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Fallende Blätter
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eBook304 Seiten3 Stunden

Fallende Blätter

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Über dieses E-Book

Gabriel ist für seine Fans das Größte. Vor allem für eine bestimmte Gruppe seiner weiblichen Fans. Eine der jungen Frauen, die ihn anhimmelte, wird erstochen aufgefunden. Die Kriminalkommissare Ilka Behnke und Mike Bredau ermitteln unter den anderen begeisterten Mädchen. Zu ihnen zählt auch Daniela Möllner, deren Freundin Frauke sich große Sorgen um sie macht und ihre Begeisterung für den Sänger gern dämpfen würde. Doch trotz ihrer Abneigung wird gerade Frauke tief in die Vorgänge verwickelt. Während sie sich in einem Netz aus Heimlichkeiten verstrickt, ermitteln die Kriminalkommissare fieberhaft - und dann scheint sich alles zu wiederholen...
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Feb. 2014
ISBN9783847672951
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    Buchvorschau

    Fallende Blätter - Kim Bergmann

    Prolog

       Vanessa zog ihren Mantel enger um sich und hob die Schultern an, um dem kalten Nieselregen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Verdammtes Scheißwetter, dachte sie, aber so richtig konnte der nasse Oktober ihre Laune doch nicht trüben. Dazu war sie zu verliebt, und sie hatte den ganzen Abend ihrer Freundin Christin vom letzten Wochenende vorgeschwärmt. Christin hatte sich für sie gefreut, aber sich auch ein bisschen Sorgen gemacht. „Heißt das, ihr seid jetzt zusammen?" hatte sie wissen wollen. Vanessa hatte die Frage beiseite geschoben. Zusammen, was hieß das schon. Immerhin war es das dritte Mal, das Gabriel sie allen anderen vorgezogen hatte. Wahrscheinlich also verband sie beide tatsächlich ziemlich viel. Abwarten.

    Statt einer direkten Antwort auf Christins Frage hatte sie ein paar Floskeln gemurmelt und sich wieder in die detaillierte Beschreibung der samstäglichen Nacht gestürzt. Die Bilder hatte sie auch jetzt noch lebhaft vor Augen, als sie durch die regnerische Dunkelheit eilte; sie ließen ihre Augen glänzen und ihre Wangen glühen.

    Wie hatten sie sich verquatscht, Christin und sie! Erst um zwanzig nach zwölf hatte sie auf die Uhr geguckt und sich fürchterlich erschreckt, weil sie doch morgen fit sein mussten. Vor allem, weil morgen wieder das Steckenpferdreiten angesetzt war. Vanessa schnitt eine Grimasse. Eigentlich fand sie das ja ganz schön, dass der westfälische Friede auf diese Art und Weise jedes Jahr wieder gefeiert wurde, und meist sahen die Kinder mit ihren selbst gebastelten Steckenpferden auch total süß aus. Nur diesmal sollten es weit über tausend werden, hatte sie in der Zeitung gelesen, und wenn sie sich vorstellte, dass sie selbst mit einem leichten Kater und unausgeschlafen bei der Arbeit stehen würde, während draußen über tausend Zehnjährige rumorten, dann wurde ihr ganz anders.

    Dass die lauten Viertklässler für sie kein Problem mehr darstellen würden, konnte Vanessa in diesem Moment nicht ahnen.

    Sie verließ die Fußgängerzone und überquerte die Hase in Richtung Herrenteichswall. Als sie sich am gegenüberliegenden Ufer vor dem Haarmannsbrunnen, einem der ältesten Arbeitsdenkmäler Deutschland, nach links wandte, hörte sie schräg hinter sich Schritte.

    Vanessa erschrak etwas – natürlich war es nicht ungewöhnlich, dass um halb ein Uhr in der Frühe an einem Donnerstag noch Leute in Osnabrück unterwegs waren, aber man weiß ja nie, wer so durch die Nacht schleicht. Sie beschleunigte ihren Schritt, als eine bekannte Stimme „Hey, Vanessa" rief. Sie drehte sich um und erkannte die Person, die zu der Stimme gehörte. Erleichterung durchflutete sie, und sie blieb stehen, um zu warten.

    „Hi, du hier? Was treibt dich denn noch so spät auf die Straße?"

    Die andere Person war herangekommen und hob die Hand. „Du."

    Vanessa spürte einen brennenden Schmerz in der Brust, und dann war da nichts mehr.

    Der bronzene Bergmann auf dem Haarmannsbrunnen schwang wie seit einem Jahrhundert Schlägel und Eisen, gänzlich unbewegt von der sterbenden jungen Frau zu seinen Füßen.

    Morgen mit Tod

    Ilka wanderte durch den Wald. Ihr war leicht zumute, leicht und glücklich, als sie den Harzgeruch der Bäume wahrnahm, als sie den federnden Waldboden unter den Füßen und Philipps Hand fest und warm in ihrer spürte. Es war Frühsommer, im Unterholz knackte und knisterte es nur so vor Leben, und die Vögel überboten sich in ihren Gesangsdarbietungen.

    Speziell dieser eine – was war das denn nur? Nicht, dass Ilka sich mit den gefiederten Freunden besonders gut ausgekannt hätte, aber so einen Vogel hatte sie noch nie gehört. Der war ja lauter als alle anderen, und er klang überhaupt nicht angenehm. Er klang…

    …wie ihr Telefon.

    Ilka riss mühsam die Augen auf und tastete im Dunkeln auf dem Nachttisch herum, bis sie den Störenfried gefunden hatte, und meldete sich verschlafen. Während sie zuhörte, ordnete sie ihre Gedanken, so gut es gerade ging: Es war nicht Frühsommer, sondern Oktober. Sie war nicht im Wald, sondern allein im Bett. Philipp war nicht ihr Freund, sondern ein dreckiger Betrüger, den sie darüber hinaus andauernd bei der Arbeit traf, es war kurz vor fünf Uhr früh, und sie musste zu einem Leichenfund am Haarmannsbrunnen. Sie knipste das Licht an und mobilisierte all ihre Kräfte, um trotz dieser großartigen Umstände aufzustehen und den Tag anzugehen. Sie wankte unter die Dusche und drehte das Wasser auf lauwarm. Zwar wusste sie, dass kaltes Wasser sie ungleich schneller wecken würde, aber sie hatte es noch nie übers Herz gebracht, derart grausam zu sich selbst zu sein. Auch so tat das nasse Element seine Wirkung, und nur Minuten später verließ sie ihre Wohnung. Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch die schlafwirren, kastanienfarbigen Haare und beglückwünschte sich einmal mehr dazu, dass sie sich diesen kurzen Bob hatte schneiden lassen. Es gab ganz einfach nichts Praktischeres, gerade in einem Beruf, der sie morgens in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett warf.

    Mit dem Fahrrad war Ilka binnen fünf Minuten durch die dunkle, nasskalte, stille Stadt gesaust und erreichte den Haarmannsbrunnen am Herrenteichswall. Hier stand ein Kollege in Uniform zusammen mit einem Mann von etwa 55 Jahren, der sichtlich verstört immer wieder zu der Toten vor dem Brunnen blickte und sich mit einer Hand an der Tür eines Kastenwagens abstützte. Die ersten Kollegen von der Spurensicherung waren bereits vor Ort und nahmen die Umgebung in Augenschein. Viel konnten sie nicht tun: Im Mülleimer neben der Bank beim Brunnen war fast nichts, und der Boden war gleichmäßig nass geregnet.

    Ilka warf einen Blick auf die Tote. Junge Frau, registrierte sie, Mitte zwanzig. Lange blonde Haare, schwarzer Übergangsmantel.

    Mit einem freundlichen Gruß trat sie zu dem Kollegen und dem Mann, der vermutlich die Tote gemeldet hatte.

    „Kriminalkommissarin Ilka Behnke, guten Morgen."

    Der Uniformierte hob grüßend die Hand. „Scheener, Morgen auch. Das hier ist Robert Gahner, er hat uns verständigt."

    Ilka wandte sich dem verstört blickenden Gahner zu.

    „Erzählen Sie mir, was passiert ist."

    Halt suchend lehnte der Mann sich an seinen Wagen, ehe er antwortete. „Ich hab eine Lieferung, die ich um halb fünf abliefern sollte, und er winkte mit der Hand in Richtung der Fußgängerzone, „Kosmetika und so für eine Drogerie. Ich bin hier vorbei gekommen und hab gesehen, dass da jemand liegt. Komisch, hab ich gedacht, direkt da auf dem Bürgersteig vor dem Zebrastreifen? Vielleicht ist die Person verletzt und braucht Hilfe. Also hab ich angehalten und bin gucken gegangen, und da hab ich gesehen, dass sie noch ein Mädchen ist. Sie hatte keinen Puls und hat sich kalt angefühlt.

    „Sie haben ihren Puls überprüft? Am Handgelenk oder am Hals?"

    „Am Hals. Am Handgelenk finde ich den schon bei mir selbst nicht. Aber ich hatte mal im Fernsehen gesehen, dass man manchmal den Puls nicht mehr fühlt, die Person aber trotzdem lebt. Ich hab also einen Spiegel aus dem Auto geholt und ihn unter ihre Nase gehalten, um zu sehen, ob er beschlägt, weil sie atmet. Sie hat aber nicht geatmet. Und dann hab ich den Riss im Mantel gesehen und das Blut bemerkt und die Polizei gerufen. Das war vor etwa einer guten halben Stunde."

    Ilka warf einen raschen Seitenblick auf die Tote. Im Schein der Straßenlaterne war tatsächlich nur wenig zu sehen, und das Schwarz des Mantels hatte die Blutflecke auch vor ihren Augen verborgen. Es klang plausibel, was der Zeuge berichtete.

    „Haben Sie die Tote schon einmal gesehen?"

    Gahner schüttelte den Kopf. Er wirkte elend.

    „Noch nie. Armes Ding, noch so jung. Wer tut denn so etwas?"

    „Das werden wir herausfinden müssen. Geben Sie dem Kollegen Scheener bitte Ihre Personalien, Herr Gahner, falls wir später noch Fragen haben sollten. Und dann müssten wir einen Blick in Ihren Wagen werfen, ehe Sie die Waren abliefern."

    Ilka biss die Zähne zusammen, weil sie mit empörten Protesten rechnete, aber der krimifilmgestählte Zeuge wusste offenbar, was notwendig war, und nickte nur mit hängenden Schultern.

    Dankbar fragte Ilka: „Haben Sie mit Ihren Auftraggebern schon telefoniert?"

    Gahner nickte wieder. „Die wissen, was los ist. Sind nicht gerade glücklich, aber sie sehen ein, dass ich nichts dafür kann."

    Ilka bedankte sich bei dem Lieferanten, gab Scheener einen Wink, dass er sich um den Wagen kümmern solle und trat selbst zu der Leiche. Das Mädchen hatte wundervolle, lange goldblonde Haare gehabt, die nun leicht gewellt auf dem nassen Boden lagen und einen dramatischen Kontrast zum schwarzen Mantel bildeten. Die schlanken Beine steckten in schwarzen Strumpfhosen; an den Füßen trug die Tote Pumps. Ilka tippte bei der Bekleidung unter dem Mantel auf ein Winterkleid.

    Sie betrachtete das junge Gesicht: Glatte Haut, sorgfältig geschminkt, gezupfte Brauen, dunkle Wimpern über grauen Augen, gekonnter Lidstrich. Die Tote war hübsch gewesen und hatte eine Menge dafür getan, um das zu unterstreichen.

    Aus dem Gesicht ließ sich sonst nichts herauslesen. Es war nicht qualvoll verzerrt, es lag kein überrascht-fragender Ausdruck in den Augen oder was auch immer man sonst so in Krimis las, es war ganz einfach tot. Die junge Frau war nicht mehr, es war nur noch eine Hülle zurückgeblieben.

    Der Riss im Mantel war etwas über zwei Zentimeter lang und schmal; aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ein Messer ihn verursacht. Eine Kugel kam jedenfalls nicht in Frage.

    Ilka richtete sich auf, als sie eine Autotür zuschlagen hörte. Über den nassen Asphalt lief ihr Partner Mike Bredau auf sie zu. Leicht außer Atem stoppte er vor ihr ab.

    „Verdammt, wie schaffst du das immer, vor mir da zu sein?"

    Ilka warf einen langen Blick auf seine sorgsam frisierten Haare, die an den Spitzen blond gefärbt waren.

    „Ich brauche nicht jeden Morgen eine halbe Stunde im Bad, Schätzchen."

    Mike verdrehte die Augen.

    „Nicht jeder sieht von Natur aus so gut aus wie du, da muss man schon ein bisschen nachhelfen."

    Ilka lächelte kurz, sie war dankbar für die kleine Frotzelei. Wenn man das überhaupt vergleichen konnte, dann sah Mike ganz klar besser aus als sie: Durchtrainiert, fit, groß gewachsen – sogar sein Gesicht war ziemlich attraktiv. Er verbrachte viel Zeit im Fitnesscenter, um in Form zu bleiben, besuchte in den Wintermonaten regelmäßig die Sonnenbank und betrachtete seine Frisur als eine Art Heiligtum. Aus Mikes lakonischen Bemerkungen nach den Wochenenden, mehr aber noch durch die Gerüchteküche der Kollegen wusste Ilka, dass er ausgesprochen erfolgreich bei den Damen war. Allerdings bevorzugte er, wie er es nannte, seichte Unterhaltung. Schönheit und Dummheit waren für ihn die perfekte Mischung, um nach der Arbeit abzuschalten.

    Ilka hatte ihn einmal gefragt, ob ihn die jeweilige Frau denn dann auf die Dauer nicht auf den Geist ginge, und hatte dafür nur einen verständnislosen Blick geerntet. „Auf die Dauer?" Daraufhin hatte sie sich die Ohren zugehalten und ihn nicht mehr auf seine amourösen Verwicklungen angesprochen.

    Ilka selbst empfand sich neben Mike als durchschnittlich aussehend: Normale Größe, nettes Gesicht, normale weibliche Figur. Während Mike begeistert trainierte, musste sie sich immer wieder selbst dazu zwingen, um in Form zu bleiben. Während er Proteinshakes in sich hinein kippte, kochte sie, wenn sie die Muße hatte, für sich selbst mehrgängige Menus. Und als sie ihm erzählt hatte, dass sie jahrelang Raucher gewesen war, hatte er ihr völlig entsetzt einen mehrstündigen Vortrag gehalten.

    Wenn er nun also von den Vorzügen ihrer natürlichen Schönheit sprach, war das weder ernst gemeint noch wurde es so aufgenommen.

    Mike warf einen Blick auf die Leiche, und ehrliches Bedauern zeichnete sich auf seinen Zügen ab.

    „Verdammt, was für eine Verschwendung. Sie sah toll aus."

    Ilka, die neben Ermordeten auf Oberflächlichkeiten immer etwas dünnhäutig reagierte, biss sich auf die Lippen, um ihn nicht zu maßregeln. Jeder geht mit Gewaltverbrechen anders um, dafür darfst du ihm keine runterhauen, ermahnte sie sich in Gedanken. Stattdessen setzte sie ihn vom dem in Kenntnis, was Gahner ausgesagt hatte. Gemeinsam sahen sie dabei zu, wie die Spurensicherung den Platz systematisch untersuchte und der Leichnam in einem der schwarzen Säcke verstaut wurde. Danach nahm Ilka den Ausweis des Opfers entgegen und warf einen Blick darauf. Jetzt hatte die Tote einen Namen: Vanessa Beerkamp. Fast 25 Jahre alt, konstatierte Ilka. Auf dem Ausweisbild lachte Vanessa und blickte selbstbewusst in die Kamera. Der Fotograf hatte sich wahrscheinlich gefreut.

    Die Durchsuchung des Lieferwagens wurde abgeschlossen. Wie nicht anders erwartet, fanden sich hier nur die Dinge, die Gahner auch angegeben hatte. Ilka verabschiedete sich von dem Lieferanten und wandte sich an Mike: „Komm, wir fahren ins Büro. Da gibt es zumindest Kaffee. Und wenn die Bäckereien aufmachen, kannst du uns Brötchen holen." Mike stimmte ohne Murren zu, denn Ilka hatte auf ihrer Fensterbank eine Kaffeepad-Maschine stehen, und gegen ihren Kaffee war der aus dem Automaten Übelkeit erregend.

    In ihrem Büro angekommen kochte Ilka erst einmal Kaffee, ehe sie sich seufzend an ihren Tisch setzte, Mike gegenüber.

    „Wir müssen den Obduktionsbericht für Einzelheiten abwarten, aber für mich sah das wie ein Stich ins Herz aus."

    Mike nickte zustimmend. Ilka musterte ihren Partner unauffällig und dachte, dass sie ihn einem kleinen Test unterziehen könnte: Hatte er wirklich nur die Schönheit der Toten bemerkt?

    „Ist dir noch etwas Besonderes aufgefallen?", fragte sie beiläufig.

    Mike nickte wieder. „Allerdings. Keine Abwehrverletzungen. Die Kleidung war nicht zerknittert und abgesehen von dem Riss über der Wunde unversehrt, und sie hatte lange, künstliche, fantasievoll verzierte Fingernägel – nie im Leben hätten alle zehn es unbeschadet überstanden, wenn sie handgreiflich gegen ihren Mörder vorgegangen wäre."

    Ilka atmete innerlich auf, wenn sie sich auch sonst nichts anmerken ließ. Eigentlich wusste sie ja, dass Mike nicht ganz so oberflächlich war, wie er tat, aber er schaffte es doch immer wieder, sie aus dem Konzept zu bringen. Sie betrachtete ihn als eine Art kleinen Bruder – mit seinen 28 Jahren war er immerhin ganze zwei Jahre jünger als sie – und fühlte sich für ihn verantwortlich.

    „Genau, stimmte sie zu. „Entweder hatte sie den Mörder noch nie gesehen, und es ist sozusagen ein unpersönliches Verbrechen, oder sie kannte denjenigen, der sie getötet hat, und glaubte, von ihm oder ihr nichts befürchten zu müssen.

    Mike legte nachdenklich den Kopf schief. „Ein unpersönliches Verbrechen? Hast du so etwas schon mal erlebt?"

    „Nur im Fernsehen gesehen", gab sie zurück. Ihrer Meinung nach war Mord das persönlichste Verbrechen überhaupt. Natürlich kannte sie die ganzen Serienkillergeschichten: Meist handelte es sich um Männer, die sich auf einen bestimmten Typus beschränkten, aber sie selbst hatte das noch nie erlebt. In allen Fällen, die sie bisher untersucht hatte und die keine reinen Raubmorde gewesen waren, hatte der Täter ein mehr oder minder gutes, grundsätzlich aber sehr persönliches Motiv gehabt.

    Ilka warf einen Blick auf ihre Uhr.

    „Zeit, dass du Brötchen holst, Mike. Und nach dem Frühstück müssen wir wohl oder übel zu Vanessas Eltern."

    „Da vergeht mir eigentlich der Appetit."

    „Mir auch, aber wir stehen den Tag nicht durch, wenn wir nichts in den Magen bekommen. Also hopp!"

    Zwei Stunden später schloss sich die Haustür der Beerkamps hinter den beiden Kriminalkommissaren. Ilka atmete tief durch und versuchte, den Kloß in ihrem Hals aufzulösen. Wie wenig Zeit es doch in Anspruch genommen hatte, das Leben dieser beiden Menschen zu zerstören. Es hatte nur einen Satz dafür gebraucht: „Ihre Tochter ist tot."

    Ilka hasste diesen Teil ihres Berufs. Schlimmer noch als das Überbringen der Nachricht war für sie, dass sie die schockierten, fassungslosen, trauernden Angehörigen danach nicht in Ruhe lassen durfte, sondern dableiben und tausend Dinge fragen musste. Gerade, wenn die Opfer junge Menschen waren, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Eltern meist nur wenig Ahnung davon haben, mit wem genau ihre Sprösslinge verkehrten. Fast nie konnte sich jemand vorstellen, wer seinem Sohn oder seiner Tochter etwas antun wollte. Da aber gerade Eltern die Menschen sind, denen der jeweilige Sprössling einige Dinge vielleicht nicht unbedingt auf die Nase binden muss, ließ sich Ilka grundsätzlich die besten Freunde der Opfer nennen. Diesmal musste sie eine Christin Hauser aufsuchen.

    „Die beiden sind unzertrennlich", hatte die Mutter geschluchzt. „Arbeiten zusammen im Hair & Pare, und sie gehen oft zusammen aus. Sonst telefonieren sie stundenlang."

    Ilka hatte sich den Namen des Mädchens und des Beautysalons notiert.

    „Hatte Ihre Tochter einen Freund?"

    Die Frau hatte den Kopf geschüttelt.

    „Nicht mehr. Sie war etwa zwei Jahre lang mit jemandem zusammen, mit Benjamin Schulze, aber vor ein paar Monaten haben die beiden sich gestritten und getrennt. Inzwischen sprechen sie wieder miteinander, aber er hat eine neue Freundin, und sie hat sich daran nicht sehr gestört. Ich glaube, er war einfach nicht das Richtige für sie. Schade, ich habe ihn gemocht."

    In diesem Moment hatte Frau Beerkamp Ilka so sehr an ihre eigene Mutter erinnert, dass sich ihr der Magen zusammen gezogen hatte. Ja, Vanessa Beerkamps Mutter musste die Hoffnung auf Enkelkinder nun aufgeben – wie hart das ihre eigene Mutter Marieka treffen würde!

    Schnell hatte sie sich geräuspert und Mike einen Blick zugeworfen, um zu sehen, ob er noch Fragen hatte. Der hatte ein winziges Kopfschütteln angedeutet, und sie waren unter Beileidsbekundungen gegangen, um herauszufinden, wer der Tochter dieser beiden fassungslosen Menschen das Leben genommen hatte.

    Draußen schüttelte sie sich wie ein nasser Hund. Mit einem Blick auf ihren Notizblock sagte sie: „Gut, ich setze auf Christin Hauser. Den Exfreund können wir bei Bedarf später immer noch ansprechen, oder was meinst du?"

    Mike nickte entschieden. „Wenn die zusammen arbeiten, ausgehen und sich den Mund fusselig telefonieren, weiß Christin mehr über Vanessa als jeder andere."

    Ilka steckte das Heft wieder ein.

    „Dann nichts wie los."

    Christin wohnte in einem winzigen Ein-Zimmer-Appartment. Zwar fraß das den Großteil ihres bescheidenen Gehalts, aber sie liebte es, eine eigene Wohnung zu haben und unabhängig zu sein. Mit drei Leuten war es allerdings schon ziemlich eng in dem Raum, und Mike fühlte sich sichtlich unwohl.

    Christin war noch im Schlafanzug, als sie die Tür erst nach den dritten Klingeln öffnete. Sobald sie erfahren hatte, was ihrer Freundin passiert war, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte sich bis jetzt nicht beruhigen können.

    Ilka schickte Mike in der winzigen Küchenzeile auf die Suche nach Tee, um ihm etwas zu tun zu geben, und setzte sich selbst behutsam neben Christin auf die Schlafcouch.

    Das Mädchen war vielleicht ein, zwei Jahre jünger als ihre Freundin, hatte schwarze, fransig geschnittene Haare mit blonden Strähnchen, zentimeterlange rot und schwarz lackierte Krallen und trug rührenderweise einen abgenutzten Frotteeschlafanzug mit kleinen Hunden darauf. Jede Wette, dass noch nie ein Freund den zu Gesicht bekommen hat, ging es Ilka durch den Kopf.

    „Frau Hauser, begann sie sanft, „wir möchten so schnell wie möglich aufklären, was Ihrer Freundin passiert ist. Haben Sie sie gestern gesehen?

    Das Mädchen nickte und schniefte. „Wir waren nach der Arbeit noch aus, haben zu Abend gegessen und dann in einer Lounge etwas getrunken und gequatscht. Eigentlich wollten wir gar nicht so lange bleiben, aber sie war so aufgeregt und hatte so viel zu erzählen – oh Gott, sie war so glücklich!"

    Und sie senkte das Gesicht in die Hände und wimmerte.

    Mike drehte sich mit dem Wasserkocher in den Händen um und hob fragend die Brauen. Ilka winkte ihm, sich wieder um den Tee zu kümmern.

    „Warum war sie glücklich, Frau Hauser?"

    „Sagen Sie doch Christin, bitte, das tut jeder. Vanessa war total happy, weil sie ein wunderbares Wochenende mit dem Typen verbracht hat, in den sie bis über beide Ohren verliebt ist."

    „Und jetzt lassen Sie mich raten, sagte Ilka, „es handelt sich nicht um Benjamin Schulze.

    Christin blickte sie zwischen tränenfeuchten Wimpern überrascht an.

    „Was? Nein, gar nicht. Ich glaube, in den war sie nicht einmal bis über beide Ohren verliebt, als sie noch mit ihm zusammen war. Nein, diesmal hat es sie richtig erwischt, mit Herzklopfen und weichen Knien und allem Drum und Dran, und ich hab mir etwas Sorgen um sie gemacht, weil ich nicht einschätzen kann, wie der Typ drauf ist, ob er sie nicht nur verarscht oder so."

    „Kennen Sie den Namen?"

    „Den kennen Sie wahrscheinlich auch: Gabriel, der Sänger."

    Ilka entsann sich, den Namen zumindest mal auf einem Plakat gelesen zu haben, und auch Mike nickte.

    „Kennen Sie seinen vollen Namen?"

    „Ich… ich glaube, er heißt eigentlich Arndt Gabriel, aber für seinen Künstlernamen hat den Vornamen weggelassen. Gabriel fand er wohl cool genug, Vanessa hat erzählt, dass er sagt, so heißt ein Engel oder so."

    „Da hat er sogar recht. Mike kam mit einem Becher herüber, in dem ein Teebeutel zog, und stellte ihn vor Christin ab. „Was können Sie uns sonst noch über Vanessa erzählen? Lassen Sie sich ruhig Zeit – wir müssen ein möglichst genaues Bild von ihr haben.

    Eine gute Stunde später hatten sie ein

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