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Josephs Tochter: Roman
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eBook750 Seiten10 Stunden

Josephs Tochter: Roman

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Über dieses E-Book

Als Alicia mit achtzehn Jahren entdeckt, dass der von ihr so geliebte Joseph nicht ihr leiblicher Vater ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Sie entflieht ihrer Familie und findet Trost bei ihren Grosseltern und ihrem Freund Michael. Dieser steht unter dem Einfluss Victors, eines skrupellosen Anhängers des Nationalismus, der seine Aggressionen gegen ein rumänisches Gastarbeiterpaar richtet. Liebevoll und präzise beschreibt Alexander F. Stahel die Hintergründe und Personen in diesem Familienroman, der nie an Spannung verliert und den Leser in eine Welt der Liebe und Intrigen, der Hoffnungen und Enttäuschungen führt, aber auch ein spannendes Zeitbild über mehrere Jahrzehnte malt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Nov. 2019
ISBN9783748297277
Josephs Tochter: Roman
Autor

Alexander F. Stahel

Alexander F. Stahel ist in einem Bergdorf in den Glarner Alpen aufgewachsen. Nach Lehr- und Wanderjahren auch im europäischen Ausland arbeitete er während mehrerer Jahre im Verlagswesen, bevor er sich ganz dem Gastgewerbe widmete. Er ist verheiratet und glücklicher Vater von drei erwachsenen Töchtern. Der Westen Irlands ist seine zweite Heimat, wo er die notwendige Inspiration und Ruhe findet, um seine Geschichten zu Papier zu bringen.

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    Buchvorschau

    Josephs Tochter - Alexander F. Stahel

    Das grösste Geschenk

    Sie wusste ganz genau, wie ihre Mutter ausgesehen hatte. Nicht vom Hochzeitsfoto, das in einem einfachen, geschnitzten Rahmen im Wohnzimmer hing, nicht vom Bild in Jophs Geldtasche, leicht zerknittert und mit seinem Gelbstich doch die Fülle kastanienbraunen Haares wiedergebend, die vollen roten Lippen, in ihrem Lachen hoch über die ebenmässigen Zähne gezogen. Nein, sie kannte ihre Mutter aus den unzähligen Geschichten, die ihr Vater ihr erzählte, unterwegs im Auto, auf ihren Spaziergängen in den Hügeln und entlang des Flussufers, auf der Bank vor den wärmenden Kacheln des uralten grünen Ofens, vor dem Schlafengehen. Sie wusste, dass ihre Mutter über sie wachte, ihr zusah, sie begleitete, Tag und Nacht. Sie wusste auch, dass sie ihrem Vater fehlte, hörte es in seiner Stimme, wenn er von ihr sprach, zärtlich, mit einer Sehnsucht, die ihn durch sie hindurchblicken liess, in dieses ferne andere Land, wo ihre Mutter nun lebte.

    Mary habe sie ihrem Vater zum Abschied geschenkt, als Erinnerung und als Aufgabe, bevor sie ihn verlassen musste – das grösste Geschenk, das sie ihm hatte machen können. Alicia verstand nicht genau, weshalb Marys Körper ihre Mutter nicht mehr hatte halten können. Zuweilen träumte sie, wie ihre Mutter gebeten hatte, bei ihrem Mann und dem Neugeborenen bleiben zu dürfen, wie eine ferne Stimme sie rief, lockend und doch keine Widerrede duldend, und wie ein Engel aus diesem von vollen roten Lippen umrahmten Mund gegen den Himmel stieg, weinend um den Körper, den Mann und das Kind, die zurückbleiben mussten.

    Der Traum liess sie traurig und hilflos erwachen und wenn ihr Vater zu Hause war, huschte sie durch den Gang, der ihr nach der Dunkelheit ihres Zimmers im flackernden Licht der Kerze im Dachfenster hell erleuchtet schien, kletterte in sein Bett und schmiegte sich eng an seinen Rücken – als Trost für ihn und um ihre eigene Leere zu füllen, ihre Sehnsucht nach menschlicher Nähe zu stillen. Erwachte er, so drehte er sich um und nahm sie in seine Arme und mit ihrem Kopf in der wärmenden Kuhle zwischen Hals und Schulter, die rauen Stoppeln seines Bartes an ihrer Wange, fiel sie schliesslich wieder in einen tiefen, von Träumen ungestörten Schlaf. Das Weinen des Engels klang auch am Morgen noch in ihr nach.

    Doch eigentlich konnte sie nicht sagen, dass sie ihre Mutter vermisste. Wenn sie mit Joph einkaufen ging, durfte sie vorne im Wagen wie auf einem Kutschbock thronen; am Elternabend, als alle Mütter gebeten wurden, für ihr Kind aus Ton etwas zu formen, das denselben Anfangsbuchstaben trug wie der Vorname ihres Kindes, hatte ihr Vater für sie einen kleinen, graubraunen Adler aus Ton gebastelt, mit grossem gelbem Schnabel und schwarzen Krallen und ausgebreiteten Schwingen. Kam sie am Abend mit zum Bersten vollem Herzen nach Hause, hörte Joseph ihr geduldig und mit offensichtlichem Interesse zu, wusste die Namen ihrer Freundinnen und wer sich gerade mal wieder durch besonders abscheuliches Verhalten ausgezeichnet hatte – wie Celine, die sich mit ausgesprochen klugen Antworten beim Lehrer beliebt machte, wo doch jeder wusste, dass sie den Fragebogen mitsamt den Lösungen in der kleinen Pause kopiert hatte. Und war Alicia zu einem Geburtstag eingeladen, konnte sie einen selbstgemachten Kuchen mitbringen, der keinen Vergleich mit jenen zu scheuen brauchte, die die Mütter ihrer Freundinnen gebacken hatten. Selbst ihre Frisuren waren nicht weniger kunstvoll als die der anderen Mädchen; mal trug sie ihr Haar in kunstvollen Zöpfchen um den Kopf geschlungen, mal fiel es in langen, schwarz glänzenden Wellen über ihre schmalen Schultern, während ein bunter Reif die Stirn frei hielt – ihr Vater legte grossen Wert darauf, dass sie auch wie ein Mädchen aussah, sein Mädchen. Nur was die Kleiderwahl betraf, gingen ihre Meinungen schon früh auseinander – er hätte sie am liebsten nur in langen, weiten und farbenfrohen Kleidchen gesehen, mit Rüschen und Spitzen, während sie die Vorliebe ihrer Freundinnen für enge Stretchhosen und lose Pullis teilte. Meist ging sie als Siegerin aus solchen Streitigkeiten hervor, während sich ihr Vater vor sich hin grummelnd mit dem Anbringen eines besonders fantasievollen Ohrhängers begnügte – dem mit vielfarbigen Federn geschmückten, kunstvoll verzierten Ring vielleicht, der an einen indianischen Traumfänger erinnerte und den sie einst von einer seiner Bewunderinnen geschenkt erhalten hatte.

    Oh ja, natürlich gab es da noch andere Frauen in seinem Leben. Nicht alle trafen auf Alicias ungeteilte Zuneigung, obwohl sie ihrem Vater durchaus einen akzeptablen Geschmack zugestehen musste. Manchmal stellte sie sich vor, dass eine dieser Frauen ihre Mutter wäre; Lisa zum Beispiel, die die gleichen glänzend schwarzen Haare wie sie hüftlang trug und deren von blassblauen Adern durchzogene durchsichtig-helle Haut beim ersten Sonnenstrahl Sommersprossen produzierte wie feuchtes Weissbrot Schimmelpilz. Wie sie Alicia zur Schulaufführung begleitete, begeisternd klatschen bei ihrem Auftritt und sie danach in ihre Arme schliessen und an ihren Busen drücken würde, der auch mitten im Winter nach Frühlingsblumen duftete und ein klein wenig nach Frauenschweiss. Wie sie ihr die kompliziertesten Mathematikaufgaben an einem einfachen Beispiel erläuterte – im Gegensatz zu ihrem Vater, der bei solchen Gelegenheiten so willig wie fruchtlos Papier um Papier vollkritzelte, verstand Lisa tatsächlich etwas vom Rechnen und verdiente damit ihr Brot bei einer grossen Treuhandfirma. Alicia hing solchen Träumereien nie länger nach, es waren für sie nicht mehr als Gedankenspiele, denen keine wirkliche Notwendigkeit, nicht einmal wahre Sehnsucht zugrunde lag.

    Und da war noch Debbie, eine kleine, schmale und scheue Rothaarige, die sich ständig zu entschuldigen müssen glaubte. Joseph hatte ihr im Laden ausgeholfen, als das Gerät an der Kasse sich trotz der bedrohlich langen Schlange wartender Kunden hartnäckig geweigert hatte, ihre Karte zu erkennen. Mit rotem Gesicht Entschuldigungen murmelnd, räumte Debbie ihre Einkäufe zurück in den Wagen, bevor Joseph mit einem zerknitterten Hunderter aus seiner Hosentasche den Schaden beglich. Seither war Debbie öfter zu Gast bei ihnen und manchmal vertraute Joph Alicia der Obhut Tante Annas an, der Nachbarin, die auch im Gästezimmer schlief, wenn er es nicht nach Hause schaffte und bei Arbeitskollegen, im Hotel oder auch mal im Auto zu übernachten gezwungen war. Ging er mit Debbie essen, ins Kino oder ins Theater, war er zum Frühstück immer wieder zu Hause, ohne dass Alicia zu sagen wusste, wann er gekommen war. Bei solchen Gelegenheiten übernahm sie stolz und gewissenhaft die Pflicht, beim Eindunkeln die Kerze im Dachfenster anzuzünden – «Wenn jemand kein Bett hat, um darin zu schlafen, zeigt ihm das Licht, dass er hier willkommen ist», hatte ihr Vater sie gelehrt.

    Debbie hatte einen ausgesprochen romantischen Geschmack, was Musik und Filme anging, und ihr Vater entlockte Alicia mit rollenden Augen und seinem verzweifelt komischen Blick ein unbeherrschtes Kichern, wenn er zu einer Reprise von «Love Story» eingeladen war oder Debbie ihn zur Aufführung der «grössten Liebeslieder unseres Jahrhunderts, gespielt vom Philharmonischen Orchester», entführte. Im Gegensatz zu Lisa blieb Debbie nie über Nacht.

    Joseph

    Joseph hatte Zimmermann gelernt, einen Beruf, der seiner Familie, die einen kleinen Bauernhof im hügeligen Hinterland bewirtschaftete, als rechtschaffen und ehrbar erschien. Mit seinen breiten Schultern und einer Grösse von über einem Meter achtzig schon als Siebzehnjähriger brachte er die notwendigen Voraussetzungen mit, hatte auf dem elterlichen Hof bereits in jungen Jahren die Verantwortung für alle Reparaturen mit und am Holz übernommen, angeleitet und unterstützt von Onkel Hans, dem Bruder seines Vaters. Onkel Hans hatte keine eigene Familie und wohnte bei ihnen auf dem Bauernhof, wo er sich als Mädchen für alles betätigte und neben der Pflege der Tiere auch einen nicht unwesentlichen Anteil an Erziehungsarbeit bei Joseph und seinen Geschwistern leistete. Im Gegensatz zu Josephs Vater nahm er regen Anteil am Leben der Kinder, war ihnen Onkel, Vater und Bruder zugleich. Er war es auch, der für Joseph die Lehrstelle auf einem modernen, gut ausgerüsteten mittelgrossen Betrieb gefunden hatte, einem Betrieb, wo er vor vielen Jahren selbst mitgeholfen hatte.

    Für Joseph war es die erste Zeit in seinem Leben, die er nicht zu Hause verbrachte; die Zimmerei lag gute fünf Fahrstunden vom heimatlichen Hof entfernt, und so blieb er während der Woche, und immer öfter auch an den Wochenenden, wo die Firma bei allerlei Ausstellungen und Messen über die Landesgrenzen hinaus präsent war, bei der Familie des Betriebsinhabers.

    Dieses Arrangement bereitete ihm zunächst einige Mühe; er vermisste die Geschwister, seinen Hund Ezra, seine Mutter und Onkel Hans, wenngleich Letzterer ihn öfter besuchte, um mit Seufzen festzustellen, dass zu seiner Zeit, als der Vater des jetzigen Inhabers noch das Sagen gehabt hatte, ganz andere Sitten geherrscht hätten. Doch den Stolz über die wachsende Firma und seinen fähigen Neffen vermochten diese melancholischen Klagen nicht zu übertünchen.

    Josephs Vater kam in den ganzen drei Jahren nie zu Besuch, zu sehr beanspruchte ihn der Jahreslauf des Bauernbetriebes, und da er das Aufwachsen seiner Kinder immer nur mit geringem Interesse und wenig Einsatz verfolgt hatte, störte sich Joseph nicht daran.

    Obwohl Joseph die Anforderungen der berufsbegleitenden Schule mehr schlecht als recht erfüllte – vor allem die unumgänglichen Berechnungen bereiteten ihm auf dem Papier beachtliche Schwierigkeiten –, betraute ihn sein Vorgesetzter mit immer komplizierteren Aufgaben. Die Zimmerei spezialisierte sich auf Massivholzbauten und solche im Verbund mit anderen Materialien wie beim Riegelhausbau, komplizierte und kostspielige Konstruktionen für meist gut situierte Auftraggeber. Neben Josephs nie endendem Arbeitswillen zeigte er schon während seiner Lehrzeit eine besondere Begabung, schwierige Aufgaben einfach zu lösen, sei dies der knifflige Ersatz eines über die Jahrhunderte morsch gewordenen tragenden Balkens in einem geschützten Gebäude oder der von einem mit mehr Fantasie als Sinn für die Realität ausgestatteten Architekten vorgegebene Zusammenschluss zweier Gebäudeteile eines Neubaus an exklusiver Lage. Daneben verfügte er über einen siebten Sinn, was die Holzqualität betraf, und wies so öfter ein angeliefertes Bauteil zurück, das seiner Ansicht nach nicht über die erforderliche Stabilität oder Ästhetik verfügte. Trotz weniger Klagen schätzten seine Vorgesetzten diese Gabe und wenn besonders anspruchsvolle Arbeiten oder besonders anspruchsvolle Kunden anstanden, war es nun meist der mittlerweile zwanzigjährige Joseph, der die Federführung übernahm. Auch nach Abschluss seiner Ausbildung blieb er dem Lehrbetrieb treu; ein Salär, das seinen Fähigkeiten entsprach, erlaubte es ihm, in eine Dachwohnung im nahen Dorf zu ziehen.

    Neben seinen Arbeitskollegen, mit denen er eine herzliche, wenn auch nicht enge Beziehung pflegte, und der Familie des Betriebsinhabers, die ihn mittlerweile zu ihresgleichen zählte, hatte Joseph kaum Freunde. Das lag vor allem daran, dass er weder die Zeit fand noch es für notwendig hielt, ein Sozialleben ausserhalb seiner Arbeitswelt aufzubauen. Natürlich begleitete er seine Kollegen am einen oder andern Freitag in den «Adler» oder den «Ochsen», um bei einem Most oder Bier die Woche zu beschliessen, doch war er meist der Erste, der den Tisch verliess und sich unter dem gutmütigen Gehänsel der andern auf den Heimweg machte. Er genoss das Gefühl des Losgelöstseins und eine ihm sonst unbekannte Redegewandtheit, die der Alkohol hervorrief, mied aber unbewusst die kühne Selbstüberschätzung, die trunkenen Neckereien und Anspielungen, die der Genuss einer nicht enden wollenden Reihe alkoholischer Getränke bei seinen Freunden bewirkte. So verbrachte er die meisten Abende im Schaukelstuhl vor dem Kachelofen beim melancholischen Klang der Country-Lieder von Kris Kristofferson, Willie Nelson und Johnny Cash, während er in einem Heft blätterte oder einem Fachband; er brachte selten die Ausdauer auf für ein grösseres romantisches oder auch noch so spannendes Buch.

    War am Wochenende nicht gerade eine Ausstellung angesagt, verband er die zwei Leidenschaften, die er neben seiner Arbeit hegte, setzte sich in seine 1972er-Celica und fuhr auf verschlungenen, stetig schmaler werdenden Strassen durch die bewaldeten Hügel, bis die Buchen Haselsträuchern Platz machten, sich sachte im Wind wiegenden Fichten und schliesslich einer baumlosen Hochebene mit Beerensträuchern und moosüberwucherten Kalksteinen. Hier liess er die Celica mit einem liebevollen Klaps auf das zitronengelbe Dach stehen, um erst nach stundenlangem Klettern über die Spalten der Kalkfelsen und durch Brombeer- und Heidelbeerbüsche erschöpft, zerkratzt, aber glücklich wieder in den engen Sportsitz des bejahrten japanischen Coupés zu sinken.

    An den langen, warmen Sommerabenden fuhr er zuweilen zum nahegelegenen See, einem Weiher wohl eher, in einer Waldlichtung gute dreissig Autominuten vom Dorf entfernt – gerade so weit, dass er ihn, ausser an wirklich sonnenverwöhnten Wochenenden und während der Schulferien, mit kaum jemandem zu teilen brauchte. Die eher geringe Beliebtheit als Badesee verdankte der Teich wohl auch dem Umstand, dass seine Ufer zu drei Vierteln mit Schilf überwachsen waren und die grossen, grüngelben Seerosenblätter auf der Wasseroberfläche allerlei Lebewesen Unterschlupf boten – nicht alle auf den ersten Blick so einnehmend wie die eleganten Schwaneneltern mit ihrer fünfköpfigen flaumigen Brut.

    Es war ein solcher Abend im Juli, bereits tanzten die Mücken in dichten Schwärmen über die im späten Sonnenlicht dunkelblau schimmernde Wasseroberfläche, als er das Mädchen zum ersten Mal sah. Er hatte sich eben seiner Kleider entledigt und testete vorsichtig die Wassertemperatur mit den Zehen seines linken Fusses, als mit leichtem Plätschern und unter befreitem Aufatmen ein Kopf neben den weissgelben Seerosenblüten auftauchte, die Locken über den sonnengebräunten Schultern dunkel vor Nässe, die Augen geschlossen und mit Wasserperlen geschmückt, während ein breiter, mit gleichmässigen Zähnen bestückter Mund den Atem mit leise japsenden Geräuschen ausstiess. Er verharrte, den einen Fuss im Wasser, die spitzen Enden des gebrochenen Schilfes am Uferrand schmerzhaft die Sohle des anderen durchbohrend, während er mit schierer Gedankenkraft seine an einem wenige Meter vom Seeufer entfernten Busch hängende Hose an seine Beine zu beschwören versuchte.

    Das Mädchen tauchte erneut, nach einem tiefen, hörbaren Luftzug, um erst einige Meter tiefer im See wieder prustend aufzutauchen und mit kräftigen, zielsicheren Zügen in die entgegengesetzte Richtung zu schwimmen, wobei es darauf bedacht war, seinen Kopf mit den rotgoldenen Locken trotz der engagierten Schwimmzüge über Wasser zu halten. Jeder Stoss hob die kräftigen Schultern einen kurzen Moment über die im Sonnenlicht glitzernde Oberfläche und liess einen langen, geraden Rücken ahnen. Joseph hatte das schmerzhafte Stechen an seiner Fusssohle ebenso vergessen wie den fehlenden Lendenschutz, als die Schwimmerin nach einem grossen Oval durch den unteren Teil des Weihers schliesslich neben den Seerosen wieder Boden unter den Füssen fand und sich vorsichtig dem Ufer entgegentastete. Sie richtete sich auf, neigte den Kopf seitwärts, um mit beiden Händen ihr Haar auszuwringen, was Joseph einen atemlosen Blick auf die anmutige Rundung eines gebräunten Bauches um den ovalen Nabel und die vollen, mit grossen braunen Höfen geschmückten weissen Brüste darüber gewährte, bevor sie hinter dem sich im Abendwind leise wiegenden Schilf verschwand.

    Joseph verharrte wie angewachsen in seiner unbequemen Stellung am Seeufer, während tausend Gedanken völlig zweck- und ziellos durch seinen Kopf schwirrten. Erst der knatternde Klang eines Motors von der anderen Seeseite vermochte ihn aus seiner Trance herauszuholen. Doch auch ein erfrischendes Bad im ruhigen und noch immer angenehm warmen Wasser des Teiches brachte nicht den erwünschten Effekt, vermochte seine Gedanken nicht zur Ordnung zu rufen. Im Gegenteil, jede Welle beschwor das Bild des dunkel gelockten Kopfes aufs Neue hervor, die kräftigen, runden Schultern, die Bewegungen des Mädchens, wie sie ihre Haare vom Wasser befreite…

    Die folgenden Tage verliefen wie in einem Traum; automatisch erledigte er seine Arbeit, seine Beiträge an den täglichen Besprechungen waren zwar nicht weniger treffend, aber noch seltener als gewöhnlich. Das Mädchen ging ihm nicht aus dem Kopf, und wenn er das Abendessen zubereitete, ertappte er sich beim wenig melodiösen Summen melancholischer Balladen. Das Wetter blieb warm und trocken, zweimal hatte er am späten Abend den See aufgesucht, nur um beim zweitenmal von einer Gruppe übermütiger Teenager in die Flucht getrieben zu werden – er hatte seinen Teich doch lieber für sich selbst – oder?

    Am Sonntag Abend war sie da. Zuerst sah er den Roller, den grün-weiss-rot gestreiften Helm am Lenker und zwei grosse lederne Satteltaschen über die Kotflügel gespannt. Vielleicht dreissig Meter weiter unten, am zum See abfallenden Ufer und unter den weit ausladenden, die Wasseroberfläche berührenden Ästen einer Trauerweide, sass sie auf einer ausgebreiteten Jeansjacke, die gebräunten Beine in knielangen gelben Shorts, die kastanienbraunen Locken über nackte Schultern fallend, deren glänzendes Kupferrot mit dem ärmellosen grünen Top kontrastierte. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen der Sonne entgegengehoben, deren Strahlen gerade noch über den Baumwipfeln im Westen den Boden der Lichtung erreichten.

    Er bemühte sich, möglichst viel Unterholz geräuschvoll unter seinen Schritten zu zerstören; keine einfache Aufgabe angesichts der leichten, offenen Schuhe, die seinen Füssen kaum Schutz boten.

    «Schön ist es hier, nicht?» Seine Stimme klang heiser, flach und leise, er räusperte sich, um seine Stimmbänder vom hindernden Belag zu befreien. «Hchchmm… Sind Sie auch zum Baden hier?»

    «Ah, hallo! Ja, einer meiner Lieblingsorte, besonders jetzt, am Abend. Ich bin so gerne ungestört, find einfach viel zu wenig Zeit für mich.»

    Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Natürlich, auch sie wollte lieber alleine sein. Er räusperte sich wieder. «Oh. Ja, klar. Deshalb bin ich ja auch hier, sorry, ich wollte nicht…»

    «Nein, nein, so war das nicht gemeint!» Ein leises Lachen, mehr am Leuchten der dunkelbraunen Augen zu sehen, denn ihrer Stimme anzuhören, machte ihn noch verlegener. «Ich hab auch ganz gern Gesellschaft, wenn sie von mir nichts verlangt. Ja, ich komme öfter hierhin zum Schwimmen; das Wasser ist sauberer als bei uns im Schwimmbad und ich brauche keine Angst zu haben, von so einem Möchtegerntarzan vorzeitig ins Jenseits befördert zu werden. Und für mich ist’s nur eine kurze Fahrt hier hinaus – Emma sei Dank!» Sie wies mit dem Kinn Richtung Roller.

    «Ja, so was hätte ich auch immer gerne gehabt. Aber bei unserem Klima habe ich mich dann doch für ein Dach über dem Kopf entschieden.» Vorsichtig liess er sich neben ihr auf den Waldboden sinken. «Mein Wagen steht da drüben»; er wies mit der Linken vage gegen Norden, wo die Celica in gefährlicher Schräglage am Wiesenrand parkierte, während er sich mit der Rechten auf dem moosigen Untergrund abstützte. «Wie ist das Wasser?»

    «Nass.» Wieder dieses Lächeln, begleitet diesmal von amüsiert hochgezogenen, ungezupften Augenbrauen. «Um der Wahrheit die Ehre zu geben: ich war noch gar nicht drin heute. Die Sonne hat mich aufgehalten.» Die so Angesprochene hatte sich inzwischen diskret hinter die Baumwipfel zurückgezogen und nur die tanzenden Funken auf der vom Abendwind sachte bewegten Wasseroberfläche verrieten, dass sie den Tag noch nicht ganz aufgegeben hatte. «Aber wenn Sie mich so fragen…» Und mit drei, vier raschen Bewegungen war sie aus Shorts und Hemd geschlüpft und trieb bereits im Teich, bevor Joseph auch nur aufgestanden war. Mit einiger Erleichterung – und fast ebenso grossem Bedauern – registrierte er, dass sie diesmal einen Badeanzug trug, ein trägerloses schwarzes Oberteil, das mit einem Stoffband und einem grossen Messingring mit dem eingeschnittenen roten Slip verbunden war. Er schlüpfte aus seinen Slippern und dem T-Shirt und liess sich ins noch sonnenwarme Wasser gleiten, wo ihn ein Gischtschauer empfing, mit so viel Eifer wie Zielsicherheit von den wild strampelnden bronzefarbenen Beinen seiner neuen Bekanntschaft produziert.

    Nach einem ausgiebigen Bad kletterten sie nass, erschöpft und glücklich zurück ans Ufer. Sein Herz machte einen kleinen, unmotivierten Hüpfer, als sie den Kopf zurückwarf, ihr Haar mit beiden Händen umfasste und das restliche Wasser herauswrang. Ihre Zähne blitzten hell, wenn sie beim Lachen die vollen Lippen bis unter die Nasenspitze heraufzog, und ihre Augen waren von einem dunklen, tiefen Braun, fast schwarz schon, und von langen, rötlichbraunen Wimpern beschützt.

    «Ich heisse übrigens Mary – Maria-Anna eigentlich, was immer sich meine Eltern dabei gedacht haben!» Nachdem sich auch Joseph vorgestellt hatte – «Weymuth, Joseph Weymuth» – «Wirklich? Wie Wermut?!», und wieder dieses Lachen –, liessen sie sich auf ihrer behelfsmässigen Liege am Waldboden vom wärmenden Abendwind trocknen. Die Sonne hatte sich längst hinter die Hügelketten zurückgezogen, als sie in ihre Kleider schlüpften und Abschied nahmen. Noch nie, so schien es Joseph, hatte er so viel geredet, so wenig gesagt und eine solche Menge unermesslich Wichtiges ausgelassen. «Komm doch nächsten Mittwoch mal in die Stadt, im Capitol läuft der neue Film mit Robin Williams, den würd ich mir gerne ansehen. Um halb acht im Café Capitol? Vielleicht kriegen wir nachher noch was zu essen!» Es waren noch drei unendlich lange Tage bis Mittwoch.

    Sie trafen sich meist in der Stadt, bei einem Film oder zum Eisessen, und das milde Sommerwetter liess es zu, dass sie an zwei weiteren Sonntag Abenden den Teich im Wald besuchten. Wochen vergingen, bevor Joseph den Mut aufbrachte, sie zum Abendessen einzuladen. Da das «Santa Lucia» am Weg zu seinem Dorf lag, schien es nur natürlich, ihr in seiner Dachwohnung eine Tasse Kaffee anzubieten, zumal das Restaurant, trotz des sonst weitgehend eingelösten Anspruches original italienischer Küche, in diesem Punkt jämmerlich versagt hatte und sie den bestellten Espresso nach dem ersten Schluck ohne Bedauern ungetrunken kalt werden liessen.

    Sein Versuch, die Haustür zu öffnen, stiess auf unerwarteten Widerstand und erst als nach wiederholtem und entschlossenem Drücken ein unwirsches «Augenblick, bin gleich soweit!» von der anderen Seite erklang, gewahrte er durch das dicke Sicherheitsglas die ausladende Form Anna Webers, die sich mit einem Korb voller Wäsche rückwärts ihren Weg von der Kellertreppe am Eingang vorbei zu ihrer Wohnungstür bahnte.

    «Anna, guten Abend! Was machst du denn da?» Er legt seine Hand auf Marys Schulter. «Darf ich vorstellen: dies ist Mary Stein – Anna Weber, meine Nachbarin.»

    «Der einzige Moment, wo man in diesem Haus Zeit findet, seine Wäsche zu waschen», brummte die kleine, stämmige Frau, wobei die Lachfalten in ihren Augenwinkeln den vorwurfsvollen Ton Lügen straften. «Deshalb also ist er nie zu Hause! Geben Sie Acht, Sie sind das erste weibliche Wesen, das ich hier gesehen habe!»

    «Kann ich Ihnen damit helfen?» Mary entwand den Wäschekorb den von dicken blauen Adern durchzogenen Händen und ging damit in Richtung der offenen Wohnungstüre.

    «Danke, stellen Sie ihn einfach da rechts auf den Küchentisch.» Anna drehte sich zu Joseph und drückte kurz und energisch seine Hand, «Gut gemacht, Junge, endlich!»

    «Einen schönen Abend noch», rief Mary über ihre Schulter, als sie dem aus unerfindlichem Grund rosa angehauchten Joseph die sich windende Holzstiege hinauf folgte. «Freundliche Nachbarn hast du! Sie ist offensichtlich um dich besorgt.» Joseph brummte etwas Unverständliches; es klang nicht freundlich.

    Der Kaffee aus der mit glänzenden Metallteilen verzierten roten Kolbenmaschine erfüllte den Standard, dem das italienische Restaurant nicht gerecht zu werden vermocht hatte, und Joseph verfolgte mit stillem Schmunzeln, wie Mary zwei grosse Brocken braunen Kandiszuckers in ihrem doppelten Espresso versenkte. Sie suchte aus dem Stapel altertümlicher Vinylplatten eine Sammlung klassischen Jazz hervor und setzte gekonnt den Tonabnehmer in die Rillen, während er den Küchenschrank vergeblich nach einem Likör durchsuchte und schliesslich mit einer unangebrochenen, bauchigen Flasche Portwein und zwei kleinen Kristallbechern zurückkehrte. Während aus den grossen Lautsprechern im Büchergestell die Klänge von «Moonshine Serenade», «In the Mood» und Satchmos «What a Wonderful World» den Raum in eine gelöste, beschwingte Stimmung tauchten, erzählte er von seiner Kindheit auf dem Bauernhof, von einem Vater, den er kaum kannte, mit wachsender Begeisterung von den Schwierigkeiten bei der Renovation einer ganzen Reihe Riegelbauten, die seine Firma in Angriff genommen hatte. Mit grosser Hingabe und einigem Talent mimte sie ihre Freundin Charlotte, wie diese während des Wochenendes in Paris verzweifelt unauffällig versucht hatte, Mary für einige Stunden loszuwerden, um dem hübschen französischen Maler im gemeinsamen Hotelzimmer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen zu können. Ihre Begeisterung schwand, als sie von ihrem Arbeitsalltag im Verkaufsbüro einer grossen Elektrofirma erzählte, von den versteckten Seitenhieben ihrer Mitarbeiterinnen und einem unsensiblen, naiven und von sich selbst überzeugten Vorgesetzten.

    Die Couchkissen hatten eine Tendenz, gegen die Mitte des Sofas zu rutschen, so dass sich sein linkes Bein mit einem Mal an die kräftige Rundung ihres rechten Oberschenkels gepresst fand und sein Arm, Halt suchend, über ihre Schulter zu liegen kam. Ihre langen, schlanken, mit blassrosa lackierten Nägeln geschmückten Zehen streichelten seinen bestrumpften Fuss und seine Hand war irgendwie unter die rote Bluse gerutscht und fand sich auf ihrer nackten Schulter wieder. Sie legte ihren Kopf an seinen Hals und er atmete tief den Duft ihrer Haare ein, die sich in einem ungeordneten kastanienbraunen Knäuel um seine Nase bauschten. Mit der linken Hand spürte er die Nässe ihrer Achselhöhle, das dichte, weiche Haar. Unauffällig reckte er das rechte Bein, um seinem Schritt ein wenig Raum zu verschaffen. Als sie ihre leicht geöffneten Lippen seinem Mund zuwandte, spürten die Finger seiner linken Hand das feste und doch so nachgiebige Fleisch einer runden Brust, die unendlich aufregenden Erhebungen des Hofes und fanden schliesslich die angeschwollene Knospe ihrer Brustwarze.

    Er hatte noch nie so intim den Körper einer Frau berührt und die Gerüche, der Geschmack, das Gefühl ihrer verborgenen Geheimnisse trieben ihm das Blut in fordernden Wellen in Kopf und Unterleib. Seine Zunge liebkoste das Innere ihres Mundes, traf die ihre, suchend und feucht. Mit seinen Lippen umfasste er die kirschgrosse Brustwarze, erkundete die kleine Spalte darin, bevor sie ihm ungeduldig die andere darbot. Seine Hände fühlten die runde Weichheit ihrer Backen und folgten atemlos der Spur, die die Nässe zwischen ihren Beinen hinterliess, umfassten die von krausem Haar geschützten geschwollenen Lippen, ertasteten das rote, mit einem feuchten Film ausgekleidete, erwartungsvoll offene Fleisch. Sie führte ihn, als er schliesslich in sie eindrang, hielt ihn zurück, drückte sein Glied und die nun pralle, weiche Hauttasche, die seinen Samen barg, spielte mit ihm, während sich ihre Zähne in seinen Hals und seine Schulter gruben. Als sich die Spannung entlud und er hilf- und haltlos seinen Körper ihr entgegendrängte, umfasste sie ihn mit ihren Schenkeln, während er sein Gesicht an ihren Hals gedrückt hielt, die weiche Rundung ihrer Brüste unter seinem Kinn und den Geschmack ihrer Lust auf seinen Lippen.

    Maria

    Als einziges Kind nicht mehr junger Eltern genoss Maria-Anna nicht nur ein in jungen Jahren angenehmes Mass an Zuneigung, sondern auch finanzielle Freiheiten, die jene ihrer Spielkameradinnen weit übertrafen. So trug sie schon in der Spielgruppe glänzende rosa Lack-Schühchen, passend nicht nur zum aus Merino-Wolle in einem anderen Erdteil gestrickten Jäckchen, sondern ebenso zur Minny-Maus-Tasche, wohlgefüllt mit süssen Feigen, Schokolade und einer speziellen Art pappigen schwarzen Brotes, mit dem sie jeweils die Spatzen auf dem Schulhof fütterte. Mit vier Jahren erhielt sie die ersten Reitstunden, nicht auf Myriams Ponyhof, sondern in der wenige hundert Meter davon gelegenen Anlage, wo sich professionelle Reiter mit grossen, eleganten Pferden auf den Concours vorbereiteten. Ihr eigenes Pony, eine beige Connemarastute mit schwarzen Fesseln, ebensolcher Mähne und Schweif und einem dunklen Aalstrich vom Widerrist zur Kruppe, hörte auf den Namen Moira und zeigte ansprechendes Talent und ein grosses Herz bei jeder Art Hindernis, wenn sie auch in den Augen von Fabienne, der Reitlehrerin, mit ihrem unberechenbaren Temperament nicht unbedingt geeignet war für ein Kind in Marias Alter. Doch ihr Vater hatte sie selbst im Nordwesten Irlands ausgesucht, zureiten lassen und, um ihr einen langen und anstrengenden Weg im Anhänger zu ersparen, mit dem Flugzeug nach Hause gebracht. Maria belohnte seine Mühe mit grosser Begabung und unbändiger Freude am Reitsport und bevor sie richtig lesen konnte – was sie als nicht übermässig notwendig befand –, brachte sie ihre ersten Rosetten und Medaillen von verschiedenen kleineren, regionalen Anlässen nach Hause.

    Trotz bescheidenen Engagements tat sie sich leicht im Unterricht und die einzige wohlwollende Kritik, die ihre Klassenlehrerinnen während der ganzen dreizehnjährigen Schulzeit in den halbjährlichen Elterngesprächen an der Musterschülerin übten, betraf ihre Tendenz, sich von den Mitschülern abzugrenzen. Als Einzelkind gewohnt, sich mit sich selber zu beschäftigen, suchte Maria auch in den Schulpausen nur selten die Gesellschaft anderer und bei Teamprojekten zog sie es vor, ihr Teil alleine zu erledigen und das fertige Resultat in die Gruppenarbeit einzubringen. Diese Haltung mochte dazu beigetragen haben, dass sie sich nur selten zu den Geburtstagen ihrer Gefährten eingeladen fand. Andererseits erfreuten sich ihre eigenen Partys regen Zuspruchs und nicht selten reichte der von ihrer Mutter mit mehr Hingabe als Talent gebackene Kuchen nicht für all die hungrigen Mäuler, die sich auf dem Gummischloss, dem Trampolin und tausend anderen Begehrlichkeiten Appetit geholt hatten, und musste mit einer raschen Bestellung beim Konditor ergänzt werden.

    Dies mag nun den trügenden Anschein erwecken, dass sich Marias Attraktivität auf die Fürsorge und die Finanzkraft ihrer Eltern beschränkte. Trotz ihrer eigenwilligen Zurückgezogenheit aber war sie bei Lehrern und Mitschülern wohlgelitten, teilte bereitwillig ihr Wissen vor, während und nach Prüfungen und ihre mit grosser Exaktheit und in fliessender, regelmässiger Schrift gelösten Hausaufgaben waren für manchen ihrer weniger begabten oder auch nur weniger gewissenhaften Klassenkameraden die letzte Rettung vor der strengen Kontrolle der mit wenig Sinn für Humor ausgestatteten Lehrkräfte. Mit Charlotte und Syb verband sie gar eine enge Freundschaft, was sich nicht nur darin äusserte, dass sie Maria regelmässig und aus Leibeskräften bei ihren Springkonkurrenzen anfeuerten – und auch mal mit einem Eis trösteten, wenn sie die ersten drei Ränge verfehlt hatte –; sie verbrachte auch den einen oder andern freien Nachmittag bei den zwei Mädchen zu Hause und fand sich jeweils zu deren – bescheideneren – Geburtstagsfeiern eingeladen. Besonders faszinierend fand sie Charlottes Mutter, die völlig unberührt vom Toben und Quengeln der sechs Geschwister am Küchentisch stand, eine Zigarette im Mundwinkel, mit der rechten Hand in einem grossen Teigbecken knetend, während die Linke die speckigen Seiten eines uralten Kochbuches durchblätterte. Charlottes Vater, der von zu Hause aus arbeitete, mochte inzwischen das Seil der im Hof an eine übergrosse Teppichstange geknüpften Schaukel nachziehen, wobei ein zu kurzes Leibchen einen wohlgerundeten, behaarten Bauch zur Schau stellte. Oft versüsste ein selbstgebackener Schokoladekeks diese Anlässe, den die ansässigen und eingeladenen Kinder mit grossen, bauchigen Krügen süssem Himbeersirup hinunterspülten. Zu ihrem Bedauern erwartete Marias Mutter sie meist in ihrem roten Triumph, bevor Charlotte auch nur eine Gelegenheit gehabt hätte, sie zum Abendessen zu bitten.

    Dass Maria das Gymnasium besuchen würde, stand ausser Frage. Während Charlotte nach weit über dreissig Bewerbungen schliesslich eine Lehrstelle in der Charcuterie-Abteilung eines Grossverteilers gefunden hatte und Syb ein Jahr in Italien verbringen wollte, wo der Bruder ihrer Mutter vor bald vierzig Jahren aus der heimischen Türkei hingezogen war und mit einigem Erfolg italienische Socken produzierte, fuhr Maria Tag für Tag mit ihrer neuen crèmefarbenen Vespa zum unförmigen, vor wenigen Jahren mit soviel Stahl und Beton wie Steuergeld errichteten Gymnasium in der nahen Stadt. Zwar hatten ihr ihre Eltern zu einem Zimmer geraten, es gab einige Pensionen, die speziell auf Schüler und Studenten ausgerichtet und durch das enge Netz von Bus und Strassenbahn gut mit dem Universitätsquartier, wo auch die Mittelschule lag, verbunden waren. Doch Maria zog die Nähe zum Reitstall und die Geborgenheit der eigenen vier Wände einer ungewohnten Freiheit vor, zumal ihr Vater aus Anlass ihres sechzehnten Geburtstags die Trennwand zwischen ihrem Schlaf- und dem Gästezimmer durchbrechen und dieses in einen Wohn- und Studienraum, komplett ausgestattet mit Schwedenofen und Küchenecke, umbauen hatte lassen, so dass sie nun über ihr eigenes kleines Appartement verfügte.

    Noch immer zog sie die naturwissenschaftlichen Fächer den Sprachen vor, was ihr Vater bedauerte, der in nicht weniger als neun Idiomen zu Hause war, darunter nützlichen wie Spanisch oder Arabisch und eher weniger gefragten wie dem Niederländischen und einem kaum verständlichen Dialekt aus den südlichen Indien, wo er drei Jahre nach seinem Studium gelebt hatte. Die Hingabe, die sie sowohl Experimenten wie auch komplizierten Formeln in Physik und Chemie widmete, begeisterte ihre von der Erfahrung, dass der weibliche Teil der Schülerschaft seine Stunden mit allerlei Nützlichem wie kunstvollen Handarbeiten, Kreuzworträtseln oder Schiffeversenken verbrachte, geprägten Lehrer. Dennoch war es für sie klar, dass sie nach der Hochschulreife kein Studium anstreben würde; sie wollte endlich unabhängig sein, nach all diesen Jahren eigenes Geld verdienen wie so manche ihrer ehemaligen Schulkolleginnen, von denen zwei gar schon Mutter waren und die meisten längst auf eigenen Füssen standen.

    Noch vor den Abschlussprüfungen hatte sie ihre Bewerbungsschreiben verschickt und nach nur drei mit Worten des Bedauerns und Empfehlungen zuhanden ihres Vaters formulierten Absagen unterzeichnete Maria ihren ersten Arbeitsvertrag mit Electroflex, wo sie sich am 1. September beim Abteilungsleiter der Auftragsbearbeitung vorstellen sollte.

    Neil

    Den Erwartungen ihrer Eltern, Lehrer und auch der Mitschüler entsprechend, schloss sie mühelos und im oberen Klassenviertel ab, und nur das knappe Genügend in Französisch verhinderte ihre Ehrung auf dem Podest unter den drei Besten ihres Jahrgangs, allesamt weiblichen Geschlechts. Maria hatte sich gewünscht, zwischen Schulabschluss und Stellenantritt mit ihren Freundinnen Europa zu bereisen. Da Syb mit ihrer Familie nur wenige Tage nach der Abschlussfeier im vollbeladenen angejahrten Mercedes der Familie Richtung Süden aufbrach, um von ihrem Onkel in die Geheimnisse des Sockengewerbes eingeweiht zu werden, und Charlotte vor Lehrbeginn gerade drei Wochen Pause gewährt wurden, beschloss ihre Mutter, sie stattdessen auf einer Entdeckungsreise durch die Neue Welt zu begleiten. In Hamburg schifften sie sich auf der Queen Elizabeth II ein; nach drei kurzen Stopps in skandinavischen Häfen, wo Maria mit Begeisterung ihre neue Nikon mit Bildern bunter Holzhäuser füllte, überquerte der grosse Kreuzer auf einer ereignisarmen und ruhigen Fahrt den Atlantik. Am Broadway besuchten sie zwei Musicals und nach ausgiebigem Abendessen in einem Lokal, dessen Wände mit Fotos von Filmstars der vergangenen vierzig Jahre geschmückt waren, packte ihnen der Kellner ungefragt fein säuberlich die reichlichen Reste ihres Mahls zum Mitnehmen ein. Während ihre Mutter den Zimmerservice in ihrer Suite in der fünfunddreissigsten Etage genoss, nutzte Maria den frühen Tagesanbruch, um im Central Park zu joggen. Noch nie hatte sie um diese Zeit so viele Menschen unterwegs gesehen wie auf dem kurzen Gang in die grüne Lunge New Yorks und ihr wurde klar, dass das Cliché der Stadt, die niemals schläft, sich offenbar nicht nur auf die späten Abendstunden bezog.

    Der gemietete Chevrolet wiegte sie durch die sommergrünen Wälder Connecticuts und brachte sie nach einem kurzen Besuch Bostons bis Cape Cod, wo sie in einem kleinen Restaurant mit karierten Tischdecken und allerlei Fischerei-Werkzeug an Decke und Wänden hoch über dem Atlantik Hummer assen und sich trotz der sandigen Buchten und eines wohlgesinnten Sonnengottes nicht weiter als knietief ins kühle Wasser trauten. Die gut zwanzigstündige Fahrt nach Chicago – ihre Mutter war grimmig entschlossen, den schweren Wagen abseits des Highways über einen steilen Pass zu zwingen, dessen weite Kehren offenbar der lokalen Porsche-Gemeinde als Teststrecke dienten – unterbrachen sie mit einem Halt bei den Niagara-Fällen; das fehlende Visum verhinderte aber einen noch beeindruckenderen Blick auf die tosenden Wassermassen von der kanadischen Seite aus. Wie in den meisten Pensionen fanden sie das Frühstück im gut gefüllten überdimensionierten Kühlschrank; bei ihrer Ankunft erwartete sie eine Flasche Rotwein im mit Reben verzierten Korb neben einem Teller Käse. Von Chicago brachte sie ein Inlandflug nach Phoenix und von da ein crèmefarbener Lincoln mit schwarzem Vinyldach und klebrigen, hellbraunen Kunstlederpolstern durch die sonnenverbrannte Wüste nach Kalifornien, vorbei an eindrücklichen, braunen Gebirgsketten, einsam aus dem Sand aufragenden Kakteen und verwirrt um sich greifenden Joshua-Büschen, wo sie am Stadtrand von Los Angeles einen Bungalow mieteten. Mit Erstaunen fand Maria auf dem berühmten Walk of Fame neben den Namen mehr oder weniger bekannter Stars und Sternchen auch jene vieler Musiker und sogar Kermit den Frosch verewigt. Auf dem Pacific Coastal Highway hätte sie den schweren Lincoln nur allzu gerne gegen eines der vielen Cabriolets in bunten Smarties-Farben getauscht, die ihnen in den engen Kurven zwischen wellenüberspülten Felsen, langen sandigen Stränden und hoch auf steilen Klippen thronenden Villen entgegenkamen. Erst als der Delta-Airlines-Jet Los Angeles mit Ziel Helena im Herzen der Rocky Mountains verliess, wurden sie sich der ungeheuren Ausdehnung der Stadt bewusst, die ihnen von ihrem Bungalow aus zwar weitläufig, aber mit ihren vielen Grüngebieten keineswegs grossstädtisch erschienen war.

    In Montana hatte ihre Mutter in einer Ferienanlage eine Hütte gebucht, mitten im Fichtenwald und eine gute Viertelstunde vom Hauptgebäude und den Stallungen entfernt. Am ersten Tag ritt Maria mit der kleinen Gruppe von Feriengästen nach einer kurzen Eingewöhnungsrunde im Korall den ausgetretenen Parcours dem Fluss entlang; das bunt gescheckte Pony liess sich kaum zum Trab bewegen und schliesslich begnügte sie sich damit, das Tier mit hängenden Zügeln, wie dies die Einheimischen taten, seinen eigenen Weg und Rhythmus finden zu lassen, den Duft des Nadelwaldes einzuatmen und die Eichhörnchen zu beobachten, wie sie sich scheinbar schwerelos von einem Baum zum andern schwangen.

    Am nächsten Morgen kam Neil, der junge Farmarbeiter, der ihnen gezeigt hatte, wie man die Pferde aufzäumte, mit einem bereits gesattelten kräftigen Kastanienbraunen auf sie zu.

    «Du warst ein wenig unterfordert gestern», grinste er, «ich denke, der da passt besser zu dir! Wenn du Lust hast, können wir zu den oberen Weiden reiten; vielleicht finden wir die Gruppe Mustangs, die letzte Woche da gegrast hat.» Er hielt ihr die Zügel hin und sprang, ohne die Steigbügel zu bemühen, auf seine gedrungene Stute, deren rechtes Auge inmitten eines grossen schwarzen Flecks im ansonsten schmutzigweissen Gesicht ihr das düstere Aussehen eines verwahrlosten Piraten verlieh.

    Sie drückte sich den fabrikneuen Stetson aufs Haar und folgte dem in scharfem Trab Richtung Tor reitenden Jungen, dessen Füsse beinahe bis zu den Knien seiner Stute reichten, was den seltsamen Eindruck erweckte, als trüge er sie und nicht umgekehrt.

    Schnell fand sie sich im breiten Sattel zurecht und vertraute dem Braunen, der mit sicheren, raumgreifenden Schritten Boden gutmachte, so dass sie sich nach wenigen Augenblicken neben der struppigen Stute wiederfand. Sie hatten den Pfad verlassen und ritten in lockerem, mühelosem Trab durch sanft ansteigendes Grasland, so früh im Sommer noch grün und mit gelben und weissen Blüten gesprenkelt.

    «Das machst du ganz gut; bist du schon mal Western geritten? Die meisten Touristen sitzen auf ihren Gäulen, als hätten sie einen Besenstiel verschluckt, und hindern die Tiere, sich ordentlich zu bewegen.»

    «Nein, nur englisch. Aber ich hab einiges darüber gelesen und eine der Frauen im Reitstall hat einen Morgan aus den Staaten mitgebracht, mitsamt dem amerikanischen Sattelzeug; sie reitet ausschliesslich im Westernstil.»

    «Westernstil», brummte Neil. «Beim Rumgehopse der Europäer wird einem ja vom Zusehen schon schlecht! Aber dass du reiten kannst, hab ich sofort gesehen.»

    Sie erzählte ihm von Moira, die mit ihren achtzehn Jahren noch immer ein gutes Springpferd war, aber inzwischen zu klein für sie, und von Champion, dem Oldenburger-Wallach, den sie seit drei Jahren ritt. Neil stammte aus einer Kleinstadt in Minnesota. Mit der Familie eines Freundes hatte er zwei Sommer hier in Montana verbracht und vor einem Jahr kurzerhand eine vielversprechende Karriere («vielversprechend für die Konkurrenz») an der Reception des heimischen Hotels zugunsten eines schlecht bezahlten Jobs auf der Touristenranch aufgegeben. «Ich mag die Arbeit mit den Pferden und die meisten Gäste sind zum Aushalten. Wenn du dich anständig benimmst und auch mal nach Feierabend noch die Einkäufe in die Hütten bringst, kannst du praktisch vom Trinkgeld leben – wir sind da freilich grosszügiger als die Europäer», zwinkerte er. «Ich hab mir diesen Frühling sogar einen alten Truck gekauft! – Halt…»

    Er zügelte seine Stute, und ihr Pferd hielt ohne ihr Zutun inne, den Kopf hochgereckt, die kleinen Ohren gespannt nach vorne gerichtet.

    «Da!» Mit dem Kinn wies er auf eine kleine Anhöhe im Osten, vielleicht vierhundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie nun wie angewurzelt standen. Eine Gruppe von fünf zottigen Mustangs graste am rechten Abhang des Hügels, während ein Rappe mit wehendem Schweif und im Wind wallender Mähne auf der Kuppe Wache hielt. Der Hengst schien sie nicht bemerkt oder aber als nicht bedrohlich eingestuft zu haben; nach einem prüfenden Luftzug durch die weit über die gelben Zähne hochgezogenen Lippen senkte er seinen Kopf ins lockende Gras und setzte unbeeindruckt seine Mahlzeit fort. Erst jetzt sah Maria die Fohlen, die unweit ihrer Mütter mit lang von sich gestreckten Beinen in der Mulde am fernen Ende des Hügels ruhten. Sie zählte vier, hell im dunklen Gras und unbeweglich.

    «Die werden alle mal schwarz wie ihr Vater», flüsterte Neil, der in seinen Steigbügeln aufgestanden war, um die wenigen Zentimeter auszugleichen, um die ihm sein kleineres Reittier die Sicht über die Hügelkuppe verwehrte.

    Erst als die Pferde sich in gemächlichem Schritt in einer Gruppe lockerer Fichten verloren hatten, zuletzt der Hengst, in weitem Bogen den Rückzug sichernd, wandten sie ihre Tiere wieder westwärts, den noch immer mit einer weiss schimmernden Schneemütze bedeckten Berggipfeln in der Ferne zu. Das Rennen über die weite, von keinem Hindernis durchbrochene Graslandschaft vor dem nächsten Anstieg gewann zu Marias nicht geringer Verblüffung die kleine Stute mühelos, obwohl ihre kürzeren Beine bestimmt doppelt so viele Schritte zu bewältigen hatten wie der grosse, kastanienfarbene Wallach. Neil feierte seinen Sieg mit einem durchdringenden Schrei, der mit Sicherheit nicht nur alle Wildpferde, sondern auch etwaig anwesende hungrige Berglöwen in die Flucht getrieben hätte, und fing geschickt den breitkrempigen Hut nach seinem Flug durch die Luft mit der Linken wieder auf. Central Park, Fifth Avenue, «Cats», ja gar die Fahrt über den Pacific Highway – Maria hatte sich während der ganzen Reise noch nie so glücklich, erfüllt und dennoch erwartungsfroh ungeduldig gefühlt wie nach dem heutigen Tag.

    In den folgenden Wochen wiederholten sie den Ausritt, erkundeten die umliegenden Hügel und trieben ihre Pferde bis über die Baumgrenze, wo der schmelzende Schnee erst jetzt hellgelben Primeln Platz machte. Neils kleine Stute war einer der Mustangs, die alljährlich im Rahmen eines umstrittenen Regierungsprogramms mit Hubschraubern zusammengetrieben, eingefangen und zu einem einhunderttägigen Erziehungsprogramm an interessierte Pferdetrainer abgegeben wurden. Gelang es, die Tiere in den gut drei Monaten zu zähmen, wurden sie an einer Auktion versteigert.

    «Wie viele Pferde beim Fang und Transport draufgehen oder später zu Hundefutter verarbeitet werden, weiss ich nicht. Aber dass die Millionen Rinder mehr Schaden anrichten als die paar Mustangs, die die Regierung unbedingt loswerden will, sieht doch jeder mit Augen im Kopf und ein paar Gehirnwindungen darüber! Nur ist mit den Pferden eben kein Geld zu verdienen.»

    Sie begleitete Neil in seinem rostigen Ford-Pick-up ins Dorf, um im grossen Supermarkt Lebensmittel einzukaufen. Am Morgen half sie beim Füttern und Ausmisten der Ställe und am Abend beim Verteilen der Einkäufe in die weit verstreut gelegenen Bungalows. Während ihre Mutter im grossen Gemeinschaftsraum des Hauptgebäudes mit ihren neuen Bekannten Cocktails trank und Karten spielte, fuhr Neil sie zu einem Tanzabend in der grossen Scheune zwischen Ranch und Dorf, wo in filmreife Western-Outfits gekleidete Tänzer im Alter von vier bis neunzig Jahren sich zwischen aufgestapelten Strohballen zu den melancholischen Melodien einer fünfköpfigen Band wiegten.

    Licht und Schatten

    Am Donnerstag vor ihrer Abreise beschloss ihre Mutter, mit Elaine, einer quirligen Französin, deren lila gefärbte Locken ihren Kopf wie ein fluoreszierender runder Lampenschirm umgaben, und der aus einem Vorort Rotterdams stammenden langen Marloes die gut zwei Autostunden dauernde Reise in die Stadt unter die Räder zu nehmen auf der Suche nach einem passenden Mitbringsel für ihren Mann und etwas Abwechslung vom ihr eher eintönig erscheinenden Alltag auf der Ranch. Alle Versprechungen und viel gutes Zureden halfen nichts und die drei Frauen brachen nach dem Frühstück schliesslich ohne Maria auf. Als diese ihre üblichen, selbst auferlegten Aufgaben in den Ställen erledigt und einer Gruppe frisch angekommener Gäste die Grundlagen des Reitens im Westernsattel erläutert hatte, machte sie sich daran, mit den bescheidenen Mitteln, die ihr der Bungalow bot, einen Keks zu backen, wobei ihre eher geringen Erfahrungen in solch bodenständigen Tätigkeiten ihr weniger halfen als der Rezeptteil eines Stapels Frauenzeitschriften, den sie Tags zuvor im Gemeinschaftsraum entdeckt hatte. Statt des im Westen beliebten abgestandenen Filterkaffees, der den ganzen Tag über auf seiner elektrischen Wärmeplatte vor sich hinzubrodeln pflegte, holte sie die Büchse Earl Grey aus dem Küchenschrank, den sie bei ihrem letzten Ausflug ins Dorf im Supermarkt gefunden hatte. Es war Neils freier Halbtag; sie hatten sich auf halb drei verabredet. Kurz bevor der Minutenzeiger an der grossen, batteriebetriebenen Uhr über dem Kamin die Zwölf erreichte, sie hatte gerade erst die Stummel von Mutters halbgerauchten Zigarillos weggeräumt, drangen dicke schwarze Rauchschwaden aus der die Küche mit dem Wohnzimmer verbindenden Luke. Es gelang ihr, mit Hilfe eines stumpfen Messers und einer dicken Zuckerglasur den Schaden, den der unberechenbare Gasofen angerichtet hatte, zum grössten Teil zu beseitigen, bevor das Fliegengitter geöffnet wurde und sie ein scheues Kratzen an der Türe hörte. Er hatte sein nackenlanges schwarzes Haar über den Schläfen hinter die Ohren gekämmt und trug über den Jeans ein weites, dunkellila Hemd, dessen oberste Knöpfe den Blick auf ein dünnes Lederband mit einem langen, gebogenen Zahn frei gaben. Der Zahn eines Berglöwen, hatte er ihr erklärt; er hatte den ganzen Schädel letztes Frühjahr in den Felsen gefunden, wahrscheinlich sei das Tier von einem Eisrutsch erschlagen worden. Anstelle der gewohnten Mischung aus Lederfett, Pferdeschweiss und Heu hing ein schwerer, süsslicher Duft von After Shave über ihm, der erfolgreich die letzten Spuren angekohlten Kekses verdrängte.

    «Bin ich zu spät?» Seine Stimme klang ungewohnt leise und heiser.

    «Aber nein, gerade richtig – mir ist ein kleines Missgeschick passiert. Der verfluchte Ofen!»

    «’s riecht aber gut hier; hat deine Mam gebacken?»

    «Meine…? Nein, ich hab gebacken, oder hast du etwa geglaubt, man kann mich nur zum Ausmisten brauchen?!»

    Sie trank ihren Tee mit Zitrone und viel Zucker, während er den noch warmen Keks in das dunkle, bittere Gebräu tauchte und den schmelzenden Guss mit spitzer Zunge auffing. Sie war ungewohnt scheu, er wortkarg, und seine Hände schienen pausenlos etwas unter seinem Hemdkragen zu suchen.

    «Freust du dich auf deinen Job? Ich kann dich mir gar nicht vorstellen, den ganzen Tag im Büro vor der Schreibmaschine, den Telefonhörer am Ohr: Ja, Ma’am, einen Moment nur, ich verbinde Sie gleich. Wie war doch nur der werte Name? Du solltest was Richtiges tun, draussen, was mit Pferden!»

    Sie musste lachen. «So schlimm wird das nicht. Weisst du, das ist eine Art Praktikum, ich werde in den verschiedenen Abteilungen rotieren, nicht nur Anrufe beantworten. Vielleicht komme ich auch in die Forschung, ich bin nämlich richtig gut, besser als beim Backen!»

    «Bestimmt nicht so gut, wie du mit Pferden umgehen kannst. Du könntest doch auch hier bleiben, die Saison fängt erst an, die suchen noch Leute!»

    «Ich weiss nicht, ob ich die Touristen aushalten würde – …und der beisst bestimmt nicht? Ich bin nämlich vor ein paar Jahren von einem Pony gebissen worden, schauen Sie mal, da!» Mit einer eleganten Verbeugung drehte sie sich um und zog den Bund ihrer Hose leicht hinunter, um zwei Zentimeter schneeweissen Fleisches zu entblössen.

    «Ja, das hat er mir auch gezeigt. Hat aber wirklich hässlich ausgesehen, nicht nur die Narbe!» Er zog eine Grimasse in Erinnerung an das fette, mit wütenden roten Pusteln übersäte Hinterteil des bedauernswert so misshandelten Ostküstlers.

    «Ich glaube nicht, dass das was für mich wäre. Ferien, ja, toll…»

    «So wie ich? Bin ich auch bloss Ferien, ja, toll?»

    «Du doch nicht!» Mit dem Zeigefinger wischte sie eine Krume von seinen Lippen und steckte sie in ihren Mund. Er griff nach ihrer Hand.

    «Ehrlich jetzt, ich will nicht, dass du gehst. Oder ich komm mit!»

    «Und was wird dann aus Lucky? Dir würde es bestimmt nicht gefallen bei mir; viel zu eng, zu viele Menschen, kein einziger Mustang…» Ihre Hand lag an seiner Wange, mit dem Daumen strich sie eine Haarsträhne aus seinen Augen. Er beugte sich vor und nahm ihr Gesicht in seine grossen Hände. Ihre Nasen stiessen aneinander beim ungeschickten Versuch, sich zu küssen, doch nach einem kurzen Augenblick hatten ihre Lippen sich gefunden, seine Linke lag auf ihrem Nacken, während die Rechte ihre Finger hielt und seine Zunge die Innenseite ihres geöffneten Mundes erkundete. Dann fühlte sie seinen Mund auf ihren Schläfen, ihren Augen, an ihrer Kehle und ihre Finger vergruben sich im dichten Gestrüpp seiner dunklen Mähne. Er betrank sich an ihrem Geruch nach Seife, Rauch und jungem Mädchen, umfing ihre kräftigen Schultern mit beiden Armen, fühlte ihre Wärme, den sanften, nachgiebigen Druck ihrer Brüste. Ihre rechte Hand streichelte seinen Rücken, während er ihr Liebkosungen ins Ohr flüsterte.

    Als sie am Abend zusammen die Pferde fütterten, sprachen sie weder vom vergangenen Nachmittag noch von der bevorstehenden Abreise. Ein kleiner Schock durchfuhr sie, wann immer ihre Hände sich berührten, und ihr Herz schlug schnell und unregelmässig, wenn sein Blick sie traf. Er brachte sie zum Bungalow, hielt ihre Hand in seinen und drückte ihr einen scheuen Kuss auf die Lippen, bevor er sich umwandte und im Schatten der sich dunkel vom mondhellen Himmel abhebenden Fichten verschwand.

    Mit der Zunge fuhr sie sich über die Stelle, wo sie eben noch seine Lippen gespürt hatte. Sie fühlte einen Knoten im Magen, ein seltsames, aber nicht unangenehmes Drängen im Unterleib und einen Wirbel unkontrollierter Gedanken im Kopf. Als ihre Mutter kurz vor Mitternacht durch den Spalt der Zimmertür einen Blick auf sie warf, lag sie mit weit ausgebreitetem Haar unter der dicken Decke, ein Lächeln auf den halbgeöffneten Lippen.

    Es war kurz vor sieben am folgenden Morgen, als die Haustüre unter energischem Klopfen in ihrem Rahmen erbebte. Zwei Rémy Martin nach der langen Fahrt mit Elaine und Marloes hatten ihrer Mutter zu einem tiefen, traumlosen Schlaf verholfen, und Maria hatte sich gerade erst den Kapuzenpulli übergezogen, den sie für die Arbeit im Stall über einer karierten Reithose zu tragen pflegte. Mit drei raschen Schritten erreichte sie die Tür; Neil hatte sie bisher immer bei den Ställen erwartet, ob er heute…? Im Eingang standen zwei schwarz uniformierte Beamte und hinter ihnen der Leiter der Anlage.

    «Sind Sie Margreth Antonia Stein?» fragte der ältere der beiden, während seine Kollegin einen Punkt über Marias linkem Ohr zu fixieren schien.

    «Nein, mein Name ist Mary, Maria, meine Mutter…» Sie blickte fragend zum Manager, während sich die Beamten einen kurzen Blick zuwarfen.

    «Wären Sie so freundlich, Ihre Mutter zu holen?» Die Stimme der noch jungen Beamtin strahlte ungeachtet der überraschend tiefen Tonlage Wärme aus.

    «Einen Moment nur, sie schläft noch.» Maria wandte sich nach einem weiteren Blick auf den mit gesenktem Blick auf der Veranda stehenden Manager um und rannte mehr, als dass sie ging, durch das Wohnzimmer, während hinter ihr die Türe scheppernd ins Schloss fiel. Was mochte Mutter nur angestellt haben? Ob sie einen Unfall gebaut hatte? Sie hatte sie gestern nicht mehr gesehen, aber sie hätte doch bestimmt…

    Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie den Morgen überstanden hatte. Ihre Mutter war auf der Veranda stehengeblieben, hatte immer nur mit dem Kopf genickt und dabei ihre Finger tief in Marias Oberarm gekrallt. Marloes und Elaine halfen beim Packen; der Manager musste den Flug nach New York organisiert haben und den achtstündigen Anschlussflug nach Hause.

    «Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann nach einem Herzversagen in seinem Auto verschieden ist. Die Schweizer Behörden haben uns gestern Abend informiert; es hat einige Stunden gedauert, bis wir Sie gefunden haben. Wenn wir behilflich sein können… Ma’am? Haben Sie mich verstanden?»

    Marias Vater war in Frankreich unterwegs gewesen. Dem Polizeibericht zufolge hatte man ihn in seinem Fahrzeug auf einem Ausstellplatz in der Nähe von Bordeaux gefunden; man vermutete, dass ihn ein plötzliches Unwohlsein zum Anhalten bewegt hatte, bevor sein Herz zu schlagen aufhörte. Es sei mit grosser Wahrscheinlichkeit ein rascher und schmerzloser Tod gewesen. Er war zweiundsiebzig, als er starb.

    Ein Angestellter der Ranch hatte sie zum Flughafen in Helena gefahren. Neil hatte sie nicht mehr gesehen, er sei am frühen Morgen zu den oberen Weiden gefahren, um Zäune zu reparieren, und wurde nicht vor dem späteren Nachmittag zurückerwartet. Maria fand nur mehr Zeit und Kraft für eine schnell dahingekritzelte Notiz – sie verstand die Worte selber kaum, als sie auf dem kleinkarierten Papier des Blocks standen:

    «Neil. Mein Vater ist gestorben, wir fahren nach Hause. Warum bist du nicht hier? Mein Vater ist tot, ich kann das gar nicht glauben! Mutter weint nur noch.

    Schreib, wenn du kannst, ich warte auf dich. Ich brauche dich!

    Mary»

    Der lange Flug, die Ankunft, bei der niemand sie willkommen hiess, das leere Haus, der Briefkasten übervoll mit Beileidskarten. Freundinnen ihrer Mutter kamen und gingen; sie hörte gedämpfte Stimmen unter ihrem Appartement, Schluchzen. Eine nicht enden wollende Reihe von Händen an der Beerdigung, Menschen, die sie kaum kannte; ihre Mutter, die mit leerem Blick eine kleine Schaufel voll Erde auf den dunklen Edelholzkasten warf, in dem doch nie und nimmer ihr Vater sein konnte.

    Besuch

    Am 1. September meldete sie sich beim Empfang der Electroflex, an einem kleinen, unscheinbaren Schalter am fernen Ende des über fünfhundert Meter sich erstreckenden Ostflügels der Fabrik. Die ersten Wochen verbrachte sie mit dem Überprüfen und Weiterleiten von Dokumenten, die die Verkaufsabteilung einreichte, eine wenig anspruchsvolle Tätigkeit, welche ihr aber einen Einblick in das grosse Tätigkeitsfeld der Firma verschaffte. Obgleich sie bereits eine kleine Wohnung nur fünf Gehminuten von ihrem ersten Arbeitsort entfernt gemietet hatte, ein Schlafzimmer und ein helles Wohnzimmer mit integrierter Küche und grossem Südbalkon in einem neuerstellten dreistöckigen Block, pendelte sie vorerst mit Bus und Zug die eineinhalb Stunden vom stattlichen Haus ihrer Mutter, unwillig, sie alleine zu lassen. Wenn sich auch äusserlich nicht viel an Mutters Alltag geändert zu haben schien – ihr Vater war oft und für längere Zeit abwesend gewesen –, ja durch das ständige Kommen und Gehen ihrer Freundinnen eher mehr Leben im Haus herrschte, schien die Atmosphäre doch von einer Leere und Hoffnungslosigkeit geprägt, wie sie sie noch nie empfunden hatte. Mutter verbrachte ihre Abende nun meist zu Hause. Während sie vor ihrer Reise fast an jedem Wochentag irgendwelchen Verpflichtungen nachgegangen war, sass sie jetzt mit geschlossenen Augen unter dem Lichtkreis, den die Ständerlampe zeichnete, im Ledersessel ihres Vaters, die Hände im Schoss gefaltet. Hatte sie früher meist noch im Bett gelegen, wenn Maria hastig ein Glas Grapefruitsaft und eine Schale Getreideflocken hinunterschlang, bevor sie sich auf den Weg zur Schule machte, stand nun am Morgen eine Tasse frisch gebrühten Kaffees bereit und ihre Mutter sass angezogen neben ihr am Frühstückstisch und strich ihr über das kastanienbraune Haar, bevor Maria zur Bushaltestelle aufbrach.

    Als sie an einem Freitag Abend früher als gewöhnlich nach Hause zurückkehrte, lag der Brief aus Amerika auf dem Posttischchen neben der Garderobe. Neils kräftige Handschrift mit den zügig vorwärts eilenden Buchstaben erzählte von seiner Enttäuschung, als sie nicht mehr da war bei seiner Rückkehr, von seiner Empörung, dass ihn der Manager nicht rechtzeitig informiert hatte, von der Trauer für ihren Vater, die er mit ihr teilte. Seine Gedanken seien bei ihr und er habe sie geliebt vom ersten Augenblick an. Sobald er genügend Geld gespart hätte, würde er ihr nach Europa folgen.

    Sie hielt das dünne Papier an ihre Lippen, dann an ihr Herz, wischte mit dem Daumen über die nasse Spur, die ihre Tränen durch die schwarze Tinte gezogen hatten, bevor sie es unter ihrem Kopfkissen im Pyjama verbarg.

    Mitte November brachte der Kleinbus eines von ihrer Mutter beauftragten Umzugsunternehmens die Möbel in die neue Wohnung. Charlotte hatte zwei grosse Kartons Leckereien zur Einweihungsfeier beigesteuert und ihre Mutter neben zwei ihrer besten Freundinnen eine Flasche Champagner und einige Liter Limonade sowie eine Torte mit Baisers und Kastanienpüree. Margreth hatte Marias kleines Appartement auf Beginn des folgenden Monats an die sechzehnjährige Tochter einer Bekannten vermietet, die mit Beginn des neuen Jahres eine Lehrstelle in der Buchhaltungsabteilung der benachbarten Fabrik antrat. Es würde Maria gut tun, mit ihren nun zwanzig Jahren endlich auf eigenen Beinen zu stehen, sie hätte keine Verpflichtung, eine alte Mutter zu hüten. Seit eine ihrer Freundinnen sie in ihre Kanzlei mitgenommen hatte, wo sie zweimal pro Woche unentgeltliche Rechtshilfe anbot, verbrachte Margreth wieder mehr Zeit ausser Haus.

    Maria behagte die neue Freiheit; sie genoss es, nach Hause kommen zu können, wann sie wollte, lebte von Tiefkühlpizzas, schnell zusammengeschnittenen Salaten und grossen Mengen starken, süssen Kaffees aus dem italienischen Vollautomaten, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte. Ihre Mittagsmahlzeiten nahm sie meist in der firmeneigenen Kantine ein, die zu günstigen Preisen vier verschiedene Menüs anbot und sie dabei auf dem Laufenden hielt über die zahlreichen Intrigen des Betriebes. Die Ganzjahresarbeitszeit erlaubte es

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