Niemandssohn: Roman
Von Rainer Imm
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Über dieses E-Book
Ein Vater-Sohn-Roman – emotional, schweißtreibend, detailreich ausgelotet.
„Kennzeichnend ist Rainer Imms wache und farbige Art des genauen Erzählens sowie seine Fähigkeit, Szenisches plastisch vor Augen zu führen.“ Reutlinger Generalanzeiger
„Imm, der als Sohn eines Schmiedes in einem Bahnwärterhaus aufwuchs, entwickelt nun im Milieu seiner Kindheit eine krimi-artige Geschichte. Ihr Ausgang bleibt spannend, greift in die Leidenschaften des Erzählers ein.“ Schwäbisches Tagblatt
Rainer Imm
Rainer Imm lebt und schreibt in Tübingen. Nach seinem Studium ist er zunächst in der Unternehmenskommunikation und dann als freier Autor und Journalist tätig. „Stahlberg & Co“ ist sein fünes Buch. Im Omnino Verlag ist bereits seine Anthologie „Bolzplatz - Das Buch“ und sein Roman „Niemandssohn“ erschienen.
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Buchvorschau
Niemandssohn - Rainer Imm
1
Leo schwitzte und stank nach verdorbenem Fleisch. Sein Mund war ein Trockengebiet, in dem er die zersetzten Restaromen des Tankstellenkaffees schmeckte, den er sich die letzten fünf Stunden immer wieder reingeschüttet hatte. Er konnte sich selbst nicht riechen. Seine Hände zitterten, als er mühsam den Blinker setzte. Die Müdigkeit nach der langen Fahrt lag auf ihm wie eine graue, muffige Rotkreuzdecke. Darunter war er fast schmerzlich aufgedreht und nervös.
Als er auf den Parkplatz einbog, scheuchte er Vögel auf, die wie an Fäden gezogen kurz hoch und gleich wieder zurück in die Ginsterbüsche flatterten. Der Parkplatz sah gefegt und sauber aus, peinlich gepflegt wie aus schlechtem Gewissen.
Leos Gehirn dröhnte mit jedem Herzschlag, als hätte es keinen Platz in diesem Kopf. Er legte seine Stirn auf das kühle Plastik des Lenkrads. Der laufende Motor vibrierte durch den Schädel und verteilte sein Kopfweh gleichmäßig. Er war froh über einen anderen, flachen Schmerz.
Leo trug ein uraltes T-Shirt mit dem Logo der englischen Motorradfirma Triumph, eine Fleece-Jacke und eine Wanderfunktionshose. Die leichten Trekkingschuhe lagen zwischen den Kaffeebechern im Fußraum. In diesem Aufzug hatte er vom Tod seiner Mutter erfahren, hatte die halbe Nacht in seiner Hütte in den Alpen vor sich hin glotzend auf der Holzbank keinen klaren Gedanken fassen können. Und in diesem Aufzug würde er bald neben seinen sauber duftenden Geschwistern in der Aussegnungshalle und am Grab ihrer Mutter stehen.
Auf der Hütte mit Aussicht über Täler und auf Bergspitzen, mit Holzbalkenknarren statt Agentur-Gelaber und Almwiesen statt Loft, war er schneller als erwartet mit der ersten Fassung der Biographie eines Kunden fertig geworden. Zur Feier hatte er seinen Nachbarn, den Kühen, mit einem Glas Laphroaig-Whisky zugeprostet. Vielleicht um den PIN-Code nicht ganz zu vergessen, hatte er das Handy eingeschaltet, obwohl er diese Hirnkocher nicht mochte.
„Einmal pro Woche will ich deine liebliche Stimme hören."
Nick, sein Agenturpartner, hatte ihm eines aufgedrängt: „Ruf an, JETZT!" Er leckte dabei mit der Zunge seine Lippen nass und hauchte auffordernd mit Schlafzimmerblick und halboffenem Mund in eine imaginäre Fernsehkamera. Leo hatte seine Einlage nicht verstanden.
Neun Nachrichten lagen an, keine davon wollte er hören. Später in der Nacht hörte er sie doch ab. Nick hatte seinem Bruder und seiner Schwester die Nummer gegeben, obwohl Leo ihm das verboten hatte. Wie ähnlich doch die Messages – so würde Nick sagen – der beiden waren. Zunächst die Aufforderung mit gedämpfter Kirchenbesichtigungsstimme dringend zurückzurufen. Mit jeder weiteren Nachricht, in der sie lauter und unverschämter wurden, konnte er sich besser die dünner werdenden Lippen und das wellige Kinn seiner Geschwister vorstellen. Bei den folgenden schrieen sie den Telefonhörer feucht, beschimpften Leo und wollten einen Kurier schicken. Zuletzt brüllten sie auf die Mailbox, dass ihre Mutter gestorben sei und wann die Beerdigung stattfinde. Den Rest schoben sie als Zugabe hinterher: ihre geheim gehaltenen Schmerzen, der Zusammenbruch, die Metastasen und das Morphium, das sie relativ friedlich sterben ließ.
Die Kopfschmerzen sammelten sich wieder unter der Schädeldecke. Leo schloss die Augen und sah in Gedanken seine Mutter neben ihm sitzen in seinem Oldtimer Military-Jeep, einem Willys MB, Baujahr 1943. Sie hatte passende olivgrüne Hosen mit Seitentaschen an, eine Militärjacke, Springerstiefel. Die Sachen, um die sie ihn vergeblich gebeten hatte, sie waschen und pflegen zu dürfen, als er bei der Bundeswehr war, aber längst nicht mehr zuhause wohnte. Sie ragte kaum über den Sitz hinaus. Mit Zeige- und Ringfinger strich sie am öligen Scharnier der Frontscheibe entlang. Sie konnte die Finger noch strecken und die Altersflecken waren noch nicht zu sehen. Sie zog die Brauen hoch, sah ihn aus weißen Augenwinkeln an. Die Lippen zuckten. Diese Vorankündigung, bevor sie mit offenem Mund eher wieherte als lachte und dabei die Zähne freilegte wie ein Pferd, liebte Leo, seit er denken konnte. Er mochte es fast noch mehr als ihr viel zu lautes Maria-Schell-Lachen selbst, das Gäste der Bahnhofskneipe immer erschreckt hatte, weil sie zu zierlich, zu hübsch dafür erschien.
„Endlich hast du dir einen zugelegt! Ich hätte mich allerdings für den Ford GPW entschieden. Du weißt schon, wegen des Radstands, immerhin achtzig Inches."
Die Liebe zu alten Jeeps war immer ihr gemeinsames Geheimnis gewesen. So geheim, dass es auch sein Bruder nicht aus ihm herausprügeln konnte. Jetzt stieß ihre Lachsalve wie ein metallener Brieföffner in seinen Gehörgang und durch das Trommelfell. Diesen Schmerz nahm er gern in Kauf, denn ihr Lachen gehörte ganz allein ihm, niemand sonst.
Leo rutschte mit seiner Stirn vom Lenkrad und schreckte aus seinem Halbschlaf wieder auf. Er erinnerte sich, dass die amerikanischen Truppen ihre Panzer immer dann verschoben hatten, wenn seine Mutter nicht in der Bahnhofskneipe der nächsten Kleinstadt aushelfen musste. So als sei es mit ihr vereinbart gewesen.
Wenn sein Bruder Peter die von Vater selbst gemauerten Gartentreppen hochkeuchte und mit schwitzender Stimme die Kolonne ankündigte, warf seine Mutter schon ihre Schürze über die Küchentür, nahm Leo an der Hand und zog ihn hinter sich her zur Landstraße. Sie wusste, wenn die Sonntagsgläser in der Wohnzimmervitrine klirrten und eigentlich kein Zug vorbeirattern durfte, dann kamen die Jeeps und Panzer der Amis.
Während die Jungs aus dem Dorf am Straßenrand hin- und hersprangen, gegen den Motorenlärm um Kekse und Kaugummi bettelten, setzte Leo sich auf den Boden und spürte die Panzer. Der ganze Untergrund wackelte, es kitzelte am Po. Er wollte sich flach hinlegen, traute sich aber nicht. Sitzend konnte er außerdem die viereckigen, grobstolligen Jeeps besser sehen. An ihnen liebte er jede Einzelheit, das Reserverad, die überlangen Antennen. Seine Mutter hatte davon geschwärmt, dass man die Windschutzscheibe runterklappen und durch die Streuobst- und Kuhwiesen hinter ihrem Bahnwärterhaus ganz hoch durch den steilen Waldabschnitt bis zur Burg fahren könnte – sicher ohne stecken zu bleiben, sogar im Winter. Er hatte damals keine Ahnung, woher sie das alles wusste und warum.
Sie setzte sich hinter ihn und er folgte mit seinen Augen ihrem Zeigefinger und jedem einzelnen Jeep. Während die anderen Kaugummi kauten, wirbelte der Staub in seinen offenen Mund und vermischte sich mit seiner Spucke.
Als die Kolonne durch war und die Dorfkinder weg, schluckte er den Dreck hinunter und seine Mutter klopfte den Straßenstaub aus ihren Kleidern. Die Mischung aus Schmutz, Diesel und Schweiß saß schwarz neben den Nasenflügeln, in den Stirnfurchen und in den Lachfalten, er hatte wohl die ganze Zeit gegrinst. Mutter seifte ihn lachend mit ihren beiden Händen ein wie bei einer Schneeballschlacht und verschmierte den Dreck im Gesicht. Sie sahen aus wie Vater, wenn er abends heimkam und erzählte, dass er sein verdammtes Schienenfahrzeug, das er abgöttisch liebte, wieder mal den halben Tag reparieren musste.
Leo hörte das Klingeln der Bahnschranken vor ihrem Bahnwärterhaus. Seine Mutter hatte sie früher selbst runter- und hochgekurbelt. Jetzt gingen sie sicher ferngelenkt wie von Geisterhand auf und zu.
Es war das Handy, wahrscheinlich hatte er diesen Klingelton Nicks skurrilem Humor zu verdanken. Während er sich meldete, war er überrascht von den Bildern. Erinnerungen, die Jahrzehnte nicht hochgekommen waren.
„Leo, bist du schon dort?", typisch Nick, ohne Anlauf gleich zur Sache.
„Wenn du den Friedhof meinst, dann bin ich dort."
„Alles klar bei dir?"
„Ich sitz ausgeschlafen, frisch geduscht und gut rasiert im dunklen Zwirn, mit weißem Hemd, im schwarzen Daimler und freu mich riesig auf das Event", dabei betonte und dehnte er Nicks Lieblingswort Event besonders.
„Mann, ich habe drei Beinahe-Unfälle hinter mir, kann mich kaum wach halten und gleich buddeln die meine Mutter ein, die ohne mich gestorben ist."
„Sorry, das tut mir echt leid, das mit deiner Mutter. Ich würde dich auch nicht anrufen, aber unsere Situation. Du weißt schon!"
„Nick, ich bin am Mittwoch im Büro."
„Deshalb ruf ich an. Wir haben einen Auftrag und du musst beim Briefing dabei sein – am Montag! Hey Leo, das ist ein Heimspiel: deine Gegend, dein Milieu, die Biographie eines Arbeiterführers aus der Bahnarbeiterszene: Mike Merida."
Nick wusste von Leos Herkunft und Leo wollte ihm dieses Wissen am liebsten wieder entreißen. Der Artikel in der FAZ über ihre ungewöhnliche Agentur, die Feier und der Sekt hatten ihn ungeplant gesprächig gemacht. Er hatte ihm seine wenigen Kindheitserinnerungen erzählt, von seinem Vater, dem Bahnarbeiter und Schmied. Von seiner Familie im Bahnwärterhäuschen, das neben den Gleisen auf halber Strecke zwischen dem Dorf und der Burg am Berg klebte. Wie die Kinder aus dem Dorf trotz Verbot sich hoch zu ihnen über die Bahngleise schlichen und die Ausreden nicht gut genug waren und sie dann nicht mehr auftauchten, um Münzen vom roten Schienenbus platt fahren zu lassen oder um auf den Eisengeländern neben den Schranken zu balancieren.
„Definitiv ohne mich. Den Topf mach‘ ich nicht auf."
Leo nahm das Handy vom Ohr und bevor er den roten Knopf drückte, hörte er Nicks Stimme in seiner Hand:
„Leo, du musst dabei sein, denn eigentlich hab ich den Auftrag schon angenommen."
Er sah Nick als durchsichtiges Vexierbild auf der Windschutzscheibe vor ihm und er warf ihm sein eigenes „No way! Forget it! ins Gesicht. Sein rechter Arm stieß nach vorne. Der Handrücken zeigte nach oben und bildete mit dem Unterarm eine Linie. Die rechte Schulter zog er hoch und führte den Schlag etwas schräg aus, damit er besonders wirkungsvoll sein würde. Charly, sein Boxtrainer, wäre sehr zufrieden gewesen: „Erst die Rechte und dann die Linke … erst whuuuuh, dann whomp.
Kurz vorm Glas bremste er den Schlag ab.
Er wollte seine Ruhe haben und nicht in seiner Vergangenheit rumrühren. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen. Ein für alle Mal. Er wollte auch nicht hier sein.
Ritter Ivanhoe hatte ihm damals geholfen, aber jetzt war er wieder in seinen Wäldern in England. Er hatte schon ewig lange nicht mehr mit ihm Seite an Seite gegen die Muselmänner gekämpft, die seine Burg oben am Berg einnehmen wollten. Sie hatten gemeinsam neue Schwerter in Vaters Keller geschmiedet und damit den Monstern die Köpfe abgehackt, deren Schleim ihm ins Gesicht schlabberte, bevor sie ihn nachts fressen wollten.
„Nimm Platz, mein Ritter, genau hinter mir, und halte mir den Rücken frei, genauso wie damals", sagte er leise, aber feierlich.
Als die Fahrertür aufgerissen wurde, spürte Leo, wie Ivanhoes Schwert nach vorne an seinem Kopf vorbeizischte und die scharfe Spitze kurz vor der ungepanzerten Brust des Angreifers zum Halten kam.
„Schläfst du hier oder was?"
Peter genoss es, den Herzschlag seines Bruders auf Sprinterniveau zu heben. Dabei musste er froh sein, nicht von Ivanhoes Klinge aufgespießt zu werden. Der Puls drückte Leo die Schmerzen rhythmisch in die Augäpfel. Er stieg aus und hielt wie immer Peter die Hand zur Begrüßung hin. Sie war kalt und nass und irgendwie war er froh, dass Peter sie nicht drückte, sondern ihn umarmte wie Honecker Breschnew. Er klopfte ihm hart auf den Rücken, so dass Leo fast husten musste. Peter hatte Leo zuletzt umarmt, als er zwölf war. Er war zusammengebrochen, als er vom plötzlichen Tod ihres Vaters erfahren hatte. Vorher hatte er mit seinem Wanderstock, auf dem kleine Blechschildchen mit Bildern vom Zillertal und Kalterer See wie Trophäen festgenagelt waren, die Wohnzimmervitrine und das Sonntagsgeschirr zerlegt. Peter hatte Leo geohrfeigt und dann fest umarmt, eher umklammert, während er sich die Stimmbänder wund brüllte.
Es wurde ihm zu eng und zu nah, er wand sich aus Peters sozialistischer Umarmung.
„Musstest du unbedingt mit diesem Auto zu Mutters Beerdigung kommen!" Peter schob ihn zur Seite, griff in den Jeep und schaltete den Motor aus. Hier war es wieder, dieses Familien-Außenseiter-Gefühl. Es hatte sich nur versteckt, fast hätte er es vergessen.
2
Immer mehr Autos bogen in Zeitlupe auf den Parkplatz ein, als würden sie auf zu dünnes Eis fahren. Sogar sie heuchelten Mitleid und Leo wunderte sich, warum fast alle Wagen dunkel und schwarz waren. Besorgten sich Beerdingungsbesucher extra dunkle Autos? Er spürte Blicke durch Windschutzscheiben wie spitze Zeigefinger, die nervös auf seine Schulter tippten.
Er ging voraus und es tat ihm gut, unter hohen Bäumen zu gehen, sie gaben ihm Sicherheit. Ihm gefiel der Friedhof, wahrscheinlich wegen der Bäume, die er nicht mehr in Erinnerung hatte. Er war bestens organisiert, es hingen kiefernadelgrüne Gießkannen an gepflegten Brunnen mit Eisengitter-Abstellflächen neben akkuraten Wegen. Leo hatte alte Witwen hier erwartet, es warfen aber auch Männer im besten Alter verwelkte Blumenreste auf den Biomüll. Sogar junge Menschen knieten vor Gräbern und bearbeiteten Erde und pflegten Pflanzen.
Ein Friedhof – und er fühlte sich wohl! Er lachte kurz laut auf. Ein paar Friedhofsbesucher drehten den Kopf in seine Richtung, mehr Reaktionen gab es nicht.
Mit Gräbern kannte er sich nicht aus. Wie er aber einige schmiedeeisernen Grabmale sah, erinnerte er sich, dass bei einem der wenigen Familienfeste seine Mutter davon gesprochen hatte. Es gab hier am Ort einen Schmied, der inzwischen berühmt war, weil er Kunst und Schmiedehandwerk verbunden hatte. Leo kam am Grab eines Schriftstellers vorbei mit einer hüfthohen Stele aus Stahl, die aussah wie ein Füllfederhalter. Ein überdimensioniertes Buch und ein Notizbuch aus Eisen waren daran festgeschweißt. Das Buch hatte sogar bewegliche Seiten. Erst zögerte er, dann traute er sich doch, die Skulptur näher anzuschauen und in dem stählernen Notizbuch zu blättern. Er untersuchte die Schweißnähte und die Verarbeitung näher, schließlich hatte ihm sein Vater noch kurz vor seinem Tod das Schweißen beigebracht. Seine Mutter hatten sie damit fast zum Wahnsinn getrieben. Weder geduldiges Einreden noch Fernseh- oder Fahrradentzug konnten ihn dazu bringen, seine Schulhose auszuziehen, bevor er die Treppe runter in Vaters Werkstätte lief. Erst nachdem er alle Strafen bis hin zur Ohrfeige ertragen hatte und er immer noch nicht anders konnte, begriff seine Mutter. Sie kaufte ihm eine zweite Schulhose. Ein Luxus, den seine Geschwister nicht hatten. Die Entschuldigungen für die vorangegangenen Schläge und die dann ausbleibenden Standpauken verwirrten Leo damals völlig.
Im Gegensatz zu seinen Geschwistern war Leo oft auf der zerfurchten Holzwerkbank bei Vater im Keller gesessen, in dem er seine Schmiedewerkstatt eingerichtet hatte. Leo liebte diese Hölle, den Geruch nach Stahl und Öl, den trommelfellzerreißenden Lärm und den Funkenstrahl der Flex. Weder glühendes Eisen, entzündete Augen vom Schweißlicht noch die Gefahr, dass sich Stahlsplitter unter die Haut bohren konnten, hielten ihn davon ab. Schließlich ließ ihn sein Vater manchmal mitarbeiten und Stahlstäbe zu Treppengeländerverzierungen biegen.
Noch bevor er die Halle erreichte, hörte er den Pfarrer mit einer heuchelnden, unsympathischen Stimme reden, fast jammern. Er ignorierte den Eingang, ging um die Ecke und setzte sich neben einem offenen Fenster an der Längsseite des Gebäudes nieder. Er lehnte sich an die von der Sonne aufgewärmte Mauer, riss Gräser aus und kaute auf ihnen herum, während sich ein Sodbrennen vom Magen durch die Speiseröhre in seiner Brust ausbreitete. Wieder musste er aufstoßen und es wurde ihm fast schlecht – immer noch dieser Kaffeegeschmack, nur noch ätzender. Der Pfarrer stockte jedes Mal beim Namen seiner Mutter und setzte kurz mit der eingeübten Totenklage aus. Leo machte es zornig, dass dieser Vorbeter sich nicht ihren Namen merken konnte.
„Emma Baumann, Emma Baumann … merk dir das endlich, du scheinheiliger Pfaffe!"
Vor Jahren hatte Leo seine Mutter fast schon gezwungen, ihren Traum zu verwirklichen, nach Amerika zu reisen. Daran musste er denken und auch wie mühsam sie vorher versucht hatte, in der Volkshochschule ihr bruchstückhaftes Englisch aufzufrischen.
Als hätte sie Angst vor der Realität, war sie vorher nie in die USA geflogen, obwohl sie mit diesem Land Weite, Natur und vor allem Freiheit verband. Für sie waren Amerikaner Helden und sie liebte alles Amerikanische: von den Jeeps bis hin zu Nylonstrümpfen. Leo und seine Geschwister hatten sie zeitweise auf den Arm genommen und sich lustig gemacht über ihre Kennedy-Begeisterung. Jedes Jahr am 22.