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Waahnsinnszeiten
Waahnsinnszeiten
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eBook186 Seiten2 Stunden

Waahnsinnszeiten

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Über dieses E-Book

Im Frühjahr 2009 jährt sich das Aus der Pläne zum Bau einer atomaren Anlage zur Aufarbeitung abgebrannter Kernbrennstäbe im Oberpfälzer Ort Wackersdorf zum zwanzigsten Mal. Das Thema ‘Atommüll und -risiken’ hat bis heute nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren: Asse, Krško, Tricastin, Fleurus, Temelin – in regelmäßigen Abständen kommen neue Stichwörter hinzu. Das Thema wird wohl noch die nächsten Jahrmillionen aktuell bleiben, so lange, bis der gesamte Atommüll der letzten 50 Jahre zerfallen sein wird.

Angela Kreuz’ Roman WAAhnsinnszeiten ist eine packende Liebesgeschichte, aber auch eine gründlich recherchierte Geschichte, vor dem Hintergrund der teilweise sehr heftigen Auseinandersetzungen um die WAA Wackersdorf.

Die 80er Jahre mit Bon Jovi, Parkas, Stoppt-Strauß-Plaketten, Zauberwürfeln und ihrer ganzen schillernden Palette von Eigenheiten werden ebenso lebendig wachgerufen wie die Szenarien der WAA-Zeit: BI-Büros, Hüttendorf, Bauzaun.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpielberg Verlag
Erscheinungsdatum30. Apr. 2009
ISBN9783954520589
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    Buchvorschau

    Waahnsinnszeiten - Angela Kreuz

    36

    Kapitel 1

    Alles, was Rang und Namen hatte, war bei der Premierenfeier im Stadttheater versammelt. Draußen war die Sonne längst untergegangen. Anna stand fröstelnd vor dem Eingang und drehte sich eine Zigarette. Sie schaute über den schneebedeckten Springbrunnen am Bismarckplatz zum Polizeipräsidium hinüber. Ihre Mutter hatte sie nach dem Abendessen genötigt, einen Rock fürs Theater anzuziehen, obwohl Anna Röcke hasste; sie hätte viel lieber Jeans getragen, ihren Rollkragenpulli und darüber den Parka, dann wäre es ihr jetzt wenigstens nicht kalt. Aber nein, ihre Mutter hatte darauf bestanden und ihr überdies die hässliche Bluse mit den Schulterpolstern herausgelegt, die sie als schick bezeichnete. Es wurde Zeit, dass Anna von zu Hause auszog. Seit sie im November zu studieren begonnen hatte, waren ihre Streitereien daheim ausgeufert. Anna kam sich verkleidet vor, exponiert, als müsste sie heute selbst auf der Bühne stehen; außerdem interessierte sie das Stück nicht. Hasemanns Töchter, was für ein bildungsbürgerlicher Kitsch. Bis vor Kurzem war In der Sache J. Robert Oppenheimer gelaufen – das wäre etwas für sie gewesen. Aber ihre Mutter wollte ja unbedingt dieses Lustspiel sehen. Zum Glück war keiner von ihren Kommilitonen hier. Sie hätte den Abend viel lieber im Büro ihrer Bürgerinitiative verbracht, hätte Flyer kopiert und an der neuen Infobroschüre weitergearbeitet. Das wäre sinnvoll gewesen, anstatt im Theater die Zeit abzusitzen – nur weil ihre Mutter Geburtstag hatte. Anna holte den Walkman aus der Tasche und setzte sich die Kopfhörer auf. Mit Bon Jovi war einfach alles leichter zu ertragen; sie wippte im Takt mit. Ooh, she’s a little Runaway. Daddy’s girl learned fast all those things he couldn’t say. Sie sah sich vom Bismarckplatz loslaufen, hinunter zur Donau und über den eisernen Steg, nach Stadtamhof Richtung Lappersdorf, Zeitlarn, Regenstauf, Maxhütte-Haidhof, über winterliche Felder und Wälder vorbei, am zugefrorenen Wackersdorfer Weiher durch den Taxöldener Forst zum Hüttendorf. Jemand tippte ihr auf die Schulter, sie erschrak und drehte sich herum.

    »Kommst du endlich?«

    Sie konnte die Worte von den Lippen ihres Vaters ablesen und schaltete den Walkman ab. Sein Gesicht wirkte alterslos, der Blick müde – objektiv, wie er immer sagte, ich sehe es halt objektiv. Es machte keinen Sinn, mit ihm über irgendetwas zu diskutieren; er würde Anna nie verstehen – auch nicht, dass es noch zehn Minuten bis zur Aufführung waren und sie das Lied hätte zu Ende hören können. Anna trottete hinter ihren Eltern her, die dem Strom von Zuschauern in den Theatersaal folgten. Sie nahmen in einer Loge Platz. Das Bühnenbild war barock gestaltet. Nach einer Szene, in der Rosa dem Vater die Liebe zu ihrem Ehemann gesteht, der sich vermeintlich von ihr scheiden lassen will, folgte eine Pause. Anna seufzte und erhob sich.

    »Trinkst du ein Glas Sekt mit uns?«, fragte ihre Mutter; sie hatte Tränen gelacht und wischte sich über die Augenwinkel.

    »Muss aufs Klo, ich komme nach.«

    Vor der Damentoilette hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Anna machte aus Langeweile Kaugummiblasen und ließ sie mit einem Schnalzer platzen, woraufhin ihr eine Matrone mit dicken Klunkern missbilligend ins Gesicht starrte. Nachdem Anna ihre Hände gewaschen hatte, warf sie einen Blick in den Spiegel. Ein winziger Pickel, den außer ihr wohl niemand bemerkte, quälte sie. Wie konservativ sie in diesen unseligen Klamotten aussah, der Traum einer CSU-wählenden Schwiegermutter. Ein paar lose blonde Strähnen lösten sich aus dem Pferdeschwanz und fielen Anna ins Gesicht. Wenigstens dauerte es nach der Pause in der Regel nicht mehr so lang. Das Foyer war zu hell erleuchtet für Annas Geschmack; in einem schützenden Kneipenhalbdunkel hätte sie sich wohler gefühlt. Ihre Eltern unterhielten sich mit einem wichtigen Mandanten ihres Vaters. Anna nahm ein Sektglas entgegen und nippte daran; ein Bier wäre ihr lieber gewesen. An der Getränketheke fiel ihr ein junger Mann in Jeans und Turnschuhen auf. Seine lockigen Haare waren heruntergewachsen, und er war weit und breit der Einzige unter den Gästen, der ein Sweatshirt trug, auf dem ein Sticker prangte. Anna lächelte ihm zu, als er zu ihr herüberschaute, doch dann fiel ihr ein, dass sie selbst momentan wie eine Popperin aussah, und sie schämte sich. Der Mann lächelte erstaunt zurück, sie drehte sich schnell um und wurde zu allem Überfluss rot. Anna verwünschte ihre Kleidung und warf ihrer Mutter einen giftigen Blick zu. Endlich erlöste sie der Theatergong aus der peinlichen Situation; sie gingen zurück zu ihren Plätzen. Der Typ von der Sekttheke setzte sich in die Mitte des Parketts, von wo aus Anna ihn gut beobachten konnte. Er schien allein unterwegs zu sein. Ob er auch an der Uni studierte? Sie hatte ihn nie zuvor gesehen.

    Kapitel 2

    Seit Beginn der Rodungen im Taxöldener Forst hatte eine Gruppe Demonstranten angefangen, aus den gefällten Bäumen Hütten zu zimmern; ein unermüdliches Hämmern und Sägen schallte über das Gelände. Das Freundschaftshaus, ein zeltähnlicher Bau mit Holzturm, bildete das Zentrum des entstehenden Dorfs. Ein Bärtiger erklomm das Dach und kletterte bis auf die obere Plattform, gefolgt von einer Frau mit Wollmütze. Als sie oben standen, formten sie die Hände zu einem Trichter.

    »Liebe Freundinnen und Freunde! Nein, wir Oberpfälzer sind nicht wahnsinnig! Wir rufen hier und heute die freie Republik Wackerland aus! Lang lebe die Republik!«

    Anna fiel mit ihren Leuten von der Bürgerinitiative in den Applaus ein, die Menge johlte: »Sie lebe hoch, hoch, hoch!«

    Die Freude wurde von einem Polizeihubschrauber getrübt, der über dem Platz kreiste und lärmte. Auf dem Turm reckte die Frau ihre rechte Faust.

    »Haut ab, Ihr Schweine! Wir verhindern den Wahnsinn!«

    Sie erinnerte Anna an ihre verrückte Tante Ursel, die in Frankfurt lebte und gegen die Startbahn West aktiv gewesen war; sie hatte vor ein paar Jahren bei ihnen zu Hause angerufen. Die Menschenkette ist geschlossen, zwanzig Kilometer! Sag das deinem Vater. Dann hatte sie gleich wieder aufgelegt. Anna wusste damals noch nichts von der Startbahn; ihr Vater hatte auf Nachfragen widerwillig geantwortet und über die Altlinken geschimpft, die immer noch nichts dazugelernt hätten, man müsse doch irgendwann mal erwachsen werden und so weiter. Dadurch war Anna erst recht neugierig geworden und hatte die Tante heimlich zurückgerufen. Eine dunkle weibliche Stimme war am Telefon gewesen und hatte gesagt, Ursula wäre gerade im Hüttendorf, Anna solle es später noch mal versuchen. Doch das hatte sie nie gemacht. Die Tante war zum vierzigsten Geburtstag ihres Vaters nach Regensburg gekommen, eine temperamentvolle Frau mit dunklen Augen, die ihrem Bruder so gar nicht ähnlich war. Ansonsten kannte Anna Ursula nur aus Geschichten, besonders ihre Mutter ereiferte sich gerne über den alternativen Lebensstil der Tante.

    Die Kälte kroch durch Annas Stiefel. Neben dem Freundschaftshaus war ein großer Kessel mit Glühwein über einer Feuerstelle aufgehängt, es duftete weihnachtlich. Anna stellte sich in die Schlange. Paula, mit der sie zur Schule gegangen war, schmuste mit ihrem neuen Freund; er hatte weißblondes Haar, das ihm über die Schultern reichte, und er war groß. Als er sich umdrehte, schaute Anna für einen langen Moment in hellgrüne Augen. Wie Paula nur zu so einem irren Typen gekommen war!

    »Saukalt«, bemerkte Anna, um irgendetwas zu sagen, und rieb ihre Hände aneinander. Paula schob ihre Nickelbrille hoch.

    »Was machst du jetzt so?«

    »Hab mich für Biologie eingeschrieben.« Anna hüpfte auf der Stelle, ihre Füße waren wie taub. »Und du?«

    »Mathe und Physik auf Lehramt, Tom macht Physik Diplom. Wir gehen im Sommer nach München. Bin froh, wenn ich endlich rauskomme aus diesem Kaff.«

    Ihr Freund trat von einem Bein auf das andere.

    »Ich bleibe hier«, sagte Anna. Sie konnte sich nicht vorstellen, gerade jetzt aus der Oberpfalz wegzuziehen, wo es um die Verhinderung dieser Atomfabrik ging. Und Regensburg war bestimmt kein Kaff. Tom zupfte an seinem Ohrring, ihre Blicke kreuzten sich wieder. Sie kamen an die Reihe; ein paar alte Frauen schöpften den dampfenden Glühwein in Blechtassen. Anna hockte sich mit ihrer Gruppe vor die Hütte und nippte von der heißen Flüssigkeit; der Wein tat ihr gut, er wärmte sie von innen heraus. Sie lachten immer noch über die Witze von Gerhard Polt, der am Vormittag mit der Biermösl Blosn einen politischen Frühschoppen auf der WAAldbühne veranstaltet hatte. Neben ihnen stand ein Grüppchen Profidemonstranten aus Hamburg und Berlin, die mit ihren buntgefärbten Haaren Großstadtflair verbreiteten; ein paar Zimmerleute aus Gorleben waren auch darunter. Paulas Hund schnüffelte an einem WAA-Nie-Transparent und hob ein Bein.

    »Jackie!« Anna lachte und pfiff ihm; er machte kehrt und sprang an ihr hoch. Sein weißes Fell fühlte sich seidig an.

    »Gibt’s hier eigentlich nichts Vernünftiges zum Sitzen?«, maulte Paula und verschwand im Freundschaftshaus.

    Tom ging in die Hocke. »Du magst Hunde?«

    »Alle Tiere«, sagte Anna. »Außer behaarte Spinnen.«

    Sie schnitt eine Grimasse. Er lachte und kraulte Jackie hinter den Ohren.

    »Bin mit drei Huskys aufgewachsen.«

    Passt zu ihm, dachte Anna; sie stellte ihn sich auf einem Hundeschlitten inmitten einer Schneewüste vor.

    »Die Sibirischen?«

    Er nickte. Aus ihrem Augenwinkel betrachtete sie seine Finger, die lang und sehnig waren.

    »Einen Hund wollte ich auch immer haben«, sagte Anna.

    Vor dem Eingang zur Hütte stellte eine Bäuerin ihre mit Lebensmitteln vollbepackte Schubkarre ab. Der Mann, der die Republik Wackerland ausgerufen hatte, nahm die Spende entgegen und verteilte die Sachen.

    »Kennst du den?«, fragte Tom.

    Anna schüttelte den Kopf und biss in ein Stück Stollen; er schmeckte köstlich. Sie winkte der alten Frau zu.

    »Wer ist das?«

    Tom hatte sich einen Apfel genommen und rieb ihn an seiner Jacke.

    »Harald. Schreibt coole Gedichte. Ich mag seine Wortspiele.«

    »Nie von ihm gehört.«

    »Willst du eins hören?«

    »Sag bloß, du kennst seine Gedichte auswendig?«

    Anna beobachtete den Hubschrauber, der ungewöhnlich tief flog. »Glaubst du, die verhaften uns?«

    »Und wenn schon.« Tom zuckte mit den Achseln. »Länger als einen Tag können die uns eh nicht ohne Grund festhalten.«

    Anna schaute zu der geschnitzten Figur hinüber, die eine Tanne umarmte.

    »Vielleicht sollten wir uns zusammen an einen Baum ketten?«

    Sie lachte und wurde rot. Manchmal hätte sie sich selbst für ihre Ideen ohrfeigen können.

    »Bist du in einer BI?«, fragte Tom.

    Anna nickte. »Seit kurzem. Ich häng öfters im Regensburger Infobüro rum, ab und zu auch im Schwandorfer. Je nachdem, wo gerade was läuft.«

    »Hab mir auch schon überlegt, ob ich da mal vorbeischaue.«

    Tom setzte sich auf ein paar Zweige und streckte die Beine aus.

    »Da sollte man schon was machen.«

    »Dachte, du gehst nach München«, sagte Anna.

    Paula tauchte mit einem Strohballen auf und ließ ihn zwischen den beiden fallen. Sie wischte sich die Halme von den Händen.

    »Na?«

    Paula hatte schon immer ein Talent gehabt, in ungünstigen Momenten aufzukreuzen. Sie beugte sich nach vorne und gab Tom einen Kuss.

    Anna verschränkte ihre Arme und starrte vor sich hin.

    Kapitel 3

    Rolf Ferstl hatte die Tageszeitung aufgeschlagen und kaute an seinem Brötchen. Anna schenkte sich Kaffee ein.

    »Du kannst von Glück reden, dass sie dich gestern nicht eingebuchtet haben«, sagte er.

    »Wieso?«, fragte sie erschrocken. »Steht was drin?«

    »Hier: 800 Besetzer sehen sich im Morgengrauen 2000 Polizisten gegenüber. Um elf Uhr beginnt der größte Polizeieinsatz in der Geschichte Bayerns: Die Polizei räumt den Platz, die Besetzer lassen sich wegtragen, etwa vierhundert werden vorläufig festgenommen.« Ihr Vater langte nach seiner Tasse. »Allerlei Verfahren kommen auf sie zu: Teilnahme an einer nichtgenehmigten Demonstration, Nötigung, Widerstand gegen die

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