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Moselland: Luxkrimi
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eBook474 Seiten6 Stunden

Moselland: Luxkrimi

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Über dieses E-Book

"Papa, was hast du im Krieg getan?"

Dieser Frage muss Marc sich nach dem Tod seines Vaters stellen. Diesem werden Taten vorgeworfen, die nie aufgeklärt wurden. Während der Testamentseröffnung tauchen Hinweise auf Marcs bis dato unbekannte Geschwister auf. Alle im Verlauf des Zweiten Weltkrieges geboren und auf mysteriöse Weise verschwunden. Er muss wissen was damals passiert ist.

Dann werden Morde verübt …
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum17. Apr. 2015
ISBN9783735714770
Moselland: Luxkrimi
Autor

Max Graf

Max Graf lebt, arbeitet und schreibt in Luxemburg. In seinen Romanen verarbeitet er Geschichten aus seinem Heimatland und aus fernen Ländern.

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    Buchvorschau

    Moselland - Max Graf

    www.luxkrimi.lu

    Krimis aus Luxemburg

    Die Kriminalromane des Autors:

    Der Dritte Bruder

    Charlie und die Hexe

    Moselland

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Buch

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Toskana

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Hamburg

    Luxemburg

    Zweites Buch

    Dienstagabend

    Mittwoch. 06:45

    Mittwoch. 10:30

    Mittwoch. 12:00

    Mittwoch. 15:00

    Mittwoch. 19:00

    Mittwoch. 22:00

    Donnerstag. 06:30

    Donnerstag. 12:00

    Donnerstag. 13:30

    Donnerstag. 16:00

    Donnerstag. 17:30

    Donnerstag. 18:30

    Donnerstag. 20:30

    Donnerstag. 22:30

    Donnerstag. 24:00

    Freitag. 00:30

    Nachtzug Hamburg-Trier

    Freitag. 01:30

    Nachtzug Hamburg-Trier

    Freitag. 02:00

    Nachtzug Hamburg-Trier

    Freitag. 02:30

    Nachtzug Hamburg-Trier

    Freitag. 05:30

    Luxemburg. Freitagmorgen

    Epilog

    Danksagung

    Erstes Buch

    Luxemburg

    Marc, der zuvor noch seine betagte Mutter abgeholt hatte, war bewusst etwas früher erschienen. Das hatte er schon immer, zu jeder nur erdenklichen Gelegenheit, so gehandhabt. Denn es war ihm stets ein Gräuel, als Letztgekommener die Runde der Gäste zu machen.

    Er lehnte sich entspannt, den Kragen hochgeschlagen, in die Sitzschale seines Autos zurück. Nachdenklich beobachtete er die leere Parkfläche, die vor ihm lag. Asphalt, grau in grau. Am Himmel waren zudem mächtige, dunkle Wolken aufgezogen. Ein düsterer Tag.

    Jedoch passend zum Anlass. Zur Einäscherung seines Vaters hatte sich Marc mit Familienangehörigen auf dem Platz vor dem Krematorium verabredet.

    Viele Gerüchte, Halbwahrheiten über seine Familie, über seinen Vater, waren im Laufe der Zeit an sein Ohr gelangt. Doch was war wahr, was gelogen? Trotz all dieser Fragen hatte er nie das Verlangen verspürt, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen. Geblieben war eine oberflächliche Verbindung zu seiner Verwandtschaft. Einige flüchtige, unausweichliche Begegnungen. Ein paar abgegriffene Worte.

    Familienangehörige und doch Fremde.

    Ein mit Rostbeulen übersäter Wagen französischen Fabrikats rollte sehr langsam auf den Parkplatz des Krematoriums. Er blieb in respektabler Distanz zu Marcs Fahrzeug, einem großen blauen Siebener BMW, stehen.

    Ohne jeden Zweifel einer jener Verwandten. Ein Blutsverwandter. Dafür würde Marc, passend zu dem unförmigen grauen Gebäude im Hintergrund, seine Hände ins Feuer legen.

    Der Fahrer stieg aus. Ein älterer Mann, dem der Wind einige graue Strähnen ins Gesicht und hinter die Brillengläser blies. Mit nervösem, unstetem Blick versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen. Obwohl es nichts zu überblicken gab. Der typische Gesichtsausdruck eines Wichtigtuers.

    Mein Blut, dachte Marc resigniert. Er musste an seinen Vater denken. An seinen verhassten Vater, der ihn dennoch zu dem geformt hatte, der er war.

    Der Neuankömmling tat nun so, als hätte er Marcs Auto eben erst entdeckt. Ungeachtet der Tatsache, dass weit und breit kein anderes stand. Mit theatralisch fuchtelnden Armen und ebenso gekünstelter Mimik bewegte sich der Mann auf ihn zu. Für einen Augenblick glaubte Marc seinen Vater zu erkennen. Jünger. Doch einen weiteren Augenschlag später sah er erneut diesen fremden Menschen vor sich. Obwohl dieser unverkennbar die typischen Familienzüge der Königs trug. Die hohe Stirn, die buschigen Augenbrauen, die listigen braunen Augen. Marc war dankbar, die feinen Linien seiner Mutter geerbt zu haben. Ihre schöne gerundete Stirn, ihre wundervollen Augen, ihre ganze Eleganz.

    Auf einen Knopfdruck hin senkte sich das Fenster. „Hallo." Distanziert lächelte Marc seinem Gegenüber zu.

    „Hallo, erwiderte der Fremde und doch so seltsam Vertraute zögerlich. „Schönes Auto.

    Nachdenklich sah Marc ihn an. Durch das geöffnete Fenster hielt er ihm die Hand hin. Irritiert und linkisch zugleich schüttelte der grauhaarige Mann sie. Dabei wurde sich Marc seines unhöflichen Benehmens bewusst. Beschämt stieg er aus und stellte sich vor.

    „Das ist übrigens meine Mutter", fügte er hinzu und begab sich auf die andere Seite seiner Luxuskarosse, um ihr die schwere Tür aufzuhalten.

    „Ich bin Hans", antwortete der Fremde. Er ignorierte die alte Frau. Marc wunderte sich nicht über den deutsch klingenden Namen. Er wusste, dass seine Familie schon immer eine Schwäche für alles Deutsche gehabt hatte. Auch damals, als ein gewisser Adolf Hitler die Macht in dem Nachbarland ergriffen hatte. Schnell, zu schnell hatten Marcs Vorfahren sich für die nationalsozialistische Sache begeistern lassen. Auch wenn das später, wie in so vielen luxemburgischen Familien, heruntergespielt worden war.

    Doch was war nun Wahrheit, was Lüge? Nach dem Ende des Krieges, nach dem Selbstmord des Herrn Hitler, wie er in Marcs Familie genannt wurde, kamen diese und andere Fragen auf. Aber niemand wusste das so genau. Niemand wollte sich erinnern. Und schon gar nicht darüber reden. Und so hatte auch Marc es stets dabei belassen. Er, der ohnehin erst ein Vierteljahrhundert nach Beendigung dieses desaströsen Krieges geboren worden war.

    Verdammt, was soll das? Er versuchte, sich von diesen Gedanken zu lösen. „Hans also. Schön, Sie kennenzulernen." Dabei war ihm dieser Hans egal. Es galt einzig und alleine, die Zeit zu überbrücken.

    Und so atmete Marc auf, als zwei weitere Autos auf den Parkplatz fuhren. Kleine Wagen älteren Baujahrs. Er nahm zufrieden zur Kenntnis, dass er der Platzhirsch war. Dass wahrscheinlich niemand es wagen würde, ihn allzu vertraulich anzureden.

    „Das ist deine Tante Félicie, flüsterte seine Mutter ihm mahnend zu. Wieso auch immer. Er kannte diese Frau nicht, war ihr noch nie begegnet. „Der andere ist der Bruder deines Vaters. Jean. Sie zupfte ihn am Ärmel.

    Sein Onkel. Eine gewisse Familienähnlichkeit war auch hier nicht zu verleugnen.

    Da nun alle Familienangehörige anwesend waren, Freunde hatte der Verstorbene nie gehabt, begaben sie sich gemeinsam zu dem Bau am Ende des Platzes. Beton, grau in grau. Nur ein paar blühende Sträucher hauchten diesem Ort des Todes etwas Leben ein.

    Kein Laut war auf diesen letzten Metern zu vernehmen. Alle waren ihren eigenen Gedanken verhaftet. Keiner sagte etwas. Aber dennoch war dies keine Trauergemeinschaft wie jede andere. Die Stille war nicht aus Schmerz, nicht aus dem Verlust eines Menschen entstanden. Denn niemand schien wirklich um den Verblichenen zu trauern. Nicht mal der Sohn. Das Schweigen war das Resultat einer undefinierbaren, kollektiven Familienscham. Niemand traute sich etwas zu sagen. Niemand wollte Einblick in sein Inneres gewähren.

    Ein befremdendes Benehmen, aber angemessen zum Geschehen. Zum letzten Weg seines Vaters. Und so beließ Marc es dabei.

    Später, als alle im Zeremoniensaal saßen und den Worten des Pfarrers lauschten oder so taten als ob, musste Marc immer wieder an die letzten Tage seines Vaters denken. Gegen seinen Willen stiegen Bilder, Gesprächsfetzen und andere Details in ihm hoch. Gedankenverloren starrte er auf den gefliesten Boden und erinnerte sich.

    „Marc, deine Mutter hat eben angerufen. Mit diesen Worten wird er beim Nachhause Kommen von Sophie, seiner Frau, empfangen. „Du sollst sie zurückrufen. Sofort.

    Marc setzt sich hin und ist erst mal mehr mit seiner modischen Frisur, die an dem heißen Tag arg gelitten hat, als mit dem Anruf seiner Mutter beschäftigt. Einer Frau, zu der er jeglichen Kontakt abgebrochen hat, denn sie passt nicht mehr in seine Welt. In seine schöne neue Welt. Sie, das Relikt einer Vergangenheit, die er hasst. Marc ist es dann mit der Zeit immer schwerer gefallen, sie zu besuchen. Aus Scham. Doch wovor? Vor seinem Spiegelbild?

    „Marc, sofort." Sophie lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass ihr Wunsch ein Befehl ist. Zehn gemeinsame Jahre lassen keinen Platz für Leerräume.

    „Ja, gut." Er fügt sich dem Diktat seiner Angetrauten. Er nimmt das Mobiltelefon, das seine Frau ihm schon vorsorglich hingelegt hat und tippt die Nummer seines Elternhauses ein. Jede Zahl ein Schritt zurück in seine Vergangenheit.

    Aufmerksam, aber auch ein bisschen vorwitzig, belauscht Sophie das Gespräch. Doch mehr als ein gelegentliches Räuspern gibt er nicht von sich. So dass ihre anfängliche Neugierde recht schnell in Ärger umschlägt. Dabei ist sie diese Art Konversation von ihm gewohnt. Doch die aufgewühlte Stimme seiner Mutter hat sie hellhörig werden lassen. Denn Gefühle zeigen ist dieser Frau stets fremd geblieben. Genauso wie ihrem Sohn. Also muss schon etwas Außergewöhnliches passiert sein. Doch weder Mutter noch Sohn scheinen in der Lage zu sein, ihr das mitzuteilen. Und dieses Ausgeschlossen Sein ärgert sie auch noch nach all den gemeinsamen Jahren.

    So muss sie sich gedulden, bis Marc das Telefon hinlegt und sich ihr mit teilnahmslosem Gesicht zuwendet. „Papa ist tot. Die Krankenschwester hat ihn eben leblos in seinem Zimmer aufgefunden."

    „ ... gefehlt hat, so ist er doch auch unser Vater, Ehemann, Bruder und Schwager. Er war Zimmermann, so wie Josef von Nazareth, Jesus’ Vater. Und zu Jesus ist er nun gegangen. Amen"

    Die letzten Worte des Pfarrers hatten Marc aus seinen Gedanken gerissen.

    Gefehlt? Wo hatte Vater gefehlt, fragte sich Marc und bedauerte schon, der Predigt des Pfarrers nicht zugehört zu haben. Allerdings wäre es das erste Mal, dass ihn etwas, seinen Vater betreffend, interessiert hätte. Und so machte er sich auch keine weiteren Gedanken dazu.

    Nach der Zeremonie flüchteten die einzelnen Familienmitglieder zu ihren Autos. In Marcs Augen ein weiteres Indiz, dass etwas mit dieser Familie nicht stimmte. Dabei machte aber auch er keine Ausnahme.

    Zusammen mit seiner Mutter fuhr er nach Hause, wo Sophie beide bereits erwartete. Sie selbst hatte nicht mitkommen können, da ihr siebenjähriger Sohn Luca an einer Bronchitis erkrankt war und sie kurzfristig keinen Babysitter auftreiben konnte. Allerdings hatte dies Sophie recht wenig zu schaffen gemacht. Sie hatte sich in Beisein von Marcs Eltern, wie bei den seltenen Zusammenkünften zu Weihnachten und anderen unerlässlichen Gelegenheiten, noch nie wohl gefühlt. Es war, als hätte sie sich diese Last Minute Bronchitis herbeigewünscht.

    Die Kaffeemaschine gab die letzten Spuckgeräusche von sich, als Marc mitsamt der Frau, die er seine Mutter nannte, eintrat.

    Beginn des Rituals zweiter Teil. Zusammensein bei Kaffee und Kuchen. All das, das Marc so verpönt war. Diese kleinbürgerliche Welt, der er sich entflohen glaubte und die ihn doch immer wieder einholte.

    Viel wurde nicht geredet. Obwohl Sophie sich redlich bemühte, eine Konversation, wenn auch auf Sparflamme, aufrecht zu erhalten, so blieben ihre Anstrengungen doch fruchtlos. Denn ihre Schwiegermutter war, nachdem sie ein Stück Kuchen gegessen hatte, in ihre eigene Welt abgetaucht. Zugang verboten. Ein weiterer dieser verdammten familiären Charakterzüge, die Sophie so hasste. Denn auch ihr Mann hatte sich geistig verabschiedet. Nur manchmal ließ er ein undefinierbares Brummen verlauten. Als Zustimmung zu Sophies Äußerungen. Auch wenn diese es ganz anders deutete.

    Zwei Monate waren vergangen, seitdem Marcs Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Zwei Monate, während denen er nur noch wirres Zeug geredet hatte, nachdem er zu Hause in der Treppe gestolpert und mit dem Kopf aufgeschlagen war. Dieser Zwischenfall hatte seine ohnehin vorhandene Demenz beschleunigt. Zwei Monate, während denen er immer wieder das Bewusstsein verloren, es aber auch immer wieder für kurze Zeit zurückerlangt hatte. Bis vor ein paar Tagen. Da hatte Gott oder die Natur endlich ein Erbarmen gekannt und ihn von seinem menschenunwürdigen Siechtum erlöst.

    Bilder einer verkorksten Kindheit kamen Marc in den Sinn, als er plötzlich seinen Namen vernahm. Ein gedämpfter Ruf von jenseits dieser schützenden Nebelwand, die er nur mit Widerwillen zu durchdringen vermochte.

    „Marc, hörst du mir überhaupt zu?" Er hörte die Stimme seiner Frau nun ganz deutlich.

    „Äh ja, Liebling, was sagtest du?"

    „Ob du noch etwas Kaffee möchtest? Und du könntest deiner Mutter auch noch welchen anbieten." Sie deutete mit einer unauffälligen Kopfbewegung in Richtung ihrer Schwiegermutter. Eine diskrete Geste, die aber auch besagte, dass sie diesem ungemütlichen Beisammensein so langsam ein Ende bereiten wollte.

    Doch Marc ging nicht auf diesen Wink ein. Er hatte sich schon immer schwer mit solchen Subtilitäten getan. Und so zog sich der Nachmittag endlos lange hin, bis seine Mutter von sich aus den Wunsch äußerte, nach Hause gefahren zu werden. Müde sei sie, erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage.

    „Okay, Schatz, bis später, ich gehe nachher noch ein wenig spazieren. Ich muss mir noch etwas Luft verschaffen, da oben." Lächelnd tippte er an seine Schläfe.

    Was Sophie nicht ungelegen kam, da sie sich nichts sehnlicher als eine Stunde Ruhe wünschte. Die Beine hochlegen, ein wenig fernsehen. Und sich um Luca kümmern.

    Nachdem Marc seine Mutter abgesetzt hatte, fuhr er zu einem nahe gelegenen Waldstück. Trotz eines drohenden Sommergewitters begab er sich auf einen Spaziergang. Er musste seine Ideen ordnen. Zu viel hatte sich seit dem Anruf der Krankenschwester angestaut.

    Doch seine Gedanken sprangen hin und her, standen sich gelegentlich selbst im Wege. Denn eigentlich verspürte er keine große Lust auf diese Aufarbeitung. Er hatte seinen Vater bisher nicht gebraucht, wieso also nun, wo dieser nicht mehr war. Sollte er doch in Frieden ruhen. Und ihm, seinem Sohn, denselben inneren Frieden zugestehen. Doch er wusste, dass dem nicht so sein konnte. Nicht solange er seine leibliche Familie, diesen Klotz an seinem Bein, mit sich herumschleppte. Vor allem seine Mutter.

    Wütend kickte er einen Tannenzapfen weg. Und zerkratzte sich dabei einen seiner schicken schwarzen Lederschuhe, die er nach der Einäscherung auszuziehen vergessen hatte.

    Verdammt.

    Er ging jetzt schneller. Davonlaufen, einfach nur davonlaufen. Er war noch mehr Sohn seines Vaters, als er es in seinen schlimmsten Albträumen für möglich gehalten hätte.

    Hamburg

    „Woran denkst du?", fragte Pit.

    „An Apfelbäume. Jack blickte apathisch nach unten. „An große kahle Apfelbäume. Vom Wind gebeugte Stämme. Verkrüppelte Äste. Ein paar mickrige Früchte. Und von denen eine nach der anderen zu Boden fällt und dort zu Matsch zertreten wird.

    „Aha." Seit gemeinsamen Kindergartenzeiten schon war Pit an die geistigen Eskapaden seines Kumpels gewöhnt. Als einer der wenigen, die ihn verstanden.

    „Und an eine Herde Esel", fügte Jack hinzu.

    „Was?"

    „Esel. Die auf der Wiese herumlaufen. Auf der Wiese mit den Apfelbäumen. Und die die heruntergefallenen Äpfel zu Matsch zertrampeln. Und überall Maden."

    „Verstehe." Doch weder Eselherden noch Obstwiesen hatten mit dem zu tun, was vor ihnen im Straßengraben lag. Die Leiche eines toten Jungen. Daneben hockten die Männer der Spurensicherung. Auf den ersten Blick keine Spur von Gewaltanwendung. Auch war die Leiche vollständig bekleidet.

    „Wenigstens haben wir es nicht mit einem dieser Scheiß Kinderficker zu tun." Fluchend kehrte Pit in die brutale Realität zurück.

    Er war Kommissar bei der Hamburger Kripo. Spezialgebiet: Verbrechen an Kindern. Obwohl nichts ihn dafür qualifizierte oder prädestinierte. Mit der Ausnahme, dass er selbst zweifacher Vater war und kein anderer daran interessiert war. So war er langsam, aber immer tiefer in diese Rolle hineingerutscht. Er hatte Unmengen von Seminaren zu dem Thema besucht und mit unzähligen Psychologen unendliche Gespräche geführt. Über das Verhalten traumatisierten Kindern gegenüber. Über die Psyche von Kindesentführern und Vergewaltigern. Und darüber, wie mit den betroffenen Eltern zu reden wäre. Ihnen schonend beizubringen, dass ihr Kind Opfer eines Verbrechens geworden war. Meistens jedoch blieb es bei der einstudierten Absicht.

    Schweigend schaute Pit auf die Leiche hinunter. Wie alt mochte der Junge sein? Zehn, zwölf Jahre. Er erinnerte ihn an seinen eigenen Sohn. Was dieser wohl gerade tat? Zwei Monate waren vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ihn und seine kleine Schwester. Seit der Scheidung vor zwei Jahren, wohnten sie bei ihrer Mutter in Berlin.

    Er versuchte diese Gedanken auszublenden und suchte die nähere Umgebung gewissenhaft nach Hinweisen ab. Er achtete auf kleine, auf den ersten Blick vielleicht wenig bedeutsame Indizien.

    „Scheiße." Er fluchte leise vor sich hin. Doch laut genug, dass sein Kumpel es vernehmen konnte.

    „Hey, lass uns gehen, das hier wird noch etwas dauern, sagte Jack und blickte in Richtung des toten Jungen, dem eben die zusammengeballte Faust vorsichtig geöffnet wurde. „Ein letzter Gedanke, nun befreit. Er konnte sich der absurden Faszination des Gebotenen nicht entziehen. „Fliegt wie ein Vogel davon. Zu dem riesigen Haufen von letzten Überlegungen, von Fragen ... Komm, lass uns abhauen."

    Leichter Nieselregen setzte ein und begleitete die hektischen, aber zielgerichteten Handgriffe der Männer der Spurensicherung, die trotz der Windstöße in kürzester Zeit eine Zeltplane über den Fundort der Leiche ausgebreitet hatten. So dass keine noch so geringfügige Spur vom Regen verwischt werden konnte.

    Pit setzte sich hinter das Steuer des zivilen Polizeiautos und starrte gedankenverloren auf die Windschutzscheibe. Dicke Regentropfen trommelten nun auf sie ein.

    Ein kurzer Blick auf seinen Kumpel reichte Jack, um dessen Gemütszustand zu erfassen.

    Jack war Journalist bei der Hamburger Post. Sein erster und bisher einziger Job, seit er seine Philosophiestudien an der Universität an den Nagel gehängt hatte. Nicht wegen schlechter Noten oder dass er nicht mitgehalten hätte. Nur deswegen, weil ihn diese vorgekauten Gedanken schlicht und einfach gelangweilt hatten. Er wollte sein eigenes Ding machen, seine eigenen Ideen zu Papier bringen. Und so hatte er eines guten Morgens bei diesem verhältnismäßig kleinen Blatt angeheuert. Und ist ihm, trotz mehrerer Abwerbungsversuche größerer Zeitungsverlage, immer treu geblieben. Denn hier war er der Star und konnte nach Belieben schalten und walten.

    „Was soll das alles? Jack redete auf das Autofenster ein. „Gestern im Supermarkt. An der Kasse eine Frau. Griesgrämiges, angespanntes Gesicht. Verkrampfte Körperhaltung. Ich versuche mir vorzustellen, was die wohl gerade denkt. Wer sie ist. Wieso sie so ist. Er schaute zu Pit hinüber. „Ein erzwungenes Lächeln, als die Kassiererin sie etwas fragt. Dazu ihr leerer Blick, tote Augen. Tote Seele ... Was muss man erlebt haben, um so zu werden?"

    „Willst du das wirklich wissen? Pit rieb sein Kinn, seine spärlichen Bartstoppeln, die nach einigen Tagen des Nichtrasierens deutlich gesprossen waren. „Du hast recht, lass uns fahren, hier können wir ohnehin nichts tun ... Ein Drink?

    Grinsend gab Jack seine Zustimmung zu verstehen. „Aber lass es nicht zu spät werden. Ich habe morgen einen Haufen Arbeit."

    Ein stets unnützer Einwand. So auch in dieser Nacht, als der kleine Zeiger der Uhr, die in ihrem Stammlokal über der alten Jukebox hing, bereits auf der Zwei stand.

    … fat bottomed girls you make the rockin‘ world go round ...

    „Weißt du, lallte Jack. „Weißt du was ...

    Mit glasigen Augen blickte Pit ihn an. „Was?"

    „Na, das Leben, Scheißleben ...oder ... so."

    „Genau." Pit erhob die Stimme und sein Glas und goss sich das Bier über sein Hemd. Gelassen zapfte der Wirt ein Neues und stellte es vor ihn hin.

    „Nein, nein. Jack suchte indessen verzweifelt nach dem schon längst verloren gegangenen Faden. „Ich meine, na ja, weiß nicht.

    „Genau", schnaubte Pit, stumpfsinnig vor sich hinstarrend.

    „Nein, du verstehst mich nicht. Jack packte seinen Kumpel an der Schulter. „Ich weiß es jetzt wieder. Eine Änderung ... genau, etwas ändern. Im Leben. Jetzt ist noch Zeit … Sind noch nicht zu alt. Verstehst du?

    „Ja, ja." Ein dämliches Grinsen bemächtigte sich Pits Gesicht bevor er hart mit dem Kopf auf der Theke aufschlug. So fest, dass es um ihn herum dunkel wurde. Rabenschwarze Nacht.

    … fat bottomed girls you make the rockin‘ world go round ...

    „Hallo. Eine raue Stimme drang nur mühsam zu Pit durch. „Hallo, ist schon nach neun. Es war die des Wirtes.

    Mit hämmernden Kopfschmerzen sah Pit sich um und erkannte das Hinterzimmer seiner Stammkneipe.

    Er nahm es mit Humor, denn so konnte er praktischerweise gleich frühstücken. Wobei sich sein Frühstück an diesem Tag auf eine Tasse Kaffee beschränkte. Etwas Festes hätte sein Magen nicht vertragen. Vorher hatte er etwas bedröppelt nach einem Lappen verlangt, denn auf dem Boden hatte er eine übelriechende Pfütze bemerkt. Sein eigenes Erbrochenes.

    Kurze Zeit später verließ er das Bistrot und begab sich nach Hause. Zu Fuß, denn in die U-Bahn traute er sich ob des Geruches, der ihm anhaftete, dann doch nicht.

    In seinem Zwei Zimmer Appartement angelangt, entledigte er sich sogleich seiner stinkenden Kleider. Er warf diese auf den bereits beachtlichen Haufen Wäsche, der sich auf dem Flur vor dem Badezimmer angesammelt hatte und verschwand unter der Dusche.

    Danach schluckte er noch zwei Aspirin und war dann bereit, den Tag in Angriff zu nehmen. Bevor er sich zu seinem Kommissariat nach St. Georg begab, gönnte er sich noch schnell einen Kaffee.

    Auf seiner Arbeitsstelle wurde er schon erwartet, wenn auch nicht mit offenen Armen. Er sollte sich in der Pathologie melden. Die hätten schon zweimal nach ihm gefragt und anderes zu tun als den ganzen Tag auf ihn zu warten.

    Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, ob seiner Alkoholeskapade, aber vor allem ob des Besuchs, der vor ihm lag, begab er sich einige Straßen weiter nach Eppendorf. Hinunter in das Labyrinth des Todes, wie er es nannte. Das Reich der Gerichtsmediziner. Schon der Geruch, eine Mischung aus Formol und anderen Desinfektionsmitteln widerte ihn regelmäßig an. Wie konnte jemand freiwillig diesen Beruf ausüben? So fiel ihm jedes Mal ein Stein vom Herzen, wenn er wieder nach oben zu den Lebenden durfte. Doch noch war es nicht so weit.

    „Hallo, Pit, ich habe dich schon erwartet." Übertrieben freundlich, stets ein schlechtes Omen, wurde er vom Chefpathologen begrüßt. Einem Endfünfziger mit grauem Haupthaar, aber schwarz kolorierten Augenbrauen, was ihm ein diabolisches Aussehen verlieh. Ohne Umschweife geleitete er Pit in den großen Sezierraum. Weißer Klinker und chromierte Schränke vermittelten dem Saal etwas Übernatürliches.

    Pit bemerkte, dass sein Mageninhalt zu rebellieren begann, doch noch hatte er ihn unter Kontrolle. Zuviel Koffein.

    „Also, begann Mephisto, einige Kollegen hatten ihn so getauft. „Viel haben wir nicht. Die Details wirst du im Obduktionsbericht, den ich dir nachreichen werde, nachlesen können. Ist was? Du siehst so, so niedergeschlagen aus. Wegen deinen Kindern?

    „Nein, nein, antwortete Pit und schüttelte den Kopf. „Ist schon okay. Gestern Abend … spät geworden. Ein schwaches Grinsen sagte mehr aus als hundert Worte.

    „Ah, verstehe. Nun, zurück zu unserem Fall. Möchtest du den Körper des toten Jungen sehen?"

    „Nein ... Schon identifiziert?"

    „Ja, aber dazu später mehr. Erst wollen wir uns mit der Obduktion beschäftigen. Also, viel ist da, wie gesagt, nicht. Männlich, elf Jahre alt. Das Erste dann, was mir aufgefallen ist, ist eine Einstichstelle in der linken Armbeuge."

    „Eine Injektion? Gift oder so?"

    „Das weiß ich nicht, aber die Todesursache ist eindeutig Ersticken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Ich habe einige Textilspuren gefunden, die in diese Richtung weisen. Interessant ist aber, dass keinerlei äußerliche Läsionen festzustellen sind. Der Junge hat sich nicht gewehrt."

    „Oder er ist freiwillig mitgegangen. Pit dachte laut nach. „Er hat den oder die Entführer gekannt und später wurde ihm ein Narkotikum gespritzt, um ihn schonend zu töten. Daher auch die Einstichstelle.

    „Hey, bin ich der Fachmann oder du?, fragte der Arzt und schaute von seinem Notizblock auf. „Erstens wissen wir nichts von einer Entführung. Und zweitens nichts von einem Narkosemittel. Warte die toxikologischen Analysen ab. Okay? Gedulde dich bis dahin.

    Pit hielt die Hand vor den Mund. Der Mageninhalt drängte nach oben. Er schluckte mehrmals lautstark.

    Der Pathologe ignorierte Pits Getue und fuhr fort. „Wieso? Wieso wurde er getötet? Das ist doch jedes Mal die Frage. Ich kann dir aber keine Antworten liefern. Noch nicht mal Vermutungen."

    „Hm, klar. Sieht aber nicht nach der Tat eines Psychopathen aus. Oder? Und ein Triebverbrechen können wir auf den ersten Blick auch ausschließen. Was dann? Eine misslungene Entführung, unerfüllte Lösegeldforderungen? Unerwünschter Zeuge?"

    „Das ist dein Job. Der Mediziner unterbrach Pits Ausführungen. „Fang doch bei den Eltern an. Ach so, warte, hier noch Name und Wohnort. Du warst gestern Abend nicht erreichbar. Zwei Kollegen sind hingegangen. Er überreichte Pit einen Zettel. „Er wurde am Tag zuvor vom Vater als vermisst gemeldet. Der Kleine war abends noch mit dem Fahrrad unterwegs. Die Straße auf und ab. Und dann nicht mehr nach Hause gekommen. Sprich du mit ihnen. Auch dein Job."

    „Na klar. Er schaute auf den Zettel, den der Arzt ihm gegeben hatte. „Ist nicht weit weg von hier. Werde zu Fuß hingehen. Wir sehen uns.

    Pit ließ den Mann stehen und begab sich zum Ausgang. Begleitet von den nachdenklichen Blicken des Doktors.

    Draußen angekommen, lehnte Pit sich an eine Mauer und sog frische Luft in seine Lungen. Er musste sich der penetranten Pathologieatmosphäre entledigen. Dann warf er einen erneuten Blick auf das Stück Papier. „Mischa, murmelte er. „Mischa, elf Jahre alt. Und schon ist dein Leben vorbei ... Scheiße. Verdammte.

    Ob er wohl Geschwister hatte, überlegte Pit unterwegs. Um sich von der Kernfrage, wie er den Eltern gegenübertreten sollte, abzulenken.

    Doch je näher er dem Haus kam, umso weniger konnte er sich dieser einen Frage entziehen. Hundert Mal mit Spezialisten erörtert und doch war er nun auf sich alleine gestellt. Verloren im Sumpf seiner Gefühle.

    Zwei Stunden später saß er in einem Gasthaus. Er brauchte einen Schnaps. Er hätte nun, da er seine Last losgeworden war, erleichtert sein müssen. Doch das Gegenteil war der Fall. Er musste an die Eltern denken, die er mit ihren Gedanken und ihren Gefühlen zurückgelassen hatte. Ihre maskenhaften Gesichter verfolgten ihn. Man hatte ihm gesagt, dass es mit jedem Male besser zu verkraften wäre. Doch im Gegenteil, es wurde mit jedem Male schlimmer. Dann raffte er sich zusammen und begab sich in sein Büro. Dort ließ er sich kraftlos in seinen Sessel plumpsen und schloss die Augen.

    Zwei Stunden später wurde er unsanft von einem Mitarbeiter geweckt. „Der Obduktionsbericht, den du angefordert hast." Respektlos schmiss der Polizist einen Hefter auf Pits Arbeitsplatte.

    Der versuchte sich aufzurappeln, doch fehlte ihm die letzte Entschlossenheit. Erst der Gedanke an Mischa ließ ihn zur Besinnung kommen. Er besorgte sich einen Kaffee. Sein Magen war nun das geringste Problem.

    Zurück an seinem Schreibtisch, schnappte er sich die Akte aus der Gerichtsmedizin und las sie mehr oder weniger ausführlich durch. Denn trotz all seiner Schludrigkeit war ihm beruflich bis dato nicht viel vorzuwerfen. Zum Leidwesen seiner sogenannten Kollegen, die ihn nur allzu gerne abgeschossen hätten. Einziger schwarzer Flecken auf seiner Weste war die freiwillige Versetzung seines einstigen Partners, der es nicht mehr mit ihm ausgehalten hatte. Auch hatte sich seitdem, seit fast zwei Monaten, kein Freiwilliger für diese Rolle auftreiben lassen.

    Der Bericht bestätigte anfangs nur das, was ohnehin bekannt war. So waren die Faserspuren, die im Bereich des Mundes gefunden worden waren, eindeutig einer bestimmten Marke von billigen und viel verkauften Kissen zuzuordnen. Doch erst beim Kapitel Toxikologie wurde er hellhörig. Der getötete Junge wies eine hohe Konzentration an Chloroform auf. Vor allem im Bereich der Nasen- und Mundschleimhäute.

    Klassische Methode. Oder, überlegte Pit. Oder doch schon etwas veraltet?

    Er griff nach dem Telefon und rief den Pathologen an. Um zu erfahren, dass im Bereich der Einstichstelle keine Fremdsubstanzen entdeckt worden waren. Und um sich bestätigen zu lassen, dass Chloroformieren nun wirklich nicht mehr Up to Date war.

    Grübelnd lehnte Pit sich in seinen Sessel zurück und dachte über diese Fakten nach. Und über den Tod des Jungen. Und über das Leben im Allgemeinen.

    Luxemburg

    Auf der Heimfahrt hatte Marc ständig das Bild von der Streuung der Aschen vor Augen. Es erinnerte ihn daran, wie viel oder wie wenig von einem Menschen an dessen Ende übrig blieb. Ein bisschen Staub, ein paar nichtssagende Worte. Aber jede Menge Fragen.

    Dabei kamen ihm zum wiederholten Male die letzten Sätze seines Vaters in den Sinn. Von Kirschenklauen in Nachbars Garten war die Rede. Und dass die Polizei ihn daraufhin abgeführt, eingesperrt und verhört hatte. Ziemlich konfuses Zeug. Und dazwischen hatte er immer wieder die Namen von einigen deutschen Städten erwähnt: Wiesbaden, Bremen, München und einige andere.

    Marc hätte diese Wörter leichtfertig als letzte Rückblicke eines Sterbenden abgetan, wenn nicht ein einzelner Satz ihn hätte aufhorchen lassen: Sie haben sie weggenommen.

    Immer wieder hatte sein Vater diese Worte wiederholt. Und die emotionale Art, wütend und traurig zugleich, mit der sein Vater diese betont hatte, bekräftigte Marcs Bedenken, dass dies nichts mit den Kirschen zu tun hatte.

    Was haben sie dir weggenommen?

    Das Öffnen der Haustür erlöste ihn von seiner Zwiesprache. Es war sein siebenjähriger Sohn Luca, der ihn mit großen Augen anstarrte. Offenbar hatte seine Mutter dem Jungen aufgetragen, nach Papa zu schauen.

    Kurze Zeit später saßen alle drei im Wohnzimmer beisammen. Sophie fragte sich nicht zum ersten Male, wie sehr sie ihren Mann überhaupt kannte, dass sie ihn nicht offen auf seine Gefühle anzusprechen wagte. Vielleicht war er ihr in der Vergangenheit aber einfach nur zu oft auf solche Fragen ausgewichen.

    Sophie, dieses zierliche Wesen. Mit ihrem blonden Pony und ihren zarten Gesichtszügen ähnelte sie eher einer Studentin als einer gestandenen Frau und Mutter. Studierter Ökonomist und leitende Büroangestellte bei derselben Bank wie ihr Mann, war sie im Begriff, ihn auf der Karriereleiter zu überholen, als sie schwanger wurde. Daraufhin wollte sie sechs Monate lang allen unnötigen Stress, von dem es eine Menge auf ihrem Arbeitsplatz gab, von sich fernhalten. Doch inzwischen waren sieben Jahre seit jener Entscheidung vergangen. Und sie hatte sich noch immer nicht dazu durchringen können, in die Berufswelt, die ihr schon lange nichts mehr bedeutete, zurückzukehren. Zu sehr hatte sie Gefallen an ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau gefunden. Zudem eine Haushaltshilfe ihr diese Aufgabe ungemein erleichterte. Hatten sie sich anfangs finanziell nach der Decke strecken müssen, so war dies aber mittlerweile, seit Marcs Aufstieg zum stellvertretenden Bankdirektor, kein Thema mehr. Doch ihre berufliche Spaltung hatte auch eine private, wenn auch in geringerem Umfang, mit sich geführt. Dennoch in einem Maße, dass sie anfingen, sich zu entfremden. Zumindest Sophie empfand dies so. Marc hatte sich nie dazu äußern wollen. Oder können.

    Umso erstaunter war sie, als er plötzlich von seinem Vater sprach. Er dessen letzte Worte erwähnte.

    „Wir haben doch alle schon mal Obst geklaut. Sophie lächelte ihm zu. „Na ja, deswegen hat aber noch niemand die Polizei gerufen. Aber vielleicht hat er nur ein paar Sachen durcheinander gebracht. Er war doch zum Schluss auch ein bisschen verwirrt.

    „Klar. Marc nippte nachdenklich an einem Cognac, den er sich eingeschenkt hatte. „Habe ich mir auch schon gedacht. Belassen wir es dabei. Habt ihr eigentlich noch Hunger? Ich glaube, ich werde aufs Abendessen verzichten. Nach all dem Kuchen heute Nachmittag.

    Doch Sophie wollte, da er für einmal über intime Dinge zu reden gewillt war, nicht so schnell lockerlassen. „Was weißt du überhaupt von deinem Vater? Was war vor deiner Zeit? Er hatte doch sicher ein Vorleben."

    Erstaunt sah Marc seine Frau an. Dann musterte er seinen Cognacschwenker, von dem er mehrere von seiner Bank zu irgendeinem Weihnachtsfest geschenkt bekommen hatte. „Nun ... eigentlich nicht so viel ... eigentlich nichts, meinte er kleinlaut. „Hat mich auch nie interessiert. Ist nie darüber geredet worden. Dann nahm er einen ordentlichen Schluck. „Ist mir auch egal." Das Thema war endgültig beendet.

    Marc saß im Wohnzimmer. Er starrte ausdruckslos vor sich hin, als er plötzlich die Stimme seiner Frau vernahm. „Hey, noch nicht müde? Mit besorgter Miene stand sie in der Tür und hatte sich das Schauspiel unbemerkt schon eine Weile lang angeschaut. „Komm ins Bett.

    Doch er schüttelte den Kopf und bat stattdessen sie, sich zu ihm zu setzen. Sophie sagte zu. Sie spürte instinktiv, dass ihr Mann Hilfe brauchte. Der sonst so coole, abgezockte Banker. Doch dass das nur Fassade war, wusste sie schon längst. Nur was sich dahinter verbarg, hatte sie, auch nach all den gemeinsamen Jahren, noch nie zu Gesicht bekommen.

    „Du, begann er mit leiser Stimme. „Ich habe nochmals nachgedacht. Über ihn. Da ist noch etwas, das du nicht wissen kannst. Beim Begräbnis hat der Pfarrer mehrmals von Verfehlung gesprochen. Und von Vergebung. Wieso? Er sah seine Frau kurz an. „Das war schon auffällig. Der Pfarrer hat dies kaum aus eigenem Antrieb heraus getan. Und ich weiß, dass er am Tag vor dem Begräbnis bei meiner Mutter war. Sie hat es mir erzählt, und dass sie über meinen Vater geredet haben. Ich bin überzeugt, dass Mutter etwas weiß,

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