redet nur in der Kanzlei mit seinen Akten.
Er war jetzt schon lange nicht mehr Amtsleiter, aber sie beklagte sich wie eh und je über seine Einsilbigkeit.
Er, ihrer beider Sohn, neun Monate nach der Hochzeit auf die Welt gekommen, erinnerte sich, wie seine Großmutter ihn, ihren Enkel, wenige Tage vor ihrem Tod getröstet hatte, dass er ein lediges Kind sei. Hatte sie ihn mit ihrer Stieftochter verwechselt? Wie wäre es gewesen, als uneheliches Kind aufzuwachsen?
Die Tante war ihm vertraut, aber er sah sie stets aus einer Art Entfernung, gleichsam aus dem Auto heraus, wie es bei den Besuchen in den Hof einbog. Die kleine Frau stand in der Tür, die Knie gebeugt, den Oberkörper nach hinten gelehnt, so als würde sie jeden Moment rückwärts kippen. Sie sprach wenig, doch hin und wieder klopfte sie Sprüche, nein, sie schoss sie los, urplötzlich, ohne Vorwarnung, zwischen den eingezogenen Lippen hervor, zahnlos vermantscht, aber deutlich genug, in einer knappen, deftigen Sprache, und dazu grinste sie. Zwischen Nase und Oberlippenbärtchen hatte sie einen roten Fleck, der verlegen mitzulachen schien. Dann zog sie sich wieder in ihr Kopftuch zurück. Die Küsse zur Begrüßung und beim Abschied fielen ihm immer schwer. Er wusste nicht, wo er sie hinplatzieren sollte zwischen Muttermal und Barthaar und Kopftuch.
Als er frierend an ihrem Grab stand, musste er daran denken: keine umständlichen Abschiedsküsse mehr, nur eine Schaufel prasselnder Erde auf die Kiste im Loch. Am Thomastag war sie gestorben, in der ersten der Raunächte. Zu Weihnachten war sie also zugleich da und nicht da gewesen, am Stefanstag nun wurde sie begraben, kein neues Jahr für die Tante.
Er schämte sich, weil er beim Herablassen des Sargs an den Abort neben ihrem Haus gedacht hatte. Als Kind hatte er immer Angst gehabt, durch das Loch im Sitzkasten zu fallen, hinein in die stinkende Brühe unter ihm. So stellte er sich die Hölle vor. Trotzdem musste er jedes Mal hinunterschauen. Schnell wischte er sich den Hintern ab mit den zurechtgeschnittenen Zeitungsquadraten, legte den schweren, runden Deckel auf das Loch und war heilfroh, wenn er wieder draußen war.
Sie war also die Stiefschwester seines Vaters. Er hatte das halb gewusst und nie gefragt, wie er auch nie gefragt hatte, wo ihr Mann genau herkam. Der war sein Taufpate, ein mütterlicher Mann mit buschig üppigen Augenbrauen und mächtig abstehenden Ohren und einem Gesicht, so breit, als wäre es auseinandergezogen worden. Die flache Mundsichel schien über die Wangenränder hinauswachsen zu wollen. Er öffnete die Lippen kaum und sprach in einem leisen Singsang ohne große Abweichungen nach unten oder oben. Die Selbstlaute dehnten sich in der langgestreckten Mundhöhle, und selbst die kantigsten Mitlaute wurden unter der niedrigen Gaumendecke weichgeschliffen. Nie hörte er von ihm ein lautes Wort.
Und allezeit lag ein Lächeln auf dem Onkelgesicht, so dünn ausgewallt, dass man es kaum bemerkte. Darüber war dichtes Haar, die Kammfurchen stets exakt gezogen. Der metallene Kopfrechen wohnte neben dem Taschenmesser in der Rocktasche, immer griffbereit, und jedes Mal, wenn der Onkel aus dem Zimmer ging, kam er frisch gekämmt zurück. Seine Hände waren groß wie Suppenteller und voller Farbflecken. Mutter sagte: Er führt die ruhigste Hand und hat das halbe Grenzland beschriftet. Er benützt keine Schablonen, jedes Mal setzt er neu an. Als Kind stand für ihn fest, er wird Schriftenmaler wie der Onkel und beschreibt seine Gegend.
Auch war