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Kaktus und Kanarienvogel: Roman
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Kaktus und Kanarienvogel: Roman
eBook239 Seiten3 Stunden

Kaktus und Kanarienvogel: Roman

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Über dieses E-Book

Sophie Heeger führt uns mit ihrer Figur Anna in eine traum­artige Welt, in der eine Frau von nichts bedrängt scheint als von der Organisation einer Reise, die sie selbst "Flucht" nennt. Mehr irritiert uns anfangs nicht, wenn wir ihr nach Venedig, Amsterdam und Paris folgen. In die Wirklichkeit der Reisenden brechen jedoch schon bald Beklommenheit und Schrecken ein und die reisende Frau nimmt einen wandelbaren, unsicheren Boden unter ihren Füßen wahr … Ein Roman über Sprachlosigkeit, vergrabene Erinnerungen, die Brüchigkeit der Wahrnehmung und die Notwendigkeit, sich der eigenen Geschichte zu stellen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Dez. 2019
ISBN9783866382459
Kaktus und Kanarienvogel: Roman

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    Buchvorschau

    Kaktus und Kanarienvogel - Sophie Heeger

    8

    1

    Nie zuvor hatte Anna an Flucht gedacht. Doch an diesem Vormittag war der Gedanke plötzlich da. Wie aus dem Nichts tauchte er auf, gerade als Anna ein Handtuch aufhob, um es in den Wäschekorb zu werfen. Der Gedanke an eine Flucht erschien Anna jedoch fremd, sogar gefährlich, und so schob sie ihn rasch beiseite. Denn weder mochte sie das Fremde noch das Gefährliche. Doch der Gedanke war hartnäckig. Er kam zurück und dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen. Schließlich ging Anna in die Küche, um das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Insgeheim hoffte sie, den Gedanken zu überlisten, indem sie das Zimmer, die Tätigkeit und den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit wechselte. Der Versuch schlug fehl. Der Gedanke blieb beharrlich und machte Anstalten, sich auf Dauer bei ihr einzunisten. So blieb Anna nichts übrig, als sich mit ihm zu beschäftigen. Eine Flucht! Ein rascher Aufbruch! Das Zimmer oder sogar die Stadt verlassen? Und mit welchem Ziel?

    Dass der Gedanke so viele Fragen nach sich zog, verwirrte Anna. Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Soweit sie sehen konnte, war niemand unterwegs. Nur die Alte vom zweiten Stock, die ihre Haare zu zwei dünnen Zöpfen geflochten trug, schlurfte zur Mülltonne. Dort öffnete sie den Deckel, warf eine Plastiktüte mit Restmüll hinein und schaute sich um. Wollte sie sichergehen, dass der Tag hier unten nichts anderes zu bieten hatte als oben an ihrem Fensterplatz? Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und schlurfte zurück zum Haus.

    Anna war so nah an das Fenster getreten, dass die Scheibe von ihrem Atem beschlug; die Konturen der Häuser gegenüber verwandelten sich in graue Schattenbilder. Vielleicht gab das den Ausschlag, vielleicht auch nicht: Ohne weiter nachzudenken, zog Anna feste Schuhe an, band die Schnürsenkel zu einem Doppelknoten und öffnete den Dielenschrank. Sie zog einen Wintermantel mit warmem Futter vom Kleiderbügel und schlüpfte hinein. Dann trat sie vor den Spiegel, fasste ihr krauses Haar im Nacken zusammen und wickelte ein Gummiband darum. Mit beiden Händen strich sie die kurzen Härchen zurück, die als struppiger Heiligenschein von einem Ohr zum anderen zogen; bei passender Beleuchtung strahlten sie golden. Aber diese Art von Beleuchtung gab es selten und so beachtete Anna das Phänomen nicht mehr. Wie sie überhaupt ihr Spiegelbild nicht mehr betrachtete, an das sie sich gewöhnt hatte wie an eine alte Kaffeekanne oder das Sofa im Wohnzimmer. Und so störte es sie auch nicht, dass Physiognomie und Körperform sich nicht an gängige Idealmaße gehalten hatten. Ihre Lippen waren zu üppig, der Mund zu breit und ihre Nase zu lang, mit einen deutlichem Schwung nach oben. Soweit das Gesicht. Aber auch Annas Füße hatten Eigensinn gezeigt und waren selbst nach ihrem achtzehnten Geburtstag weitergewachsen, im derben Leder der Schnürschuhe sahen sie alles andere als zierlich aus. Vielleicht war auch in Annas Innerem etwas zu groß geraten, aber dergleichen war im Spiegel nicht zu sehen. Dem drehte Anna nun den Rücken zu und schob das Portemonnaie in die Tasche des dunkelbraunen Mantels. Die Hose war in einem Braunton wie die Schuhe, wenn auch ein wenig dunkler. Ob eine Flucht in den Wald eine gute Idee wäre? Sie stellte sich einen lichten Buchenwald vor, dazwischen einige Baumstümpfe, umgeben von Tüpfelfarn, Elfenblume und breitblättrigem Stendelwurz. Weshalb nicht? Neben Baumstümpfen fiele ihre Anwesenheit sicher nicht auf. Baumstümpfe bemerkte nicht einmal mehr der Förster, der durch den Wald stapfte, um dicht stehende Buchen oder Kiefern für Holzfällarbeiten zu markieren. Und hätte ein Baumstumpf nicht einiges zu bieten? Ihn hielten kräftige Wurzeln im Waldboden fest, obwohl sein Stamm längst unter dem Kreischen einer Motorsäge in Stücke geschnitten worden war. So hatte er das Werk der Zerstörung bereits hinter sich, wurde von Pilzen, Moos und kleinen Kriechtieren besiedelt und konnte der einsetzenden Fäulnis gelassen entgegen sehen. Wäre das nicht erstrebenswert?

    Einen Moment dachte Anna über derlei nach. Doch sie musste diese Überlegung fallen lassen; in der näheren Umgebung gab es keine einzige Ansammlung von Bäumen, die als Wald bezeichnet werden konnte. Und so verließ Anna die Wohnung ohne ein bestimmtes Ziel. Sie schloss die Tür hinter sich, überprüfte, dass sie fest im Schloss lag und stieg das Treppenhaus hinunter. Es roch nach ranzigem Bohnerwachs.

    Der Tag draußen war kalt, grau. Der feine Nieselregen befeuchtete ihre Wangen. Das verrostete Gittertor neben den Mülltonnen klemmte, sodass Anna es mit einiger Kraft öffnen musste. Dann stand sie auf dem Fußgängerweg. Welche Richtung einschlagen? War eine Richtung besser als eine andere? Während Anna sich umschaute, um Anhaltspunkte für den richtigen Weg zu entdecken, kam ein Mann um die Straßenecke. Er war groß gewachsen, hatte ein offenes Gesicht und steuerte direkt auf sie zu.

    Kannte er sie?

    Obwohl Anna angestrengt nachdachte, konnte sie sich an keine frühere Begegnung erinnern. „Anna", hörte sie den Mann sagen. Doch leider war ihr Name auch das Einzige, das sie verstand. All die anderen Wörter purzelten abgehackt, zerstückelt oder zusammengepresst aus seinem Mund, der sich unaufhörlich öffnete und schloss. Zwar meinte Anna, einzelne Worte herauszuhören, aber der Zusammenhang der Wörter oder gar der Sinn eines Satzes blieben rätselhaft. So schüttelte sie nur den Kopf, schaute zu Boden. Das tat Anna oft, wenn sie etwas nicht verstand oder nicht wusste, was als Nächstes zu tun war. Natürlich war es nicht so, dass der Erdboden oder das darunter Verborgene ihr weiterhalfen; aber es verschaffte ihr eine Pause, in der sie ihre Gedanken sammeln und mit etwas Glück ordnen konnte.

    Der Mann hatte wohl begriffen, dass Anna ihn nicht verstand und bedeutete ihr nun, sich nicht von der Stelle zu bewegen. Dabei schwenkte er einen Wagenschlüssel vor ihrem Gesicht und verschwand hinter der Ecke, hinter der er zum Vorschein gekommen war.

    Wer war der Mann? Ein ehemaliger Klassenkamerad? Ein entfernter Verwandter? Schließlich konnte man nie wissen, auf welchen Kontinent es manche Vorfahren verschlagen hatte. Nachdenklich betrachtete Anna eine Ritze im Gehweg, die sich nach einem halben Meter um das Doppelte verbreiterte. Der Mann war mit einem Wagen gekommen! Dann vielleicht kein anderer Kontinent, sondern nur ein anderes Land in Europa? War die Eisenbahn da nicht ein geeignetes Verkehrsmittel? Diese Überlegung brachte sie unerwartet in eigener Angelegenheit weiter. Fuhren Züge nicht in jede beliebige Richtung? Und konnte man nicht jederzeit aussteigen oder umsteigen? Wenn man diese Vorzüge länger bedachte, war es sicher kein Fehler, die Flucht an einem Bahngleis zu beginnen. Dieser Gedanke gefiel Anna, denn letztlich mochte sie Fehler genauso wenig wie Fremdes oder Gefährliches, und sie versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, wo immer es möglich war. Doch ihr war bewusst, dass sie von Planung und Durchführung einer Flucht nicht die leiseste Ahnung hatte, und natürlich konnte das Fehler zur Folge haben. Aber weder hatte sie etwas Nützliches über Flüchtende gehört, noch gelesen – sie erinnerte sich lediglich an einen Film über die Flucht eines Häftlings von einer Gefängnisinsel. Sie aber stand nicht am Ufer einer Insel, sondern am Straßenrand. Und sie war kein Häftling! Nachdem der Mann hinter der Ecke verschwunden blieb, bewegte Anna vorsichtig ihre Füße. Schließlich hatte der Fremde ihr nicht zu verstehen gegeben, wie lange sie warten sollte. Nichts geschah! Anna bewegte die Füße ein wenig mehr, machte einige Probeschritte nach vorne, dann zur Seite. Wieder geschah nichts, und so beschloss sie, ihre Flucht fortzusetzen. Zum Bahnhof!

    Der war in zwanzig Minuten zu Fuß erreichbar, wenn sie nicht trödelte. Der Weg führte Anna durch einen weitläufigen Park und nachdem sie etwa hundert Meter unter kahlen Baumkronen ausgeschritten war und die winterkalte Luft ihre Brust füllte, wurden ihre Schritte freier. Auch war der Weg asphaltiert und gut zu gehen. Am Ende des Parks kamen ihr Jugendliche entgegen, Rucksäcke auf den Schultern oder Rollkoffer hinter sich her ziehend. Die Jungen boxten sich gegen die Schultern oder schubsten einander vom Weg, die Mädchen folgten in kleinen Gruppen. Ihr Geplapper wurde von fortwährendem Gekicher untermalt, dennoch glaubte Anna Worte wie plaisir, arrivées und soirée verstanden zu haben. Vor langer Zeit hatte Anna etwas Französisch gelernt. Sollte sie Frankreich als Ziel ins Auge fassen? Das Land war groß und bot sicher genügend Ziele. Vielleicht sogar Paris? Doch war es vernünftig, sich so frühzeitig auf ein Ziel festzulegen? Anna sah den Jugendlichen nach, bis sie hinter einer Weggabelung verschwunden waren.

    Bald ließ sie den Park hinter sich, ging an einem Kinocenter vorbei, dann an einer Bushaltestelle, an der keiner wartete, und erreichte wenig später den Bahnhof. Am Fahrkartenautomat löste sie eine Einzelfahrt für Erwachsene und stieg die Treppe hinauf zu Gleis 3. Eine Anzeigetafel informierte die Reisenden darüber, dass die nächste S-Bahn am Frankfurter Airport vorbeifahren würde und über den Hauptbahnhof weiter nach Hanau. Der Flughafen! Anna schaute in den grauen Himmel, der so undurchsichtig war wie die beschlagene Fensterscheibe in der Wohnung, die sie gerade verlassen hatte. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass ein Flugzeug zahlreiche Möglichkeiten zur Flucht bot und der Himmel als dreidimensionaler Raum weitaus mehr Freiheiten als der Boden. Ob sie diese zusätzliche Option für ihr Vorhaben benötigte, wusste Anna nicht, doch sie beschloss, sich alle Möglichkeiten offenzuhalten. Die Bänke im Wartebereich waren besetzt. Anna blieb stehen und wartete mit den anderen Fahrgästen auf die Bahn, die laut Anzeige in zwei Minuten erwartet wurde. Neben dem Gleis war es kalt und zugig. Anna zog den Mantel eng um ihren Körper und wickelte sich den Wollschal in einer weiteren Lage um den Hals. Er war so lang, dass sie ihn sogar um Hals und Kopf binden konnte und damit aussah wie eine russische Bäuerin. Natürlich war es kalt, es war Winter. Und nach dem Tauwetter letzte Woche, das vom Schnee nur schmutzig graue Flecken auf dem Rasen übrig gelassen hatte, waren die Temperaturen jetzt wieder unter Null gesunken.

    Die Bahn fuhr ein. Die Menschen nahmen Taschen, Reisekoffer und Rucksäcke auf und warteten, bis die Türen von aussteigenden Fahrgästen geöffnet wurden. Es stiegen wenige aus, die meisten fuhren weiter in die Großstadt. Anna suchte sich einen Fensterplatz. Von dort beobachtete sie die anderen Fahrgäste, die Gepäck zwischen ihren Beinen abstellten, Stöpsel von i-Pods in den Ohren zurecht schoben, Lunchboxen oder Zeitungen hervorkramten, um sich während der Fahrt die Zeit zu vertreiben. Anna hatte weder das eine noch das andere dabei. Als die Bahn sich in Bewegung setzte, lehnte sie den Kopf an die kalte Fensterscheibe und schaute hinaus. Die Bahn überquerte den Rhein, der träge der Nordsee entgegen floss, grau wie der Himmel und grau wie die Dächer der Stadt, die sie gerade verließ. Während die Landschaft vorbeiglitt, kam Anna der Gedanke, dass ein Tag mit beschlagenen Scheiben, Nebel und grauer Landschaft bestens geeignet war, um unbemerkt zu verschwinden.

    Nach einer guten halben Stunde fuhren sie in den unterirdischen Bahnhof des Flughafens ein. Wieder nahmen die Menschen ihr Gepäck und drängten zu den Türen. Auch Anna stand auf. Sie stellte sich hinter einen jungen Mann mit abgewetztem Rucksack über den Schultern. Auf diesem waren unzählige Wappen befestigt: Kanada, Australien, Südafrika, Norwegen, Brasilien und andere, die Anna nicht kannte. Ein Stoff-Känguru baumelte neben dem australischen Wappen und hüpfte bei jedem Rucken der Bahn auf und ab. Die Türen öffneten sich und der Mann mit dem Rucksack verließ die S-Bahn. Anna folgte ihm.

    Der Fernbahnhof war voller Menschen, die eilten und drängelten. Die meisten trugen Koffer oder Reisetaschen bei sich, und nun erst fiel Anna auf, dass sie lediglich Geldbörse und Hausschlüssel in ihrer Manteltasche hatte. Das war nicht viel für eine Flucht, vor allem wenn sie längere Zeit andauerte! Sollte sie besser umkehren? Aber der Fußboden auf dem Bahnsteig war fest, glatt und ohne Rillen. Also beschloss Anna, sich später über das fehlende Reisegepäck Gedanken zu machen, denn in Bewegung zu bleiben, schien ihr von allergrößter Wichtigkeit. So folgte sie den anderen Reisenden, fuhr mit Rolltreppen nach oben und gelangte durch ein Labyrinth von Gängen, weiteren Rolltreppen, Unterführungen und selbstöffnenden Türen in die Abflughalle. Auch hier gab es Anzeigetafeln, dieses Mal mit Flugnummern und Zielflughäfen. Da gab es Flüge nach Prag, nach Buenos Aires oder Stockholm, jede Himmelsrichtung war möglich. Genauso hatte Anna sich den Ausgangspunkt für ihre Flucht vorgestellt, und für den Moment war sie recht zufrieden.

    Manche Städte kannte sie, doch die meisten klangen fremd und sie konnte nur raten, in welchem Teil der Erde sie sich befanden. Anna wandte sich zu einem Ticketschalter, vor dem ein älterer Herr und eine junge Chinesin warteten. Anna stellte sich hinter die Chinesin. Als sie an der Reihe war, deutete Anna auf eine Werbetafel mit Eiffelturm, die neben dem Ticketschalter aufgestellt war.

    „Nach Paris?", fragte die Dame im dunkelblauen Kostüm.

    Anna nickte.

    „Zweihundertzwanzig Euro! Das wäre der preiswerteste Flug nach Paris!"

    Anna zog ihre Geldbörse aus dem Mantel. Meist hatte sie nur wenig Bargeld zum Einkaufen von Lebensmittel bei sich, größere Beträge zahlte sie mit der EC-Karte. Aber da ihr Konto nicht gerade überquoll, wollte sie lieber vorsichtig mit dem Geld umgehen. So schüttelte Anna den Kopf und schob die Geldbörse in den Mantel zurück. Sie musste dabei traurig oder zumindest enttäuscht ausgesehen haben, denn die Frau am Schalter beugte sich vor und sagte: „Versuchen Sie es doch mit einer Lastminute-Buchung, das ist bedeutend günstiger! Die gibt es im Reisebüro dort oben, auf der Galerie."

    Mit einem Lächeln bedankte sich Anna und machte sich auf den Weg. Das Reisebüro war leicht zu finden, denn in seinem Schaufenster hingen Unmengen farbenfroher Plakate, die Reiseziele auf der ganzen Welt anpriesen. Auf den meisten schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel, darunter säumten Palmen und andere exotische Bäume schneeweiße Sandstrände. Das Meer war türkis, hellblau oder von intensivem Ultramarinblau. Auf einem Plakat fehlten jedoch Palmen und weißer Sand. Es zeigte Geröllwüsten, wild gegen die Küste anstürmende Wellen und vorgelagerte Inseln aus dunklem Granit, darüber ein undurchsichtiger grauer Himmel. Das Plakat warb für eine Reise nach Island. Das Granitgestein gefiel Anna, alles andere nicht.

    In dem Reisebüro saß eine Frau mit kurzen Haaren und spitzem Mausgesicht an einem Schreibtisch. Sonst war niemand zu sehen. Die Frau hatte ihr Eintreten bemerkt und schaute auf. „Guten Tag! Sie möchten noch heute verreisen?"

    Anna nickte.

    „Wohin möchten Sie?" Mit freundlicher Geste wies die mausgesichtige Frau auf den Stuhl ihr gegenüber.

    Anna zog ihren Mantel enger und deutete auf das Plakat mit der hellsten Sonne am Himmel.

    „In ein warmes Land?"

    Wieder nickte Anna und nahm auf dem Stuhl Platz. „Da schauen wir doch mal!, sagte die Frau, schob Anna einen Katalog mit Städtereisen hin und blätterte einige Seiten um. „Casablanca, Madrid, Rom oder Venedig. In Venedig müssten es etwa 14° Celsius sein. Was würde Ihnen zusagen?

    Anna dachte nach. Ein Ziel schien so gut wie das andere, denn sie war weder in Casablanca, Madrid noch jemals in Rom gewesen. Doch einige Flüge waren sicher teurer als andere.

    Anna zog ihr Portemonnaie hervor und schüttelte den Kopf.

    „Verstehe! Annas Gegenüber hatte das Problem erfasst. „Venedig ist am günstigsten. Der Flug kostet zweiundfünfzig Euro, plus Flughafengebühren. Aber es gibt nur noch einen Platz in der Maschine. Sie müssten sich rasch entscheiden!

    Eine Frau in Annas Alter betrat das Reisebüro, gefolgt von einem Mann in hellem Mantel. Anna wollte die beiden nicht zu lange warten lassen, schließlich verkaufte das Reisebüro Lastminute-Flüge, da kam es gewiss auf jede Minute an. Sie entschied sich.

    „Sie nehmen den Flug?"

    Anna nickte und die Frau nahm die Daten auf, um den Flug nach Venedig zu buchen. Dafür hatte Anna nichts weiter zu tun, als ihren Personalausweis vorzulegen und die Geheimzahl der EC-Karte in ein Kartenlesegerät einzutippen.

    Der Mann im hellen Mantel hatte sich auf einem Stuhl an der Wand niedergelassen und eine schwarz eingefasste Brille aufgesetzt. Anschließend nahm er einen Notizblock zur Hand, zog einen Stift aus der Manteltasche und malte einen Kreis. Kurz sah er auf, als ob er prüfen wollte, wie Annas Reisebuchung vorankam.

    „So, bitte sehr. Die Frau reichte Anna eine kleine Mappe mit Reiseunterlagen. „Die Flugtickets liegen ganz vorne, weiter hinten finden Sie einen Reiseführer mit den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Sie lächelte. „Und Sie müssen sich nicht beeilen, ihr Flug geht erst in drei Stunden."

    Anna nahm die dünne Mappe an sich, nickte der Frau zu und verließ das Reisebüro. Vor dem Eingang atmete sie tief ein. Die erste Etappe ihrer Flucht hatte sie hinter sich gebracht, und sie befand, dass es schlechter hätte laufen können. So setzte sie sich halbwegs erleichtert in einen der schwarzen Kunstledersessel, die am Geländer der Galerie beisammenstanden. Die Abflughalle lag zu ihren Füßen wie eine Opernbühne, und die Menschen bewegten sich nach der vorgegebenen Choreographie dieses Ortes. Jeder wusste, wo er sich anzustellen hatte, wo Koffer auf das Förderband gelegt werden mussten und wer Tickets, Pässe oder andere Reisedokumente überprüfte.

    Anna wandte sich ab. Sie klappte die Mappe auf, die sie im Reisebüro erhalten hatte. Ganz oben fand sie ihr Ticket. Mit einer merkwürdigen Erregung, die möglicherweise als Zeichen einer gewissen Vorfreude zu deuten war, strich sie über die glatte Oberfläche des Papiers, auf das eine verwirrende Anzahl von Nummern und Buchstaben gedruckt war. Anschließend nahm sie den Reiseführer zur Hand, betrachtete Bilder vom Canal Grande, der Ponte di Rialto, der Piazza San Marco und zuletzt das Bild eines aneinandergeschmiegten Paares in einer schwarzen Gondel. Die Gondeln von Venedig! Durch Kanäle fahren, auf dunklem Wasser unter niedrigen Steinbrücken hindurchgleiten, an grün bemoosten Mauern und zerfallenden Palästen vorbei!

    „Entschuldigen Sie bitte!"

    Anna blickte auf.

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