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Linstows Geheimnis: Rügen-Krimi
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Linstows Geheimnis: Rügen-Krimi
eBook228 Seiten3 Stunden

Linstows Geheimnis: Rügen-Krimi

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Über dieses E-Book

Anna Schwanitz trennt nur noch ein Wimpernschlag von der Erfüllung ihrer Träume: Auf Rügen warten die große Liebe, beruflicher Erfolg und eine Heimat. Doch nach dem Mord an einer jungen Frau wird sie immer mehr zur Detektivin wider Willen. Der erste Fall von Anna Schwanitz handelt von Lebensträumen, die unter Lügen und Geheimnissen begraben werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Apr. 2019
ISBN9783749440030
Linstows Geheimnis: Rügen-Krimi
Autor

Isa Schikorsky

Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Isa Schikorsky war von 1995 bis 2020 als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben in der Erwachsenenbildung tätig. Außerdem veranstaltete sie Schreibreisen und arbeitete als Lektorin sowie Textberaterin. Sie lebt als freie Autorin in Köln.

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    Buchvorschau

    Linstows Geheimnis - Isa Schikorsky

    Die Autorin

    Isa Schikorsky wuchs an der innerdeutschen Grenze mit Fernsehkrimis aus Ost und West auf. Seit 1989 lebt sie in Köln und reist mindestens einmal im Jahr auf ihre Lieblingsinsel Rügen. Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin publiziert seit 2009 Kriminalromane. Über Rügen und ihre Rügen-Krimis bloggt sie unter

    https://schikorsky.wordpress.com

    Website: http://www.Schikorsky.de

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel Eins

    Kapitel Zwei

    Kapitel Drei

    Kapitel Vier

    Kapitel Fünf

    Kapitel Sechs

    Kapitel Sieben

    Kapitel Acht

    Kapitel Neun

    Kapitel Zehn

    Kapitel Elf

    Kapitel Zwölf

    Kapitel Dreizehn

    Kapitel Vierzehn

    Kapitel Fünfzehn

    Eins

    Will dieser Winter denn überhaupt nicht enden?, dachte Anna kurz hinter Gustow. Schon Mitte März, und die Insel ist noch immer weiß. Zwischen den Bäumen der Allee glitzerte verharschter Schnee in der Mittagssonne. Die Dörfer schliefen. Auch in Poseritz war niemand auf der Straße. Keine vier Autos waren ihr bisher begegnet. Anna summte die Schlager von Radio Rügen mit und trommelte den Rhythmus sacht gegen das Lenkrad. Beschwingt und ein klein wenig nervös fühlte sie sich. Ganz anders als vor drei Jahren. Aufgeregt und angespannt war sie gewesen, als sie zum ersten Mal hier entlang gefahren war. Und voller Angst. Angst, sich wieder falsch entschieden zu haben. Wie schon so oft zuvor.

    Das Weiß der Wiesen hob sich scharf vom Blau des Himmels ab. Am Waldrand ästen Rehe, Möwen glitten durch die Luft und stritten mit den Krähen.

    Garz döste im Sonnenschein. Bürgerhäuschen, deren Dächer beinahe die Erde berührten, säumten die Straße zu beiden Seiten. Auf einer kleinen Anhöhe thronte der Backsteinbau von Sankt Petri. In den Jahren zuvor hatten am Friedhof immer schon die Schneeglöckchen geblüht. Anna lächelte. Inzwischen wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen.

    »... besteht die Gefahr weiterer Erdabbrüche an den Steilküsten«, sagte die Nachrichtensprecherin gerade. Anna erinnerte sich, vor ein paar Tagen in der Berliner Zeitung über den Absturz der Wissower Klinken gelesen zu haben. Die Natur hatte ein Stück Natur zerstört. Der Wetterbericht klang wenig verlockend: Schnee und Frost, bis zehn Grad minus.

    Anna fuhr den Polo an den Straßenrand und hielt an. Sie kramte das Handy aus ihrer Umhängetasche, die auf dem Beifahrersitz lag, tippte auf Wahlwiederholung und lauschte eine Weile dem Freizeichen. Dann sprang die Mailbox an. Merkwürdig, warum meldete sich Frank nicht? Schon die ganze Woche war er kaum zu erreichen gewesen. Sollte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, damit er wusste, wann sie kam? Nein, das lohnte sich nicht. In höchstens einer halben Stunde wäre sie sowieso da. Sie stopfte das Handy wieder in die Tasche und lenkte den Wagen zurück auf die Straße.

    Putbus wirkte wie eine Residenz im Puppenstubenformat. Die klassizistischen Häuser rund um den Obelisken am Circus strahlten mit dem Schnee um die Wette. Sie und Rügen – das war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick gewesen. Immer wieder fragte Anna sich, woran es lag. Waren es die klaren Farben der Landschaft, die Melodie des Meeres, der Salzgeruch des Windes? Oder alles zusammen? Jedenfalls war sie zum ersten Mal in ihrem Leben sicher gewesen, den Ort gefunden zu haben, an den sie gehörte. Von Jahr zu Jahr war das Gefühl stärker geworden. Nach jeder Saison war es ihr schwerer gefallen, wieder nach Berlin zurückzukehren.

    Der Polo holperte noch ein Stück über Kopfsteinpflaster und erreichte dann die Bundesstraße. Der Verkehr nahm zu. In Baabe war die Bahnschranke geschlossen. Natürlich. Jedes Mal musste sie hier warten. Na ja, beinahe jedes Mal. Der ›Rasende Roland‹ pfiff und fauchte vorbei. Die Schranke öffnete sich. Nur noch ein paar Minuten zu fahren. Auf der Baaber Heide hatte der Wind den Schnee aus den Kiefern geschüttelt. Gelb leuchtete das Ortsschild von Göhren ihr entgegen. Sie war angekommen. Zum vierten Mal. Aber diesmal nicht für einen Sommer, sondern für ein ganzes weiteres Leben.

    Anna passierte ›Janny’s Eissalon‹, das ›Wollstübchen‹, den ›Edeka‹, den ›Orientgrill‹, Pizzerien, Fischrestaurants und Schnickschnackläden. Erst der Mönchguter Museumshof ließ etwas vom pittoresken Fischer- und Bauerndorf erahnen, das die Hochglanzprospekte der Kurverwaltung rühmten. Der Polo bog in die Nordperdstraße ein, ruckelte über Katzenkopfsteine den notdürftig vom Schnee geräumten Weg bergauf, bis kurz vor dem Sturmsignal die Reifen über den Schotter des Hotelparkplatzes knirschten und dann zum Stillstand kamen.

    Anna reckte den Kopf zum Rückspiegel. Sie strich sich die Locken hinter die Ohren – Drahthaare, hatte Tante Renate immer geschimpft, wenn sie sich mühte, die störrische Pracht zu bändigen. Jetzt zupfte Anna ein paar Ponyfransen in die hohe Stirn, probte ein Lächeln, das etwas schief geriet, und zog eine Grimasse. Sie fand, dass alles an ihr zu üppig geraten war: das Gesicht zu rund, der Busen zu voll, die Hüften zu breit. Beim Aussteigen versanken die Mokassins sofort im Schneematsch und färbten sich dunkel. Nässe tränkte die Strümpfe und kletterte hinauf bis zum Saum der Jeans. Frühlingsschühchen im Winter, typisch Großstädterin, dachte sie, wütend über sich selbst.

    Sie sah hinüber zum Hotel, einer weißen Villa mit Erkern, Gauben und Türmchen. Das Sonnenlicht ließ die Schnitzornamente der Holzbalkone plastisch hervortreten. Im letzten Jahr hatte Frank mit ausgebreiteten Armen vor der Tür gestanden. Heute war nur Edgar da. Er stellte den Schneeschieber an die Hauswand.

    »Tag, Anna«, grüßte er, als wäre sie gerade eine Stunde und nicht ein halbes Jahr fort gewesen. »Willkommen im Wintersportort Göhren.« Dabei zeigte er auf die Schneehaufen am Rand des Parkplatzes. Dann nahm er ihre beiden Koffer und marschierte los. »Dasselbe Zimmer wie immer?«

    »Ich denke schon.« Anna versuchte mit Edgar Schritt zu halten und fragte nach Frank.

    »Herr Pannwitt? Hat wohl zu tun. Irgendeine Tagung«, brummte Edgar. »Geh nur vorne rein.« Er selbst bog um die Ecke zum Personaleingang hinten bei den Müllcontainern.

    Die Glastür glitt zur Seite. Da war es wieder, das inzwischen vertraute Prickeln, das sich stets einstellte, wenn sie hier ankam. Es war wie der Eingang in eine geheimnisvolle, fremde Welt. Eine Freitreppe mit fein ziseliertem Messinggeländer schwang sich hinauf zum ersten Stock. Sofas und Sessel leuchteten in Siena, Orange und Magenta.

    Annas Mokassins quietschten leise auf den Fliesen. Vom Tresen der Rezeption aus winkte Nina.

    »Hallo Chefin, schön, dass du da bist«, sagte sie und umarmte Anna.

    »Noch Kollegin, bitte.« Anna machte eine Handbewegung, als wolle sie das Wort ›Chefin‹ ein Stück von sich weg schieben. »›Man soll es nicht beschreien‹, hat meine Großmutter in solchen Fällen immer geunkt.«

    »Und mein Opa sagte immer: ›Nach der Schlacht werden die Toten gezählt‹«, lachte Nina. »Aber heute ist Bescheidenheit mega-out, vor allem, wenn eine Sache so sicher ist.«

    Von wegen Bescheidenheit. Wenn du wüsstest, dachte Anna. Ihre Zurückhaltung war pure Fassade. Innerlich platzte sie beinahe vor Stolz über ihren Aufstieg vom Mädchen, das sich nicht entscheiden kann, zur zukünftigen Hoteldirektorin.

    »Wo sind denn unsere Noch-Chefs?«, fragte sie lächelnd.

    »Kröcherts sind heute Morgen für eine Woche zum Verwandtenbesuch nach Dresden gefahren. Frau Kröchert hat sich wie verrückt gefreut, endlich mal hier rauszukommen. Aber er wäre wohl lieber in seinem Weinkeller verschwunden«, sagte Nina. Sie lachten beide.

    »Und wo steckt der designierte Hoteldirektor?«, fragte Anna weiter und bemühte sich, ihre Stimme lässig klingen zu lassen. »Ich konnte ihn nicht erreichen.«

    »Frank wird oben bei den Sparkassenleitern sein«, sagte Nina. »Geh doch einfach hoch. Übrigens: Ist es okay, wenn du morgen mit dem Frühdienst beginnst?«

    »Na klar.« Anna nickte. »Dann will ich mal, bis später.« Sie wandte sich zur Treppe. Im Marmorkamin knackten die Scheite. Der Geruch nach Holz und Harz vermischte sich mit Frühlingsblumenduft. Überall standen Töpfe und Vasen, gefüllt mit Tulpen, Hyazinthen und Narzissen.

    Langsam stieg sie die Stufen zur ersten Etage hinauf und bog in den Flur ein. Der königsblaue Velours verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Vom Ende des Ganges her hörte sie Stimmen. Sie ging schneller. Wiedersehensfreude stieg in ihr auf. Der Weg führte am großen Bankettsaal vorbei zu einem Foyer, von dem aus die Tagungsräume abzweigten. Am Büfett blubberte ein Samowar neben Thermoskannen und Tellern mit Keksen.

    Frank unterhielt sich an einem der Stehtische mit einer Blondine im Businesskostüm. Sie schaute grimmig, redete auf ihn ein und gestikulierte dabei heftig mit den Händen. Offensichtlich beschwerte sie sich über irgendetwas. Anna blieb hinter einer Yuccapalme stehen. Sie beobachtete die Szene, nein, eigentlich nur Frank. Sein ebenmäßiges Gesicht mit dem kantigen Kinn und der geraden Nase, die dunklen dichten Haare mit dem Ansatz zu Geheimratsecken, vor allem aber die Grübchen, die ihm jedes Lächeln in die Wangen kerbte und seinem Gesicht etwas Lausbubenhaftes gaben: Für sie war er der faszinierendste Mann der Welt.

    Frank war völlig auf die Sparkassenblondine konzentriert. Er hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, denn sie überragte ihn um Haupteslänge. Sein Lächeln signalisierte, dass er alle ihre Probleme verstand und sie umgehend lösen würde. Die Gesichtszüge seiner Gesprächspartnerin entspannten sich nach einer Weile, sie verstummte, hörte ihm zu und erwiderte schließlich sogar sein Lächeln.

    Ein Telefon schrillte. Franks Blick wurde unruhig und er begann, seine Hände zu kneten. Schließlich verabschiedete sich die Frau mit einem leichten Kopfnicken und stöckelte auf einen Tagungsraum zu. Das Telefon schwieg. »Einen erfolgreichen Nachmittag noch«, rief Frank ihr hinterher und verschwand in seinem Büro.

    Anna folgte ihm. Als sie die offene Tür erreicht hatte, saß Frank bereits am Schreibtisch und hielt sein Handy ans Ohr, sprach aber nicht.

    »Anna«, rief er, drückte eine Taste und legte das Handy hin. Er sprang auf und kam auf sie zu. »Hallo Liebes, ich habe noch nicht mit dir gerechnet.« Er umfasste Annas Oberarme und küsste sie.

    Dann trat er einen Schritt zurück. »Warum hast du nicht angerufen?«

    Sie sagte ihm, dass sie es versucht hätte.

    »Tut mir leid.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Seit ein paar Tagen ist hier der Teufel los. Solche Zicken und Schnösel hatten wir lange nicht.« Dann zählte er auf: die ständigen Sonderwünsche der Sparkassenleiter, die Reisegruppe aus Hannover, die heute Abend eintreffen würde, die morgen beginnende Tagung der Lesefreunde Mecklenburgs, das Bankett des Golfclubs am nächsten Samstag und so weiter und so weiter. Anna versuchte, seinen Blick einzufangen. Vergeblich. Seine grauen Augen fixierten einen Punkt neben ihr. Plötzlich hielt er inne und sah auf die Uhr. »Verdammt, schon so spät.« Er streckte die Hand vor, strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: »Lass uns heute Abend in Ruhe reden, ja?«

    »Natürlich ... sicher ...« Anna blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, während Frank bereits wieder dem Schreibtisch zustrebte. Dann sagte sie leise: »Bis heute Abend dann«, drehte sich um und verließ den Raum.

    Ihr Zimmer im vierten Stock empfing Anna wie eine alte Bekannte. Die Primel auf dem Schreibtisch – sicher wieder von Frau Kröchert – ließ bereits die Blüten hängen. Im letzten Jahr hatte daneben noch ein Rosenstrauß gestanden.

    Anna streifte die Mokassins von den Füßen, quetschte sich auf Socken zwischen Bett und Sessel hindurch zum Fenster in der Dachschräge und drückte es auf. Kalte Luft strömte herein. Sie starrte hinaus auf die mit Schnee überpuderten Sträucher, auf den Unterstand mit den Müllcontainern und den Schotterplatz, auf dem nur wenige Autos parkten.

    So hatte sie sich ihre Ankunft nicht vorgestellt. Warum war Frank gerade so kühl gewesen? War sie ihm nach zwei Jahren schon gleichgültig geworden? Oder sah sie mal wieder Gespenster? Warum konnte sie sich ihr verdammtes Misstrauen nicht abgewöhnen? Die Arbeit ging vor, das war von Anfang an so gewesen. Sie war in erster Linie Empfangssekretärin, er Direktionsassistent. Und jetzt musste Frank den Chef vertreten. War doch klar, dass er da nicht alles stehen und liegen lassen konnte, nur um sich mit ihr zu beschäftigen. Sie war einfach zu egoistisch.

    Mit einem Ruck schloss Anna das Fenster, wandte sich um und ließ die Schlösser des großen Koffers aufschnappen. Zuoberst lag ein cremefarbenes Jackenkleid aus Seide, das sie vorsichtig über einen Bügel streifte und glatt strich. Dann räumte sie T-Shirts, Pullover, Strümpfe, Wäsche und Sportzeug in die Kommode, hängte Jeans, Kostüme, Blusen, Sommerkleider und die Regenjacke in den Schrank. Sie brachte die Kosmetiktasche ins Bad und versteckte die rissige Holzplatte des Tischchens unter einer Decke. Den dunkelbraunen Cordsessel dekorierte sie mit zwei Kissen, legte ein Plaid und einen Plüschfuchs mit eingerissenem Ohr aufs Bett und einen Stapel Kriminalromane auf den Nachttisch.

    Schließlich wickelte sie vorsichtig zwei kleine Bilderrahmen aus Blasenpapier. In einem steckte das Foto eines Hochzeitspaares: Ernst blickten beide in die Kamera. Als hätten sie damals schon geahnt, dass ihnen nicht mehr viel Lebenszeit blieb. Dass Anna, die kleine Tochter, die sie bekommen würden, ohne sie aufwachsen musste. Nein, dachte Anna, so traurig sähe sie auf ihrem Hochzeitsporträt sicher nicht aus. Und sicher würde sie keine Nelken mit Asparagus als Brautstrauß im Arm halten, wie ihre Mutter damals.

    Mit einem Taschentuch polierte Anna das Glas. »Mama, Papa«, flüsterte sie. Es klang fremd und ungewohnt. Vielleicht hing ihr ständiges Misstrauen mit dem frühen Tod ihrer Eltern zusammen. Einige Beziehungen waren daran zerbrochen. Die Männer hatten ihr vorgeworfen, sie sei zu eifersüchtig, klammere zu sehr, nähme ihnen die Luft zum Atmen. Anna verstand das nicht. Sie fand es normal, sich ganz auf den zu konzentrieren, den man liebt.

    Sie griff nach dem zweiten Bilderrahmen. Vom Foto lachten ihr Tante Renate und Onkel Wolfgang aus dem Strandkorb entgegen. Sie selbst und Lars, ihr Cousin, buddelten im Sand. Ein typischer Urlaubsschnappschuss, eine ganz normale Familie. Die Familie, zu der sie gehörte. Anna rückte die Rahmen auf dem Nachttisch zurecht. Dann schloss sie die leeren Koffer und schob sie auf den Schrank.

    In der Bäckerei und Konditorei ›Dobelstein‹ auf der Strandstraße stand Regina hinter dem Tresen. Regina Knoch war eine hagere Enddreißigerin mit leichtem Überbiss. Eine pragmatische Schönheit hatte Frank sie mal genannt. Er kannte sie seit der Unterstufe, sie stammten beide aus Bergen. Regina begrüßte Anna mit einem strahlenden Lachen, zählte aber weiter Brötchen in eine Tüte und reichte sie einer Kundin über den Tresen.

    Anna musterte derweil Torten und Gebäck in der Vitrine. »Was gibt’s Neues?«, fragte sie.

    »Was willst du hören?« Regina packte Sanddornplätzchen in eine zweite Tüte. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte, an den Ohren schaukelten riesige Creolen. »Dass wir letzten Monat einen Orkan hatten? Dass meine Chefin in diesem Jahr zur Bernsteinkönigin gewählt werden will? Oder dass Ludwig eine neue Schrottplastik vollendet hat und morgen Abend feiert? Die ›Meeresgöttin‹ soll getauft werden. Du bist genau zum richtigen Zeitpunkt angekommen.«

    »Aber ich bin doch nicht eingeladen.« Anna kannte Ludwig Neuhausen, den Berliner Künstler mit vielen Ambitionen und wenigen Erfolgen, nur flüchtig.

    »Frank aber sicher.« Die Kundin bezahlte und verließ die Bäckerei. Regina grinste Anna an: »Apropos – Wie geht’s deinem Verlobten?«

    »Das weißt du vermutlich besser. Ich hab ihn erst kurz gesprochen«, antwortete Anna.

    »Schön wär’s. Er hat sich ziemlich rargemacht in letzter Zeit. Seit Monaten wollen wir uns treffen, nie hat es geklappt. Ist wohl viel los bei euch oben?«

    »Ich weiß nicht«, sagte Anna ausweichend. »Ich bin noch keine zwei Stunden hier.« Während sie mit dem Finger auf die Kuchenstücke wies, die sie haben wollte, fragte sie: »Und wie steht’s bei dir mit der Liebe? Hat sich was Neues ergeben?«

    »Einmal Single, immer Single«, lachte Regina. »Nein, du weißt doch, die Einheimischen kenne ich zu lange, die Urlauber immer nur zu kurz.«

    Anna wusste, dass Regina ab und zu eine Affäre hatte, aber ansonsten nicht ungern allein lebte. Außerdem besaß sie einen weitverzweigten Freundeskreis.

    »Wir sehen uns sicher morgen Abend«, sagte Regina, nachdem Anna bezahlt hatte. »Dann verabreden wir was. Wir müssen unbedingt mal wieder zusammen um die Häuser ziehen.«

    Anna nickte. »Machen wir.«

    »Sind Donauwellen dabei?«, rief Marlene statt einer Begrüßung und stürzte sich auf das Paket, das Anna auf dem Resopaltisch

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