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Lucia: Lebensweg einer Vampirin
Lucia: Lebensweg einer Vampirin
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eBook346 Seiten5 Stunden

Lucia: Lebensweg einer Vampirin

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Über dieses E-Book

Als Vampir geboren, ist Lucia eine große Zukunft als Jägerin vorbestimmt. Doch als Menschen die Villa ihres Vaters niederbrennen und ihre Familie töten, beginnt für die junge Lucia eine Wanderschaft, die sich über Jahrhunderte erstreckt.
Was als Kampf ums nackte Überleben beginnt, wird eine Suche nach Sicherheit, dann eine Suche nach Wissen und schließlich eine Suche nach Lucias Platz in dieser Welt.
Übernimmt sie die Aufgabe, die ihr von Geburt an zugedacht war, oder erschafft sie sich ihr eigenes Schicksal? Wiederholt sie die alten Verfehlungen ihrer Art, oder kann sie denen, die ihr am Herzen liegen, eine bessere Zukunft bieten?

SpracheDeutsch
HerausgeberOsiris Brackhaus
Erscheinungsdatum2. Feb. 2016
ISBN9781310087523
Lucia: Lebensweg einer Vampirin
Autor

Osiris Brackhaus

Beryll and Osiris Brackhaus are a couple currently living their happily ever after in the very heart of Germany, under the stern but loving surveillance of their cat. Both are voracious but picky readers, love telling stories and drinking tea, good food and the occasional violent movie. Together, they write novels of adventure and romance, hoping to share a little of their happiness with their readers.An artist by heart, Beryll was writing stories even before she knew what letters were. As easily inspired as she is frustrated, her own work is never good enough (in her eyes). A perfectionist in the best and worst sense of the word at the same time and the driving creative force of the duo.An entertainer and craftsman in his approach to writing, Osiris is the down-to-earth, practical one. Broadly interested in almost every subject and skill, with a sunny mood and caring personality, he strives to bring the human nature into focus of each of his stories.

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    Buchvorschau

    Lucia - Osiris Brackhaus

    Prolog

    Lucia war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie das erste Mal das Licht der Sonne sah.

    Sie war kein schönes Kind. Ihre Haut war zu weiß. Ihre Haare lang, zu weich, zu schwarz. Ihre Augen zu groß, wie dunkle Fenster in eine andere Welt. Sie war klein nach Menschenjahren. Nicht größer als ein achtjähriges Kind, aber das wusste sie nicht. Sie hatte nie ein menschliches Kind gesehen. Nur die erwachsenen Diener, die sich um sie und ihre Schwester kümmerten.

    Diese wenigen Menschen und die Villa ihres Vaters, in der sie sich in ewiger Dämmerung bewegt hatte, waren ihre Welt. Ihre Realität. Eine kleine Welt, in der sie jeder Wand gefolgt war, jede Unebenheit in den Steinen des Fußbodens kannte. Immer hatte sie sich warm und sicher gefühlt. Immer hatte sie diesen Tag herbeigesehnt.

    An ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag trat sie auf die Terrasse der Villa hinaus.

    Zuerst fühlen – ein Windhauch auf ihrer Haut.

    Hören – Vögel, ihren Gesang kannte sie. In Käfigen sangen sie im Haus, nur um ihr Vergnügen zu bereiten, hier draußen, mit so viel mehr Freude am Leben, so viel lauter. Menschen, ihre Worte, Gesprächsfetzen, die wie fernes Rauschen in der Luft schwebten, Blätter im Wind, Klirren und Klappern auf der Straße, die verborgen von hohen Mauern an der Villa vorbeiführte.

    Riechen – Blumen, nasse Blätter, darüber der Geruch von frischem Fisch und heißem Brot, ganz zart der Geruch von Salz.

    Sehen – so viel zu sehen, die Farben so viel klarer, strahlender, Gras, so grün, die Kanten scharf umrissen, enthüllt, Bäume, die in den Himmel ragten, das Haus überragten, so hoch, der Himmel selbst, tiefblau über dem Haus, helleres Blau zum Horizont, dann rot, so rot.

    Die Sonne, glühender Ball am Horizont, am Rand der Welt, so unglaublich schön, überwältigend – und schmerzhaft.

    Nur wenige Sekunden hatte sie, all dies wahrzunehmen, dann musste sie zurück ins Haus fliehen, zu sehr brannte das Licht noch. Aber die Erinnerung … Sie nahm sich viele, viele Stunden Zeit, diese Erinnerung zu betrachten, zu testen, zu kosten. Und die süße Vorfreude auf den nächsten gestohlenen Moment des Lichts, der Freiheit.

    Kapitel 1

    In der begrabenen Stadt

    Lucia lag eingerollt in einer grob gewebten Hängematte, die Arme schützend um ihren Körper geschlungen. Sie fühlte sich krank und müde. Sie hatte Angst. Das flimmernde, orangerote Licht, das von Jaks Feuer in die kleine Schlafkammer zu ihr hereindrang, verursachte bei ihr Schwindelgefühle und weckte eine vage Panik – Feuer war böse, es tat weh.

    Die Blütenblätter, die man über sie gestreut hatte, verströmten einen unangenehm süßlichen Duft, der sie an verwesendes Fleisch erinnerte. Sie wollte die Augen schließen, wollte die Welt aussperren und vergessen, aber nagende Furcht hielt sie wach. Ihre Glieder waren bleischwer. Sie wusste, sie hätte eigentlich schlafen sollen, aber irgendwie hatte der Zauber nicht gewirkt. Sie hatte nicht verstanden, warum sie überhaupt schlafen sollte. Man hatte ihr gesagt, sie müsse das Urteil abwarten.

    Sie rollte sich noch mehr in sich zusammen. Nie zuvor hatte sie sich so allein gefühlt, so verlassen. Nicht einmal in den einsamen Monaten der Flucht, die sie hinter sich hatte. Wie oft war sie des Morgens in eine Höhle oder unter einen abgestorbenen Baum geflüchtet und hatte sich verborgen. Versteckt, vor Menschen. Sie war so froh gewesen, als sie diesen Ort gefunden hatte. Diese Kreaturen, die so anders waren – wie sie selbst. Sie hatte nicht verstanden, warum selbst diese Kreaturen sie so seltsam ansahen, so voller Sorge.

    Sie hatten sie zu ihrem Ältesten gebracht. Er war ein Wesen, wie sie es nie zuvor gesehen hatte, das sie nur ehrfürchtig und ängstlich hatte anstarren können. Aber er war ihr voller Freundlichkeit begegnet. Hatte ihr entlockt, was ihr geschehen war. Er allein hatte darüber zu entscheiden, ob sie bleiben durfte, soviel hatte sie verstanden. Er hatte sie in Jaks Obhut gegeben. Sie hatte einen grimmigen Wächter erwartet, und auf den ersten Blick hatte Jak genau dieser Vorstellung entsprochen: groß und breit und klobig, bedeckt von grober, borkiger Haut mit scharfen Stacheln statt Haaren. Doch er hatte sie voller Wärme aufgenommen und ihr Schutz statt Misstrauen gegeben.

    Lucia erschauderte. Wenn sie nicht bleiben durfte, würde es ihren Tod bedeuten. Sie wusste, sie konnte allein nicht länger überleben. Eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre schmutzverkrustete Wange. Warum hatte gerade sie überlebt?

    Warum war sie überhaupt geflohen? Warum hatte sie sich nicht an ihren Vater geklammert, so wie ihre Schwester? Warum war sie hinausgerannt, fort von den zornigen Stimmen? Wie hatte sie wissen können, dass die Villa brennen würde?

    Sie hatte es gewusst und sie war gerannt.

    Von draußen ertönte Jaks knirschende Stimme und die des Schlangenmenschen, der sie zum Ältesten gebracht hatte. Djanra war sein Name. Der Vorhang, der die Kammer, in der sie lag, abtrennte, wurde beiseitegeschoben, und Lucia schloss schnell die Augen. Sie spürte, wie Djanra sich über sie beugte, spürte seinen Blick auf ihrer Haut. Dann berührten seine kalten, glatten Finger ihr Gesicht. Lucia blieb reglos liegen. Seine Fingerspitzen glitten über ihre Stirn und ihre geschlossenen Augen. Lucia fühlte heiße Angst in sich aufwallen, aber sie rührte sich nicht.

    Jaks schwere Schritte näherten sich der Hängematte. »Sie ist schön, die kleine Blume, nicht wahr?«, knarrte er.

    Djanras eisige Hände liebkosten ihre Haut. »Kalt«, murmelte er leise.

    »Und?«, fragte Jak aufgeregt. In seiner Stimme hörte Lucia Hoffnung. Er wollte, dass sie blieb. Sie spürte einen Luftzug und hörte das Rascheln, als sich seine Stacheln aufstellten.

    »Sie wird … angenommen«, zischte Djanra kaum hörbar, aber Lucia glaubte, Missfallen in seiner Stimme zu hören. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sie wohl nicht bleiben dürfen. Aber es ging nicht nach ihm. »Wenn sie die Prüfung besteht«, fügte er hinzu. »Weck sie!«

    Seine Schritte entfernten sich. Nur mit äußerster Mühe gelang es Lucia, weiterhin tiefen Schlaf vorzutäuschen. Die Prüfung … sie frohlockte innerlich. Der Älteste hatte ihr erklärt, dass sie würde beweisen müssen, dass sie sich verteidigen konnte. Dass sie, wenn sie jagte, für sich selbst sorgen konnte und nicht die Hilfe der anderen Bewohner der Stadt brauchte. Das konnte sie. Auf ihrer Flucht hatte sie nicht nur gelernt, Menschen zu fürchten, sondern auch, sie zu töten.

    Sie hatte ein neues Zuhause gefunden. Sicherheit.

    Jak stimmte einen rauen Gesang an, der wohl den Zauber, der auf ihr liegen sollte, aufgehoben hätte. Sie fühlte sich schwach, als sie sich aufrichtete. Ein Zittern schüttelte ihren ganzen Körper. All der Schmerz, den sie so lange zurückgehalten hatte, brach in einem Strom von Tränen aus ihr heraus.

    Jak stand einen Moment ratlos neben ihr. Die Stacheln, die seine Haare ersetzten, zuckten besorgt. Doch dann schloss er sie in seine Arme und wiegte sie sanft hin und her. Er murmelte ihr beruhigende Worte ins Ohr und summte leise, so wie es ihr Vater getan hätte. Lucia weinte lange. Sie war noch ein Kind und sie hatte bereits alles verloren.

    »Armes, kleines Blümchen«, murmelte Jak leise. »Süßes, kleines Häschen. Jak wird auf dich aufpassen. Brauchst dir keine Sorgen machen. Sie können dir jetzt nichts mehr tun. Liebes, kleines Mäuschen.«

    ***

    Lucia spürte die Nacht mit all ihren Sinnen. Den Windhauch, der die letzten Blätter in den Bäumen zauste, den weit entfernten Ruf eines jagenden Nachtvogels, jeden einzelnen Stein unter ihren nackten Fußsohlen, kahle Äste, die ihre Arme streiften, den Duft von feuchtem Laub, die weiche Wolke ihrer langen Haare, ihren eigenen langsamen Herzschlag.

    Sie liebte es, allein durch die Wälder zu streifen, die die begrabene Stadt umgaben. Am Anfang war sie immer ganz in der Nähe der Stadt geblieben. Aber je sicherer und stärker sie sich fühlte, desto weiter weg wagte sie sich.

    Vor ihr lichteten sich die Bäume, sodass es dem Mond gelang, einzelne Strahlen ins Dickicht zu schicken. Wie ein Fisch durchs Wasser gleitet, so bewegte sich Lucia durch den Wald, ohne eine Spur zu hinterlassen. Unter den letzten Bäumen an der Außengrenze des schützenden Dickichts blieb sie stehen, um auf die Siedlung der Sterblichen hinabzusehen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln der Vorfreude. Hier würde heute Nacht der Tod einkehren. Sie würde gut essen.

    Dann kräuselten sich ihre Brauen zu einem leichten Stirnrunzeln. Der Wind trug den Geruch von brennendem Holz zu ihr herauf und von Angst, die tief in menschlichen Knochen saß. Sie konnte die aufgeregten Rufe und das leise Flüstern verschreckter Mütter hören, als stünden die Dorfbewohner direkt neben ihr. Dies war falsch. Die Furcht sollte mit ihr kommen und ihr nicht vorauseilen.

    Unbeweglich wie einer der schwarzen Bäume stand sie da und beobachtete: Ein Zug von kleinen feurigen Lichtern verließ den Schutz der zusammengedrängten, einfachen Hütten und bewegte sich auf den Waldrand auf der anderen Seite des Dorfes zu. Ein aggressiver, wütender Ton hatte sich in die Rufe der Menschen gemischt. In dieser Nacht waren sie die Jäger. Oder hielten sich zumindest dafür.

    Amüsiert fragte sich Lucia, was wohl den kurzlebigen Zorn der Sterblichen erregt hatte. Dann trug eine Windböe ihr einen anderen Geruch zu. Stark, fremdartig und doch vertraut: eine Kombination aus Hass und Hunger. Instinktiv bleckte sie ihre Fänge. Ihr Verlangen schwankte zwischen Flucht und etwas anderem, Fremdem. Sie blieb. Gebunden von einem Gefühl, das sie nicht verstand, das sie aber dennoch aufwühlte.

    Geduckt und mit der Vorsicht und Zielstrebigkeit eines Raubtieres, das Beute wittert, folgte sie den Menschen, immer in der Deckung des Waldes bleibend. Ihr eigener Lärm machte die Sterblichen unaufmerksam. Lucia fragte sich, wie irgendjemand mit ein bisschen Sinn für die Jagd ihnen in die Falle gehen konnte. Aber gefangen hatten sie etwas. Das entnahm sie dem Triumph in ihren Stimmen. Und sie hörte das hohe schmerz-, hass-, zornerfüllte Kreischen ihres Opfers.

    Ihre Schritte beschleunigten sich von selbst, bis sie wie eine unaufhaltsame, schwarze Welle durch den Wald raste und schließlich auf die Lichtung hinausbrach, wo die Menschen ihre Beute gestellt hatten. Umringt von feindlichen Augen und sengendem, blendendem Feuer, einfachen, aber in der Menge wirkungsvollen Waffen drehte sich die schlanke Gestalt knurrend und fauchend im Kreis. Suchte einen Ausweg, den es nicht gab.

    Noch hatten sie ihn nicht ernstlich verletzt. Noch hatten sie Lucia nicht bemerkt. Dann wirbelten sie schreckerfüllt herum, als der Todesschrei einer der ihren die Nacht zerriss. Das Genick gebrochen, die Augen leer, hing er in Lucias Hand. Einen Augenblick standen sich die uralten Feinde, Jäger und Gejagte, in atemlosem Schweigen gegenüber. Ein Augenblick des Gleichgewichts von tausendjährig genährter Furcht und kurzfristigem Zorn.

    Dann überwog der Mut des Augenblicks und die Gejagten fielen über ihre Jäger her. Die Schreie von Sterbenden, warmes Fleisch, der Geruch von Angst, der unvergleichliche Geschmack von heißem, lebendigem Blut, Schmerz, die Lust am Töten und Sterben. All das verwob sich zu einem rot-schwarzen Albtraum, der die Lichtung mit Gewalt und Tod und die stille Nacht mit Verzweiflung anfüllte.

    Bis endlich die nur allzu begründete Angst die Oberhand gewann und sterbende Sterbliche mit letzter Kraft vom Ort des Schreckens flohen. Sich hungrige Zähne endlich ungestört in bereits zerrissenes Fleisch bohren konnten. Der ewige, unersättliche Hunger gestillt wurde. Gebrochene Knochen, zerfetzte Haut sich wieder zusammenfügten. Und zwei Augenpaare sich zum ersten Mal trafen.

    Ein anderer Hunger ergriff von ihnen Besitz. Wie sie zuvor über die zerbrechlichen Menschenleiber hergefallen waren, so fielen sie jetzt übereinander her. Mit der Leidenschaft wilder Tiere, das Blut ihrer Opfer noch warm auf Zunge und Lippen, zog es ihre Körper zueinander. Zwischen verdrehten Körpern, denen ihre Hände das Leben geraubt hatten, liebten sie sich. So zornig und gewalttätig, wie sie im Kampf gewesen waren, waren sie auch in ihrer Leidenschaft, ihrer Ekstase.

    Schließlich, ermattet und gesättigt, trennten sich ihre Körper voneinander. Ihre Seelen jedoch blieben verschlungen in einer zärtlichen Umarmung. Er war in ihren Gedanken und sie in den seinen. Sein Name, Mica, war ihr so vertraut wie sein ganzes Wesen. Sie wusste alles über ihn. Welcher Stern eine besondere Bedeutung für ihn hatte, wie es sich anfühlte, wenn er erwachte, dass er den Geruch von Raureif auf Metall liebte.

    Hand in Hand, wie der Schatten eines Albtraums, der mit dem Morgengrauen verblasst, verschwanden sie zwischen den Bäumen in den Tiefen des Waldes. Zog Lucia ihn, dem sie, ohne es erkannt zu haben, ihre Seele geschenkt hatte, mit sich fort zu ihrem sicheren Versteck, um ihn für immer an sich zu binden. Das höchste Maß an Zufriedenheit, das in einer Welt aus Essen und Schlafen zu finden war. Gemeinsam mit ihm Blut zu vergießen, zu lieben und zu leben.

    ***

    Es war ein ganz gewöhnlicher Abend in der Stadt. Seit sie und Mica sich gefunden hatten, war nichts geschehen, was den Fluss der Nächte unterbrochen hätte. Lucia wusste nicht, warum sie ausgerechnet an diesem Abend den Weg durch die große Kaverne genommen hatte, statt dem üblichen Tunnel, der im Wald an die Oberfläche kam. Mica war vorausgegangen und wartete wahrscheinlich bereits ungeduldig auf sie.

    Auch wusste sie nicht, warum sie stehen geblieben war, als sie Djanra mit dem Fremden hatte sprechen sehen. Zwar kamen nur selten Außenseiter in die Stadt, aber doch nicht so selten, dass es ihre Aufmerksamkeit hätte wecken müssen. Aber an diesem Mann war etwas merkwürdig. Er kam ihr auf bedrückende Weise vertraut vor, obwohl sie sicher war, ihn nie zuvor gesehen zu haben.

    Der große, dunkelhäutige Fremde sprach eindringlich auf Djanra ein. Der hörte bewegungslos zu, wie es seine Art war, aber Lucia glaubte, in seinen kalten Schlangenaugen einen merkwürdigen Schimmer zu entdecken. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen des Misstrauens.

    Sie verharrte weiter im Schatten einer Säule und starrte zu den beiden hinüber, die auf dem Plateau am tiefen Tunnel standen. So sehr sie ihre Ohren auch anstrengte, sie konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen. Und sie wagte auch nicht, näher heranzugehen, weil sie nicht entdeckt werden wollte. Wenn irgend möglich wollte sie ein Zusammentreffen mit dem Fremden vermeiden.

    Dann neigte Djanra plötzlich tief den Kopf und machte eine einladende Geste in Richtung des tiefen Tunnels. Das dunkle Gesicht des Mannes verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln. Lucia traute ihren Augen kaum, als Djanra ihn an den Wächtern vorbei in den Tunnel führte. Sie bleckte die Zähne zu einem lautlosen Fauchen.

    Keinem Außenseiter war es gestattet, den Kern der Stadt zu betreten und zu sehen, was dort ruhte. Sie selbst war nur einmal dort unten gewesen, direkt nachdem sie angekommen war. Es war eine Erfahrung, die sie mit tiefer Ehrfurcht erfüllt hatte. Vage hatte sie sich erinnert, etwas Ähnliches schon einmal gefühlt zu haben, aber sie hatte die Erinnerung nie richtig zu packen bekommen.

    Und nun führte Djanra einen Fremden dort hinunter. Lucia fühlte Zorn in sich aufsteigen. Wie konnte er es wagen, das Heiligtum so zu entweihen? Doch dann riss sie sich zusammen. Er war es, der hier die Entscheidungen traf. Sie war nur ein Kind der Stadt. Sie durfte es nicht wagen, seine Weisheit in Zweifel zu ziehen, denn er war es, von dem sie das meiste ihres Wissens gelernt hatte.

    Dennoch war sie verärgert, als sie ihren Weg fortsetzte. Mit welch einer Herablassung der Fremde Djanra behandelt hatte. Welch eine Arroganz. Ja, das war es, was sie in seiner Haltung, in seinen Bewegungen gespürt hatte: Verachtung. Lucia ballte ihre langen Finger zu einer Klaue und betrachtete die scharfen Nägel an den Fingerspitzen mit einem kalten Lächeln. Sie stellte sich vor, wie sie diese Waffen in die Augen des Außenseiters grub. Der Gedanke gefiel ihr.

    Sie begann den Aufstieg über die lange Treppe, wobei sie, ohne nachzudenken, die Stufen ausließ, von denen sie wusste, dass sie nicht mehr stabil waren. Endlich war sie oben und warf einen letzten Blick in die große Kaverne hinunter, die jetzt tief unter ihr lag. Zahllose Fackeln erleuchteten die Treppe, die sich an der Wand entlangrankte. Ebenso zahllos erschienen Lucia die Simse, von denen man zu den Höhlen gelangte, die von der zentralen Kaverne abzweigten und den Bewohnern der Stadt Schutz und Heim boten. Von hier oben erschien ihr der Anblick beinahe unwirklich. Dann trat sie durch die schwere Bronzetür, die die Stadt von der Außenwelt trennte.

    Auf der anderen Seite hielt Tarock Wache. Lucia nickte ihm zu und war schon halb an ihm vorbei, als ihr etwas einfiel. Sie trat zu ihm in den Schatten. Er sah ihr interessiert entgegen. Es war selten, dass jemand ein Gespräch mit dem finsteren Torwächter anstrebte.

    »Guten Abend, Meister Tarock«, begrüßte Lucia ihn höflich.

    Jak hatte ihr beigebracht, wie viel einfacher es das Leben machte, alle Bewohner der Stadt mit der gleichen Freundlichkeit zu behandeln. Zumindest einige von ihnen hatten daraufhin aufgehört, sie wie eine Außenseiterin zu behandeln. Tarock schenkte ihr ein zahniges Lächeln.

    »Was kann ich für dich tun, kleine Lucia?«, fragte er.

    »Meister, ich sah einen Fremden unten in der Stadt. Könnt Ihr mir sagen, wer er ist?«

    Ein seltsamer Ausdruck zog über Tarocks steinernes Gesicht. »Er ist einer der Herren der Nacht«, antwortete er dann.

    Lucia runzelte die Stirn. Einen solchen Titel hatte sie bisher nie gehört. Sie würde Jak später danach fragen. »Hat er gesagt, was er will?«, wollte sie wissen.

    Tarock nickte langsam. »Ja, das hat er.«

    Lucia sah ihn erwartungsvoll an, aber er sprach nicht weiter. Sie wartete noch einen Augenblick länger, als es höflich war. Dann lächelte sie. »Danke«, sagte sie und verneigte sich leicht.

    Er erwiderte ihre Verbeugung. »Ich wünsche dir eine gute Jagd, kleine Lucia«, sagte er.

    Sie trat nach draußen und atmete die Nachtluft tief ein. Ihr letzter Spaziergang lag nur zwei Tage zurück, aber erneut hatte der Frühling an Kraft gewonnen. Der Duft junger grüner Blätter mischte sich mit dem Geruch der ersten, vom Abendregen noch feuchten Blüten. Leises Rascheln verriet die Anwesenheit aus dem Winterschlaf erwachter Tiere.

    Lucia schlenderte über den alten Totengrund, unter dem die verlorene Stadt lag, und genoss jeden Laut und Geruch. Bäume ragten hoch auf und struppige Büsche und Gräser hatten die Gräber längst zu einer fast undurchdringlichen Wildnis werden lassen. Viele der Steine, die von Sterblichen hier aufgestellt worden waren, um an ihre Toten zu erinnern, waren umgefallen und halb im Boden versunken.

    Menschen kamen schon lange nicht mehr hierher. Dies war ein Ort der Toten und der Ausgestoßenen. Lucia fühlte sich wohl hier. Sie kannte jeden Stein und selbst mit geschlossenen Augen bewegte sie sich noch sicher.

    Als sie an dem größten Grabmal vorbeikam, das noch stand, trat sie kurz näher heran und legte die Hand auf einen Vorsprung. Es war ein kleines Ritual. Sie glaubte nicht wirklich, dass es ihr Glück brachte, aber es machte ihr Freude.

    Dann beschleunigte sie ihre Schritte. Mica erwartete sie bei den beiden riesigen Findlingen, die gegeneinandergesunken waren und nun wie betrunkene Liebende aneinanderlehnten. Er würde nicht erfreut sein, dass sie ihn so lange hatte warten lassen.

    Als sie die Steine erreichte, war Mica nicht zu sehen. Aber als sie den Kopf hob und erneut die Nachtluft schmeckte, spürte sie ihn ganz in ihrer Nähe. Sie lächelte. Wieder einmal versuchte er, ihr eine Falle zu stellen. Es war ihm schon seit Langem nicht mehr gelungen, sie zu überraschen. Das würde auch heute Nacht so bleiben. Sie waren sich so nahe, dass sie manchmal nicht mehr sagen konnte, wo sie endete und er begann.

    Sie starrte in die Dunkelheit und überlegte, wie sie ihm entgehen konnte. Es bestand kein Zweifel daran, dass er der bessere Jäger war, und er hatte Zeit gehabt, seinen Hinterhalt in Ruhe vorzubereiten.

    Lucia fuhr mit den Nägeln über einen der beiden Steine in einer unbewussten Geste des Klauenschärfens.

    Dann lächelte sie. Er war vielleicht der bessere Jäger, aber geduldiger war er ganz sicher nicht. Sie warf erneut einen Blick in die Nacht und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf der Erde nieder. »Ich warte hier auf dich«, sagte sie freundlich. Es kam keine Reaktion, aber die hatte sie jetzt auch noch nicht erwartet. Es konnte schon eine Weile dauern, bis er genug hatte.

    Sie behielt recht. Der Mond war ein Stück weitergewandert, als er leise wie ein Windhauch neben ihr zu Boden glitt. Er lächelte und Lucia spürte die zärtliche Berührung seiner Gedanken.

    »Du gewinnst«, sagte er laut.

    Lucia erwiderte sein Lächeln. »War es die Ungeduld oder der Hunger?«, fragte sie. Sie fühlte etwas in ihm nagen, konnte aber nicht genau erkennen, was es war.

    Mica lachte leise. »Beides.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Gehen wir?«

    Sie nickte und sprang auf die Füße. »Ja, ich begann auch schon, mich zu langweilen.«

    Hand in Hand gingen sie den überwucherten Pfad hinunter, der von den Hügeln des Totengrundes in den dichten Laubwald führte. Der Wald war nicht weniger abweisend als die Gräber selbst und umgab diesen Ort auf allen Seiten. Der Pfad führte durch den Wald in das Dorf, zu dem der Totengrund einst gehört hatte, aber die Menschen dort hatten schon vor über hundert Jahren aufgehört, ihre Toten hier zur Ruhe zu betten. Sie hatten einem neuen Gott ein neues Haus direkt in der Mitte des Dorfes erbaut und dort lag auch das, was sie nun Friedhof nannten.

    Hier draußen ließen sich nie Menschen blicken und auch nichtmenschliche Fremde waren eine Seltenheit. Lucia fiel der Mann, den Tarock einen »Herrn der Nacht« genannt hatte, wieder ein.

    »Da war ein Fremder in der Stadt«, sagte sie unvermittelt zu Mica.

    Er sah sie überrascht an. »Was ist daran so besonders?«, fragte er.

    Lucia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei ihm. Djanra hat ihn so … so unterwürfig behandelt.«

    Mica zog die Augenbrauen hoch. Eine ganze Weile sagte er gar nichts. »Ich verstehe, was du meinst«, murmelte er dann. »Was wollte er?«

    Erneut hob Lucia die Schultern.

    Sie gingen schweigend weiter. »Hast du schon einmal von einem ›Herrn der Nacht‹ gehört?«, fragte Lucia schließlich.

    Mica schüttelte den Kopf und damit ließen sie das Thema ruhen.

    Eine ganze Weile streiften sie Seite an Seite durch den Frühlingswald. Überall hoben Blüten bereits ihre Köpfchen und sie achteten sorgsam darauf, keine abzuknicken. Es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sie die Pflanzen mit einer Vorsicht bedachten, die sie für einen Sterblichen nie übrig gehabt hätten.

    Endlich entschieden sie, dass es Zeit war, ins Dorf zu gehen und nach Nahrung zu suchen. Um ihr Spiel interessanter zu gestalten, trennten sie sich. Mica nahm den Weg über die Felder und Lucia kehrte auf den Pfad zurück, um sich dem Dorf auf dem direkten Weg zu nähern. Wer als Erster Beute fand, würde den anderen zu sich rufen und dann würden sie teilen – wie sie es mit allem taten.

    Das war nötig, denn Djanra hatte ihnen verboten, mehr als einen Menschen im Monat zu töten. Natürlich genügte das völlig, um ihren Hunger zu stillen, doch schränkte es die Freude am Jagen erheblich ein. Aber es war ein Opfer, das für die Sicherheit der Stadt gebracht werden musste.

    Lucia eilte dem Dorf entgegen. Sie war nicht mehr als ein Schatten, der sich unnatürlich schnell durch die Nacht bewegte. Wäre sie nicht so gierig nach Blut gewesen, hätte sie sicherlich mehr Vorsicht walten lassen, aber sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass ihr irgendeine Gefahr drohen könnte.

    So erkannte sie die Falle erst, als es zu spät war. Sie spürte die Bewegung und wirbelte herum, aber da flog das Netz schon auf sie zu und sie konnte nicht mehr ausweichen. Es verfing sich sofort in ihren Haaren und an ihrer Kleidung. Es war mit einer klebrigen Substanz bestrichen, die sie daran hinderte, es sofort zu zerreißen. Die Zeit, in der sie wütend gegen ihr Gefängnis ankämpfte, genügte den Menschen, die die Falle gestellt hatten, ihre Fackeln zu entzünden und sie einzukreisen.

    Sofort erkannte sie den dunklen Mantel und Hut desjenigen, der die anderen befehligte und anfeuerte: ein Monsterjäger. Djanra hatte sie oft genug vor solchen Menschen gewarnt. Sie waren gefährlich. Sehr gefährlich. Wütend und auch verängstigt schrie sie ihren Zorn in die Nacht hinaus, sicher, dass Mica sie hören und ihr zu Hilfe kommen würde.

    Die Menschen wichen einen Moment erschrocken zurück, aber der Jäger schickte sie gleich wieder vor und die brennenden Fackeln kamen ihr so nahe, dass einige ihrer langen Haare Feuer fingen. Nun kreischte sie in echter Panik auf. Die Menschen spürten ihre Angst und drängten näher. Die Flammen versengten ihre Haut. Die Schmerzen waren furchtbar und sie kauerte sich zusammen, um ihnen zu entgehen, aber es gab kein Entkommen.

    Dann wurde ihr Ruf beantwortet. Wie ein Raubtier fiel Mica über die Menschen her. Sie hörte Todesschreie und wusste, dass er sie retten würde. Sie hob den Kopf, um zu sehen, wie ihre Peiniger bestraft wurden. Das war ein Fehler. Der Jäger stand direkt vor ihr und als sie aufsah, stieß er ihr seine Fackel direkt ins Gesicht. Der Schmerz war unbeschreiblich. Die Welt war von rasendem Feuer erfüllt, dann senkte sich gnädige Dunkelheit über sie.

    ***

    Schmerz war die erste Empfindung, die sich in ihr wiedererwachtes Bewusstsein drängte – Schmerz und dann instinktive Angst. Der erste Impuls war Flucht, aber sie war kein unerfahrenes Kind mehr. Sie blieb reglos liegen und konzentrierte sich ganz auf ihre Sinne.

    Zunächst der Schmerz. Er war da, aber nicht mehr überwältigend, sondern ein dumpfes Rauschen im Hintergrund. Dann lauschen, abschätzen. Stimmen drangen an ihr Ohr. Stimmen voller Emotionen. Vorherrschend Zorn, als Unterton Angst. Gedämpft von … wahrscheinlich einem Vorhang. Vertraute Gerüche ließen sie erkennen, dass sie in ihrer eigenen Hängematte lag.

    Ihre anderen Sinne meldeten sich zu Wort. Mica war in der Nähe. Sofort ließ ihre Anspannung nach. Wo Mica war, war sie sicher. Er würde niemals zulassen, dass ihr etwas geschah. Sie öffnete die Augen vorsichtig einen Spaltbreit.

    Licht fiel unter dem Vorhang hindurch, der den Schlafbereich vom Wohnraum trennte. Von dort drangen auch die Stimmen an sie heran.

    Sie versuchte zu verstehen, was gesagt wurde, und stellte überrascht fest, dass sie die Stimme, die am meisten sprach, nicht kannte. Eine dunkle Stimme mit seltsamen Untertönen, die sie nicht ganz einordnen konnte … Der Fremde, es musste der Fremde sein. Die andere Stimme gehörte zu Djanra, aber er sagte wenig und mit einer Unterwürfigkeit, die sie noch nie bei ihm gehört hatte.

    Sie

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