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Lobito's El Duende: Wer in Andalusien stirbt ... (Roman)
Lobito's El Duende: Wer in Andalusien stirbt ... (Roman)
Lobito's El Duende: Wer in Andalusien stirbt ... (Roman)
eBook248 Seiten3 Stunden

Lobito's El Duende: Wer in Andalusien stirbt ... (Roman)

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Über dieses E-Book

Von einer langen Konzertreise heimkehrend, findet der andalusische Gitarrist Paquito seine unheilvolle Vorahnung bestätigt: Seine junge Frau Juanita erwartet ihn wohl wissend, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hat.
Von Hilflosigkeit und Selbstzweifeln geplagt, spielt er in dieser schicksalhaften Nacht auf seiner Gitarre die Seguiriya gitana, den Trauer- und Grabgesang der spanischen Zigeuner.
Paquitos Gitarrenspiel entfaltet sich zu einem musikalischen Lockruf, dem der legendäre El Duende folgt. Für den Gitarristen bewahrheitet sich damit der uralte Zigeunerglaube von der sich zum Dämon manifestierenden Inspiration, der nur den Ruf jener Künstler erhört, in deren Schaffen das Abbild des Todes entsteht.
In der Hoffnung, Juanitas Leben doch noch retten zu können, begibt sich Paquito an der Seite des Dämons beherzt auf eine spirituelle Reise, die lediglich so lange dauert, wie seine Gitarrenvariationen erklingen.
Auf dieser abenteuerlichen Odyssee durch die eigene Innenwelt muss der junge Gitarrist erst den drei ›Weisen des Lebens‹ begegnen, ehe er dazu bereit ist, dem Tod ohne Furcht entgegenzu­treten, der ihn vor die größte Entscheidung seines Lebens stellt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. Dez. 2017
ISBN9783743965492
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    Buchvorschau

    Lobito's El Duende - - Lobito

    Teil I

    Der Meister der Inspiration

    Prolog

    Mit einem schrillen Schrei breitete der schwarze Vogel seine Schwingen aus und erhob sich würdevoll in die Dunkelheit der Nacht.

    Nicht weit davon entfernt floss das Mondlicht schimmernd über das verfilzte Fell einer geduckten Kreatur und schenkte ihr, zumindest noch in den wenigen Vollmondnächten, einen gnädigen Rest längst vergangener Anmut und Schönheit.

    Das glühende Augenpaar starrte von den schneebedeckten Felsen der Sierra Nevada hinunter zum Haus und spendete mehr Licht als der Schein der kleinen Petroleumlampe, der durch das Fenster der Wohnstube in den Garten fiel, um die Schatten zweier sich stumm gegenübersitzender Frauen auf die schlafenden Blumen zu werfen. Der ausgemergelte, von zahllosen Kämpfen vernarbte Körper verharrte regungslos und still.

    Als wollte er die Menschen vor dem nahenden Unheil warnen, hob der alte Wolf das schwere Haupt und öffnete das fast zahnlose Maul. Vor langer Zeit waren aus seiner Kehle Fanfaren der Freiheit und Lebenskraft ertönt. Über das gesamte Tal hinaus waren sie zu hören gewesen und hatten jeden, der sie vernahm, das Fürchten gelehrt. Doch jetzt quoll aus der einstmals stolzen Brust nur noch ein erbärmliches Jaulen hervor. So versickerte die zum kläglichen Geheul verkümmerte unheilvolle Ahnung, von den beiden Frauen ungehört, vor seinen zerschundenen Pfoten im trockenen Sand Andalusiens.

    Und der Wind sang sein ewiges Lied dazu.

    1. Kapitel

    Im Urgrund der Einsamkeit

    »Hast du´s auch gehört, Mutter?«

    Erwartungsvoll horchte Juanita auf. Bedeutete das leise Klicken des Schlosses am Gartentor die inständig herbeigesehnte Erfüllung ihrer still gehegten Hoffnung oder war es doch wieder nur eine Täuschung ihrer überreizten Sinne? Viel zu lange schon wartete sie darauf, dass sich die Tür öffnen und Paquito, ihr geliebter Paquito, endlich wieder vor ihr stehen würde. Strahlend wie immer, wenn er von einer Konzertreise heimkam, würde er sie in seine starken Arme nehmen, sie wie eine Feder vom Boden heben, mit ihr übermütig durch das Zimmer wirbeln und ihren Mund mit Küssen verwöhnen. Die Tage der Dunkelheit wären vorbei, die Schatten der Angst verkröchen sich in ihre Höhlen und Kummer und Leid würden demütig vor ihm niederknien und sich seinem Willen beugen.

    »Ich glaube, das ist er«, sagte sie mit verhaltener Stimme, während sie ungeduldig auf das seit vielen Tagen und Nächten vermisste Geräusch seiner sich nähernden Schritte im Kies vor dem Haus hoffte. War es nun endlich, endlich vorbei, dieses an den Nerven zerrende Lauschen, das all ihre Kräfte nahm, manchmal sogar den Atem?

    Bekümmert schüttelte ihre Schwiegermutter den Kopf. Ebenso wie Juanita sehnte auch sie die Ankunft ihres Sohnes herbei.

    »Nein, mein Kind«, entgegnete sie, traurig darüber, das Mädchen, das sie liebte wie eine eigene Tochter, abermals enttäuschen zu müssen. »Das war nur der kalte Wind der Sierra Nevada, der ebenso einsam ist wie du.«

    Doch die gut gemeinten Worte spendeten keinen Trost mehr, linderten nicht den Schmerz, der sich in der jungen Frau ausgebreitet hatte, um sie stets und unerbittlich daran zu erinnern, dass mit jeder Sekunde, die verging, kostbare Lebenszeit verrann. Entmutigt senkte sie den Kopf. Und zum ersten Mal spülten die Tränen der Einsamkeit auch Verzweiflung in ihre Augen.

    Vom nächtelangen Warten übermüdet legte die Mutter ihre Handarbeiten zurück auf den Tisch. Sie hatte der Tätigkeit ohnehin nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, aber durch die Ablenkung der Stickerei war es ihr möglich gewesen, viele Stunden nicht aufzusehen und den Blickkontakt mit ihrer Schwiegertochter zu meiden, vor allem aber tiefgründige Gespräche, denn selbst belanglose Unterhaltungen waren überaus mühsam und kräftezehrend geworden. Dennoch ließ es ihr mitfühlendes Herz nicht zu, die Frau ihres Sohnes hier mutterseelenallein ausharren zu lassen. Was hat eine alte Frau in solch einer Situation auch schon anderes zu geben als aufrichtige Anteilnahme? Vielleicht konnte sie ihr, wenn schon nicht mit Worten, zumindest mit ihrer Anwesenheit in dieser beschwerlichen Zeit Beistand leisten.

    Das Leben hatte die Greisin gelehrt, wann es klüger war zu schweigen, denn auch aufrichtige Worte, im falschen Moment gesagt, können so schmerzhaft sein wie in offene Wunden gestreutes Salz. Heute jedenfalls schien es ihr angebracht, einfach nur für die Untröstliche da zu sein. Und während sie gemeinsam auf Paquito warteten, schlich unbemerkt die Melancholie in ihre Herzen.

    Schon seit Tagen sprachen die Frauen kaum noch miteinander. Offenbar wollte Juanita keine Zeit mehr mit unwesentlichem Geplauder vertrödeln, denn Sehnsucht und Schwermut umschlossen ihr Gemüt wie unsichtbare Mauern. Die Einsamkeit wurde ihr zum Gefängnis, aus dem es aus eigener Kraft kein Entkommen mehr gab. Sich selbst zur quälenden Einzelhaft verurteilt, wartete sie auf ihren Befreier. Natürlich würde er die Vollstreckung des Urteils nicht verhindern können, aber den Schlüssel zum Eingangstor ihrer selbst gewählten Ausgeschlossenheit besitzen. Er allein besaß die Macht, sie aus der Gefangenschaft ihrer Isolation zu befreien. Nur mit ihm würde sie die Todeszelle teilen und ohne Angst auf ihren Henker warten. Aber Paquito war noch immer nicht zurück. Und der Zeitpunkt der Hinrichtung rückte unaufhörlich näher.

    Der Mutter hingegen wurde fast jeder Besuch in Juanitas Gefühlskerker verwehrt. Es bedurfte viel Gespür, um noch mit der sich mehr und mehr Verschließenden ins Gespräch zu kommen. Und trotzdem war es einfacher, die schmerzliche Verlassenheit und die damit verbundene Wartezeit gemeinsam zu ertragen. Doch entfliehen konnten sie der Einsamkeit auch zu zweit nicht.

    »Als ich so jung war wie du, da lauschte auch ich in ungezählten einsamen Nächten den Seufzern des Mulhacén, die der Wind über das schlafende Land weht«, nahm die alte Frau das Gespräch wieder auf, aus eigener Erfahrung wohl wissend, dass sie nicht die einzige Gemahlin eines Musikers war, die das Warten mitgeheiratet hatte. Doch welchen Wert hat schon ein Mann, auf den zu warten es nicht lohnt?

    »Hast du keine Angst, wenn der Wind an die Fensterläden klopft und Einlass verlangt?«, fragte Juanita. Nun war sie doch darüber froh, heute Nacht in diesem vom nächsten Dorf weit entfernten Haus nicht ganz allein zu sein. Sie genoss die Gesellschaft ihrer Schwiegermutter, ja, sie war der alten Dame aufrichtig dankbar für ihre Gegenwart in diesen schweren Stunden. Und endlich war auch die lähmende Stille gebrochen.

    »Angst? Nein«, antwortete die Mutter erleichtert über die zarte Entwicklung der Unterhaltung, die aufrechtzuerhalten sie sich bemühen wollte. »Nun ja, als junges Mädchen vielleicht, nachdem mich Leonardo geheiratet und mit hierher in dieses Haus genommen hatte.«

    Wehmütig dachte sie zurück an längst vergangene, aber nie vergessene Zeiten, die ihr mit jedem Tag glücklicher erschienen, jedoch in zunehmender Verklärung versanken.

    »Am Anfang unserer Ehe habe ich mich gefürchtet, wenn der Wolf durch den dunklen Wald schlich und der Nachtvogel nach mir rief«, beschwor die Hochbetagte verblassende Erinnerungen herauf, in denen Namen wie Schall und Rauch entschwanden und sich der Mantel des Vergessens tröstend um ihr nachlassendes Gedächtnis legte, Erinnerungen, die ihr zu welkenden Rosen im Dezember wurden. »Ich fühlte mich bedrängt, geradezu bedroht, wenn die Dunkelheit durch alle Ritzen und Fugen der Wände, durch jeden noch so engen Spalt von Tür und Fenster in meine Schlafkammer drang. Und alle Geräusche lähmten mich. Doch nach und nach, je öfter Leonardo auf Konzertreise ging, wurde mir das geheimnisvolle Wesen der Nacht vertrauter. Aus unbekannten Stimmen wurden Lieder, aus leisem Geraschel Musik, aus fremden Gerüchen betörender Duft. Und schon bald vermisste ich sogar das Heulen des Wolfes, wenn es einmal ausblieb, ja, ich war regelrecht beunruhigt und wartete ungeduldig auf seinen Gesang in den folgenden Nächten. So wurde er mir zum Freund, ein Freund, den ich einst fürchtete, den ich niemals sah und dennoch stets in meiner Nähe weiß.«

    Im Laufe der Jahre war ihr das wilde Tier tatsächlich ein treuer Wegbegleiter durch die Nacht geworden. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wach im Bett gelegen und darauf gewartet zu haben, dass es seine traurige Klage erhob. Und immer verriegelten die Männer und Frauen unten im Dorf aus Angst und Schrecken ihre Häuser, während die Kinder eingeschüchtert die Bettdecken über ihre kleinen Köpfe zogen. Für die Schlaflose aber hatte sich die vertraute Elegie wie ein weiches Tuch um ihr nach Zärtlichkeit dürstendes Herz gelegt, hatte ihr Trost gespendet, ihr Mut, Kraft und Zuversicht gegeben und vor allem die Gewissheit, an diesem von der Welt vergessenen Ort nicht lebendig begraben zu sein. So war ihr das Geheul des Wolfes, das ihre Nachbarn zu Tode erschreckte, zum Wiegenlied geworden.

    »Noch immer kriecht mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich sein fernes Klagen höre, das ich vom Heulen des Windes kaum zu unterscheiden vermag«, flüsterte Juanita so zaghaft, als ob allein schon die Furcht vor dem Wolf ein Vergehen sei.

    »Du brauchst dich nicht zu ängstigen«, wisperte die Mutter geheimnisvoll, als wüsste sie von Dingen, die niemand kannte außer ihr. »Die Stimme des Wolfes ist seine Seele. Sein Lied entspringt dem Urgrund der Einsamkeit.«

    Ein wohlbekanntes Grauen ließ Juanita frösteln. War seine eisige Kälte zunächst nur hin und wieder unter ihre frierende Haut gekrochen, nistete sich der Vorbote des Todes nun fest in ihren wehrlosen Körper ein. Schaudernd zog sie den leidlich wärmenden Wollschal fest um ihren Hals. Sogar im Bett, das sie seit einigen Wochen aufgrund zunehmender Müdigkeit vermehrt aufsuchen musste, legte sie ihn nicht mehr ab. Doch weder Schal noch Bett vermochten ihr Verlangen nach Wärme und Zuwendung zu stillen.

    ›Wenn doch nur Paquito hier wäre‹, wünschte sie sich mehr als alles andere auf der Welt, während fiebrige Panik sie zu überwältigen drohte.

    Sie wusste, ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

    2. Kapitel

    Violinenblut

    »Ach ja, die Musik«, seufzte die Mutter gedankenverloren. »Sie ist unsere größte Rivalin. Keine Frau ist anmutig, keine weibliche List raffiniert genug, um einen Musiker diese Geliebte vergessen zu lassen.«

    Mit ihr teilten zahlreiche Frauen das Los, die ewig junge, nie alternde Nebenbuhlerin ein Eheleben lang neben sich erdulden zu müssen.

    »Immer wieder zog es Leonardo hinaus in die weite Welt. Nichts konnte ihn aufhalten. Seine Konzertreisen bedeuteten ihm mehr als meine Liebe. Dabei habe ich ihm alles geschenkt, was eine Frau zu geben vermag: meine Wärme, meine Unschuld, meine Jugend, meine Treue und so vieles mehr. Seine Fehler liebte ich mehr noch an ihm als seine Tugenden. Und dennoch ließ er mich allein zurück, so wie sein Sohn jetzt dich allein lässt in diesen mitleidlosen Nächten.«

    Zu spät, als dass sie noch hätte innehalten können, bemerkte sie den Vorwurf in ihren Worten, der sich bei näherer Betrachtung ja doch nur als lächerliches Selbstmitleid entlarven musste. Aber noch hatte die Zeit es weder geschafft, alle Erinnerungen verwelken zu lassen, noch alle Tränen zu trocknen, die sie, nächtelang ruhelos auf ihren Mann wartend, in trostloser Verlassenheit vergossen hatte. Noch konnte sie Juanitas Nöte nachfühlen und sie litt mit ihr, denn jedes Leid, das wusste sie, war leichter zu ertragen, wenn es auch andere traf.

    »Oh, diese Musik, diese Musik«, wehklagte sie, während sich ihre Verbitterung reichlich aus der tiefen Verbundenheit mit ihrer Schwiegertochter nährte.

    Natürlich würde ihr Leid das Leid Juanitas nicht heilen, aber vielleicht lindern, waren beide doch gleichen Ursprungs. Und noch jetzt, so viele Jahre später, war sie über ihr Unvermögen erzürnt, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihre Widersacherin zu verdrängen, trotz Anwendung all der ihr zur Verfügung stehender weiblichen Finesse.

    »Aber ist es nicht gerade diese Rivalin, die uns unsere Männer lieben lässt?«, fragte das Mädchen, und ohne wirklich eine Antwort von der Leidensgefährtin zu erwarten, sprach sie ungewohnt wortreich weiter: »Natürlich ist es wahr, dass wir unsere Ehemänner mit der Musik teilen müssen, und sicher hast du recht damit, dass wir nur allzu oft allein zurückgelassen werden. Doch kannst du dir Paquito ohne seine Gitarre vorstellen, oder Leonardo ohne seine Violine? Wären sie ohne Musik geworden, was sie sind? Würden wir sie lieben?«

    »Ja, Leonardos Herz war eine Violine«, gedachte die Greisin ihres viel zu früh verstorbenen Gatten, während sie, wie fast jeden Tag, zu der kleinen, mit feinen Schnitzereien verzierten Kommode ging. Und vorsichtig wie immer, als könne das Holz schon vom bloßen Anblick brechen, nahm sie das von Gebrauchsspuren übersäte Instrument, das mitten auf dem Schränkchen seinen ehrenvollen Platz gefunden hatte, in ihre gebrechlichen Hände. Das abgenutzte Griffbrett zeugte von den unzähligen Stunden, die der Künstler ihm über Jahrzehnte hinweg unermüdlich gewidmet hatte.

    Behutsam, als hielte sie einen Säugling in ihren Händen, trug die Greisin das kostbare Andenken an ihren Mann in die Mitte des Raumes, blieb dort stehen, streckte beide Arme aus und hob es so weit empor, wie es ihre schmerzenden Glieder gerade noch erlaubten.

    »Diese Violine ist das Einzige, was mir von Leonardo geblieben ist – und die Erinnerung an seine schönsten Melodien«, sagte sie ehrfurchtsvoll. Für sie hatte er in Tönen gedichtet. Wenn er spielte, mussten alle, die ihn hörten, schweigen. »Seine Musik weckte nicht nur das Gefühl der Sehnsucht, der Melancholie und der Hoffnung in den Menschen, nein, sie wurde durch ihr Erklingen in jedem einzelnen Zuhörer zur Sehnsucht, zur Melancholie, zur Hoffnung selbst.«

    Die sich fast täglich wiederholende Szene erinnerte Juanita auch heute wieder an den Gottesdienst in der kleinen Kapelle unten im Ort, wenn der Herr Pfarrer die heilige Hostie kurz vor dem Abendmahl hoch über seinen Kopf erhob, damit alle sie sehen sollten und durch Christi Leib errettet würden.

    Und immer wieder aufs Neue schenkte die junge Frau ihrer Schwiegermutter dabei ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war unübersehbar, dass es sich hier um das Ritual einer aufrichtigen, unsterblichen Liebe handelte, um ein Ritual, das dem in der Kirche an Feierlichkeit und Hingabe kaum in etwas nachstand.

    »Unzählige Stunden lauschte ich seinen romantischen Weisen, waren sie doch wie schöne Blumen, die nur erblühten, um zu duften«, beteuerte die Greisin, ehe sie in gewohnter Manier begann, den noch immer glänzenden Lack des Tonholzes mit einem weichen Tuch zu polieren, wobei sie das Instrument liebevoll an ihren Körper drückte. Schon immer hatte sie es für ihren Mann so fürsorglich gepflegt, ebenso wie später ihn selbst, als er krank und bettlägerig geworden war. Und während ihre Schwiegertochter noch darüber nachdachte, ob diese Gabe der Aufopferung, die als so segensreich galt, nur liebenden Frauen vorbehalten war, flüsterte sie mahnend: »Juanita, den nachhaltigsten Eindruck in unserem Leben hinterlassen nicht die freudvollen Stunden, sondern die leidvollen.«

    Und als suche sie einen unwiderlegbaren Beweis für Leonardos Liebe zu ihr, fügte sie mit ihrer von den vielen Jahren brüchig gewordenen, aber noch immer selbstsicher klingenden Stimme hinzu:

    »Er strich den Geigenbogen so sanft über die Saiten, als wäre er aus Glas, das zerbricht, wenn man es zu unsicher oder zu fest anfasst. Für niemanden hat er so gespielt wie für mich. Seine Melodien waren die Bekenntnisse seines Innersten. Was er mit Worten nicht sagen konnte, sagte er mit Musik.«

    Vergessen war die einstige Eifersucht, die ja doch nur dazu geführt hatte, ihn mehr und mehr zu lieben. Frauen wie sie machten sich eine Rivalin, die zu verdrängen unmöglich war, zur Verbündeten. Aber unterwerfen würden sie sich ihr nie, würden sie lediglich erdulden und ertragen, wussten sie doch, dass eine Frau, die von der Geliebten ihres Mannes in die Knie gezwungen wurde, den Kampf um ihn für immer verloren hatte.

    »Ich küsse diese Violine«, sagte die alte Frau, bevor sie es tat. »Ohne sie wäre Leonardo nicht Leonardo gewesen, ohne sie hätte ich niemals erfahren, wie sehr ich ihn liebe, und ohne sie wäre mir von ihm nicht mehr geblieben als längst verklungene Lieder vergangener Tage.«

    Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, legte sie das durch die tägliche Pflege absolut staubfreie Instrument behutsam auf den Tisch und hielt beide Hände schützend darüber, als wollte sie es vor Gefahren bewahren, die nur sie allein kannte, vielleicht auch vor

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