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Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum
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Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum
eBook628 Seiten9 Stunden

Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum

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Über dieses E-Book

Personenbezogener Liebeswunsch, mit seinen irreführenden Sehnsüchten, poltert durch verschiedene Lebensbereiche und zwei Generationen, verflochten mit Edda, Tochter eines ehemaligen Offiziers der deutschen Wehrmacht.
Die attraktive Edda jongliert sich durch ihre Weltfremdheit, gelenkt und beschwert von festen Vorstellungen und prägenden Erinnerungen aus der Kindheit. Ein zart erwachtes Streben nach geistiger Freiheit und innerer Gelassenheit, tritt dagegen an. Zu ihren amüsanten bis tragischen Bemühungen um Gleichgewicht, zählt der Einblick in die Welt des Yoga, sowie ihr Integrationsversuch in ein traditionell geprägtes, spanisches Dorfleben im Hinterland der Costa Blanca.

Oft verschwimmt die Grenze zwischen Gut und Böse. Wille, Energie und Bewusstsein werden in ihrer Gegenwärtigkeit ebenso deutlich wie die Kraft der Impulse aus dem Unter-bewusstsein.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Juli 2017
ISBN9783745097658
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    Buchvorschau

    Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum - Gabriele Plate

    Prolog

    Er lagerte allein auf Island herum. Zwischen dunkelgrauen Felsen und Pferdeäpfeln gebettet, schlief er in seinem kleinen, leuchtend gelben Iglu Zelt und berauschte sich an dem eventuellen Aufspüren der Berechenbarkeit des Unvorhersehbaren. Er stemmte sich mit Genuss dem starken Wind entgegen, ohne sich als Widerstand zu empfinden.

    Ruben setzte sich niemals willkürlich einer Gefahr aus, er war kein Draufgänger, übermäßig mutig oder dem Heldentum zugetan. Er gab einfach nur dem Ungewöhnlichen die Gelegenheit ihn zu treffen, wobei er glaubte, auch hier den Maßstab setzen zu können. Aus diesen Zusammenkünften gewann er Kraft und Erkenntnis, die er in seine Abenteuer des Alltagslebens zu mischen wusste. Ruben war ein wortkarger Mensch, der selten verzieh und sich ungern erklärte. Er strahlte gesunde Einsamkeit aus, selbst wenn er sich mitten in einer großen Gesellschaft befand. Das war von Zeit zu Zeit der Fall, wenn er Vorträge auf internationalen Kongressen über seine Arbeit hielt. Hier handelte es sich um sachlichen Austausch, um Ergebnisse, die von ihm zur Weitergabe erlangt worden waren. Dafür schienen ihm Worte angebracht.

    Er gab selten etwas aus seinem Herzen preis. Ruben lebte und erlebte bewusst, und er wusste Intrigen oder Psychoterror zu ignorieren. Ebenso unempfänglich war er für jede Art von Manipulation, er reagierte auf derartige Einrichtungen nicht. Er war hilfsbereit und aufmerksam und das Gegenteil, wenn man ihn dazu antrieb, wenn es von ihm erwartet wurde. Ruben war ungewöhnlich wach.

    Er wurde auch geliebt, und jeder Liebende erfuhr schmerzhafte Grenzen, wenn er verlangte. Ruben kannte die Liebe, er verdrehte sie aber nicht, machte sich nicht zum Sklaven ihres Missbrauchs. Er war nicht greifbar, selbst wenn man ihn umarmte, besonders dann nicht. Und, er war eine jener seltenen Gestalten, welche Sehnsüchte in seinem Gegenüber weckten, ohne sich selber an dieser Art von Macht zu berauschen. Er verachtete solche Reflexionen auf ihn nicht, doch schien er sie auch nicht unbedingt zu befürworten. Er vermittelte das Gefühl, niemanden wirklich nötig zu haben, niemanden zu brauchen. Die Vorstellung jemanden zu beengen oder zu behindern war ihm unangenehm.

    Er beklagte sich niemals, glaubte an sein Abenteuer auf der Welt zu sein, an seine Individualität und Freiheit. Er hatte weltliche Ziele, besaß eine konstruktive Neugier, kannte keine Langeweile, und, er pries den Fortschritt der Wissenschaft in jeglichem Bereich. Über alle Maße. Er vertraute dieser und seinem Verstand mehr als allem anderen, gab sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen vor jeder Ahnung den Vorrang, er genoss sie bis in die Wurzeln der Poesie hinein. Das konnte Ruben, auch Poesie war für ihn logisch.

    Die Mär vom vorherbestimmten Karma, belächelte Ruben, er glaubte sein Schicksal lenken zu können. Logik und stoffliches Bewusstsein waren seine Begleiter. Er gestand Nicht-Beweisbarem keinen Millimeter Lebensraum zu, doch es begeisterte ihn die Vorstellung, in einer Gleichung mit vielen Unbekannten zu leben, diese er zu lösen sein Leben widmete. Er war ohne Zweifel im Reinen mit sich selbst. Den einzigen Anflug von Furcht kannte er nur, aus dem Gedanken heraus, einer ihn vielleicht, eines Tages befallenden Demenz. Sonst war ihm das Gefühl von Angst fremd. Nicht vor Tod noch Teufel, diesen wichtigen Werkzeugen des Experimentes Leben. Das war seine Sicht, und er hielt sich mit Konsequenz daran. Ruben war sich treu, und er glaubte nicht zu lügen.

    Dem allgemein üblichen Vorgang traumatischen Erlebnissen Raum im Unterbewusstsein zu gewähren, die Zügel somit einem unberechenbaren inneren Machthaber zu überlassen, verweigerte sich Ruben. Bei seinen erfolgreichen Bemühungen, das Unterbewusstsein zu überlisten, dem Vielleicht-Seelenkummer keinen Zugang zu gewähren, handelte er stets mit bewundernswerter Disziplin an sich. Doch damit konnte er sich letztlich nicht auch noch vor den Traumata seiner Mitmenschen schützen, sich ebenfalls gegen den Zugriff der Leichen aus fremden Kellern wappnen. Eine dieser sich plötzlich aufbäumenden Leichen sollte Ruben zum Verhängnis werden.

    Eddas Fundament

    Es war schon dunkel, beinahe stockfinster. Sie hatte in ihrer verborgenen Baumhütte, hoch oben in der Buche, die Zeit verspielt, verträumt, das was sie am liebsten tat und am besten konnte. Nur das Spiel erschien ihr wirklich, und sie wusste die Zeit mit dieser Wirklichkeit zu bekleiden.

    Edda, in ihr hauste ein unermüdliches Zappeln, das auf der Lauer nach einem Startschuss lag, jenem Moment, der durch das Entdecken irgendeiner scheinbaren Kleinigkeit ausgelöst werden konnte. Sie stolperte immerzu in diese Momente, spielerische Stille folgte. Ihre Hände fummelten diese erblickte Kleinigkeit mit Hingabe zu etwas Anderem zusammen. Zu etwas im Zeitstillstand. Es war die Hingabe zum Spiel, aus der sie schöpfte und von der sie stets angetrieben wurde. Ein permanentes, unbewusstes Sehnen. Das Ergebnis ihrer Handfertigkeit war dabei nebensächlich.

    Diese täglichen Rituale konnten durch ihre Aufmerksamkeit auf ein simples Stück Holz ausgelöst werden, drei Nägel oder einen winzigen Erdhügel. Rostige Metallteile konnten es sein, Knochen, eine kleine Moosfläche, alte Dosendeckel, Regentropfen am Fenster des Klassenzimmers oder seltsam gekrümmte Herbstblätter. Blätter, die sich in kleinen Wirbeln festgetanzt hatten. Gefesselt an eine Endstation, so wie sie sich empfand, wenn sie morgens das Schulgebäude betrat und ihren Nachmittag im Wald in schmerzhafter Ferne wähnte. Als würde ihr Freiheitsbedürfnis durch die Verletzungen des Schulgeschehens jeden Tag ein bisschen kränker werden können. Und dann, irgendwann, wäre es unheilbar krank, es würde sterben, sich auflösen und sie für immer verlassen.

    Edda konnte in Sekundenschnelle zu einem dieser, von ihr bedauerten Blätter der Endstation werden. Sie sprach mit ihnen, befreite, sortierte, hauchte ihnen neues Leben ein. Die Blätter wurden für diesen Tag ihre Gefährten, litten mit ihr, auch weil der Sommer vorbei war. Sie hatten Antworten bereit, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Nicht von Edda.

    Sie baute wochenlang Dörfer mit kleinen Häusern aus Moos. Unzählige, flache kleine Moosplatten, von einem zarten Hausgerippe aus trockenen Zweigen gehalten. Diese Dörfer lagen versteckt, eingebettet zwischen Ilex-Gehölz und lebenden Baumwurzeln, sie waren meist schon nach einem kurzen, heftigen Regenguss zerstört. Die Hütten waren nicht viel höher als ihre Kinderhand, doch sie boten Zuflucht. Stunden vergingen bäuchlings auf der feuchten Walderde. Sie lugte in ihre Mooshäuser und wurde eine von jenen Erdachten in diesem friedlichen Dorf. Sie erdachte sich selbst.

    Es gab immer einen Üblen, der zwar zu ihrem Dorf gehörte, aber stets vor den Toren herumlungerte. Keinen Zutritt bekam. Manchmal war es nur eine bunte Glasscherbe, ein Stöckchen oder ein Kaninchenknochen, um diese Person zu symbolisieren, aber niemals fehlte dieser Schatten. Obwohl sie ihn fürchtete, kreierte sie ihn bei jedem Spiel aufs Neue.

    Heute hatte sie also wieder einmal, hoch oben auf ihrem Baumversteck, das langsame Verstummen der Vögel in der beginnenden Abenddämmerung nicht bemerkt, obwohl die gurgelnd spitzen Schreie des Fasans im nahen, mannshohen Farnkrauthang den Abend deutlich angemeldet hatten. Obwohl die Amsel laut, fast schrill und aufdringlich als Letzte gemahnt, obwohl das Licht längst nicht mehr reichte um sehend vom Baum zu klettern, und, obwohl sie schon seit Stunden den Urindrang und ihren knurrenden Magen ignoriert hatte. Erst das weiche, seufzende Huh-Huch der Waldohreule, ganz in ihrer Nähe, ließ sie in ihrem Spiel innehalten, ließ sie erschrocken in die Baumkronen über sich blicken, um an einer letzten Handvoll Licht die Uhrzeit abzuschätzen. Der Abend berührte schon die Nacht, zitternde Silhouetten und ein allerletztes Grau.

    Edda sah nach unten in die dunkle Tiefe, klemmte sich eilig ihre Clogs vorne in die gestreifte Latzhose und begann mit sicheren Bewegungen und geschlossenen Augen den Abstieg vom Baumriesen.

    Sie bewältigte diesen Abstieg nicht mit geschlossenen Lidern, weil ihr jeder Schritt vertraut war, sondern, da sie aus schmerzhafter Erfahrung wusste, dass die Buche mit kleinsten Zweigen nach ihr schlug, was sich im Dunkeln zu spät erkennen ließ, und sie daher nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Das hatte schon mal eine tagelange Augenklappe zur Folge gehabt und was viel ärgerlicher war, ein Baumkletterverbot.

    Beinahe wieselflink war sie unten. Die Furcht vor den Folgen eines Zu-Spät-Nachhause-Kommens erwachte, begann in ihr zu beben. Vielleicht war Vater noch nicht zurück, hatte eine Autopanne, oder er hatte noch nicht bemerkt, dass sie nicht im Haus war, dass sie noch s p i e l t e, wie er dieses Wort so drohend auszuspucken pflegte, als zähle das Spielen zu den sündhaftesten aller Vergehen. Es kam jetzt auf jede Minute an.

    Hoffentlich hatte er sich heute nicht besonders geärgert. Sich normal verärgert aufzuführen, sobald er nach Hause kam, war eigentlich seine Angewohnheit. Eine Ärgerlichkeit, die sich im Lot hielt, wenn man es verstand sie nicht zu schüren. Edda verstand sich nicht auf diesen empfehlenswerten Leisetritt, sie war in diesem Fall eine Art Schürhaken.

    Nun hoffte sie flehentlich, er hätte noch nicht nach ihr gerufen oder sogar nach ihrer Schultasche gegriffen, Eselsohren und Fettflecken in den Heften gezählt und alte vergessene Pausenbrote im schmuddeligen Ranzen entdeckt. Diese harten, angeschimmelten Hasenbrote. Hasenbrote, die Stullen vom Vortag. Bei Edda lagerten  sie vom Vor- und Vor- und Vortag in den Fächern zwischen den Heften. Vergammeltes Brot, das gehörte zu den Todsünden. Da kam sie nicht mit ein paar Mahnworten davon.

    Spielen, anstatt Vokabeln zu lernen, fettige Hefte, fliegende Brote! Stock oder Gerte? Er ließ ihr die Wahl.

    Edda begann zu laufen. Barfuß, schneller, immer schneller glitten ihre nackten Füße gewandt über den kühlen Waldboden. Sie wusste genau wo, auf diesem etwa ein Kilometer, recht steil abfallendem Trampelpfad, die großen alten Buchen ihre Wurzeln über das Erdreich kriechen ließen. Wo Steine, Fels, Kuhlen, Rillen und Erhebungen waren. Sie wusste wo und wann sie zu springen, hüpfen, laufen oder sich im Schnellflug an den schmalsten Stellen des engen Hohlweges, am Seitenhang wechselseitig abzustoßen hatte. In Windeseile.

    Und dann vergaß Edda warum sie rannte. Sie berührte scheinbar kaum den Boden, flog durch die Nachtluft wie körperlos. Sie nahm sich nicht mehr wahr. Dieser knappe Kilometer bergab, fliegend durch die Dunkelheit, dauerte nur wenige Minuten und doch erschien es ihr wie eine große Reise, zeitlos durch das Licht.

    Sie erreichte den unteren Waldrand, war einen Moment nur erstaunt, Jene zu sein, die sie war und hier zu sein. Dann stahl sie sich noch ein paar letzte Sekunden aus ihrer Welt, hockte sich über den Waldboden, blickte in den Sternenhimmel und pinkelte sich den langanhaltend, wohltuend warmen Strahl über die Hände. Es war ein eigenes Gefühl, und sie konnte das Mädchen mit den Streichhölzern, die Kleine aus dem Märchen, so gut verstehen.

    Die Lichtung, der Bach, das Haus. Der Bach so nahe am Haus. Die nördliche Ecke des zweistöckigen Gebäudes hatte keine drei Meter entfernt von der Bachböschung ihr Fundament. Es gab starke Erosionen und der reißende Wasserlauf spülte sich näher. Oft träumte sie von diesem stürmischen Bach, in dem sie dann samt Haus versank. Erstickte, überschüttet von Geröll und Schlamm.

    Es tönte Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll, bis an den Waldrand. Vater war also schon zurück. Edda zog es vor, nicht die Haustür zu benutzen. Sie lief hinter das Haus, schwang sich auf eine kleine Mauer, die den Eingang zum Heizölraum in Türhöhe schützte. Sie hievte sich von dort auf die Fensterbank und kletterte leise in ihr Zimmer. Sie mochte diesen großen, eckigen, mit 4ooo Liter Diesel gesättigten Metallkasten nicht. Er wirkte bedrohlich und außerdem lagerte in seiner Nähe der Geruch einer Tankstelle. Sie hatte nie verstanden warum dieses Ungetüm direkt unter ihrem Kinderzimmer hockte. Aber die Mauer war hilfreich, da sie sonst nicht unbemerkt ins oder aus dem Haus hätte gelangen können. Niemand ahnte etwas von ihren nächtlichen Ausflügen.

    Edda schien noch einige Momente Zeit zu haben. Sie wusste, wenn Van Cliburn diesen Satz zu Ende gebracht hatte, würde er ihn dreimal in voller Lautstärke wiederholen müssen. Sie schwärmte für diesen Pianisten, nicht wegen seiner Künste, davon verstand sie gar nichts, sondern weil er für sie so richtig aussah. So schön, ein bisschen so, wie sie sich Gott vorstellte. Sie kannte nur das Profil des Pianisten, vom großen Schwarzweiß-Foto des Plattencovers.

    Konnte es schon die dritte Wiederholung gewesen sein? Vater hörte besonders gerne diesen Satz. Edda wusste nicht, warum diese bevorzugten Stellen immer in voller Lautstärke gehört werden mussten, denn er war kein bisschen schwerhörig. Sie erkannte nicht, dass ihr Vater nur das selbstgefällige Tongefüge suchte, es in sich hinein hämmern ließ, während er glaubte sich der Musik hinzugeben. Er berauschte sich dabei an sich selbst, an seinen sentimentalen Gefühlen, die ihm die zugänglichen Passagen vermittelten. Dabei entging ihm der Dialog zwischen Klavier und Orchester, er bemerkte nicht, wo und wann Partnerschaft gefordert oder perfekt erfüllt wurde. Er genoss nur die Ohrwürmer, jene Stellen, welche dieses Meisterwerk in aller Ohren hatte hängen lassen.

    Edda schloss das Fenster, sie hielt die Luft an, riss sich die Hose vom Leib, trat die Schuhe unter das Bett, öffnete die Zimmertür, hielt weiterhin die Luft an bis sich die Zimmerdecke zu drehen schien und rief mit hochrotem Gesicht und kläglicher Stimme nach ihrer Mutter.

    Sein Lieblingssatz war beendet, danach wurde der Rest des Konzertes in den Isobar-Bereich außerhalb der Schmerzgrenze geschaltet, während nebenher das Abendbrot gereicht wurde. Der Speichel, ununterbrochenen Gezeters ihrer Eltern, würzte das Mahl, gesellte sich zu den Background-Tönen der klassischen Musik. Dieses Tongemisch endete meist abrupt mit lautem Türenschlagen.

    Eddas klagende Stimme aber, war bis in die Wohnräume zu hören gewesen. Der vertraut klappernde Schritt ihrer Mutter, die stets Schuhe mit hohem Absatz trug, begleiteten die gedrosselten Piano-Töne in Richtung Kinderzimmer. Edda hatte einen hochroten Kopf und Schweiß überdeckte ihr Gesicht. Ohne sich wirklich einer List bewusst zu sein, kratzte sie sich mit einem ihrer schwarz umrandeten Fingernägel an der inneren mittleren Nasenwand. Es war immer dieselbe Stelle die sofort aufplatzte, bei Druck oder zu starkem Reiben. Schon spritzte das Blut. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und hatte gerade noch drei Sekunden, um das klebrige Rot wirkungsvoll zu verteilen. Sie musste nicht am Abendbrottisch erscheinen, durfte im Bett bleiben und war an diesem Tag den unberechenbaren Launen ihres Vaters entkommen. Launen, die er besonders gerne bei Tisch zur Wirkung kommen ließ.

    Für heute Abend war sie freigestellt von lästigen Schulfragen, diese hatten stets Übelstes zur Folge. Die Fingernagel-Kontrolle fiel somit ebenfalls aus. Wehe die Nägel wiesen schwarze Ränder auf, was nach Eddas Art den Nachmittag zu verbringen, nicht zu umgehen war. Und vor allem gab es keine Strafandrohungen, die sich in die Träume zu wälzen wussten.

    Vater war meistens zu müde, selten wollte er am selben Abend seine Drohung einer Bestrafung in die Tat umsetzen. Während der Nachtstunden sollte seine Tochter Edda sich überlegen, welche Art des Prügelgerätes sie für den nächsten Tag bevorzugte. Ein feiner biegsamer Ast einer Weide, ein Ledergürtel oder die alte Pferdegerte standen ihr zur Auswahl frei. Falls sie sich für die Weide entschied, durfte sie den Stock am Bachrand selber schneiden. Vater prüfte dann fachmännisch diese Wahl auf seine Tauglichkeit. Mit drei, vier schnellen Hieben sauste das Stöckchen vor Eddas Nase durch die Luft. Einmal hatte Vater in seinem Eifer den Ledergürtel zu tief ergriffen, die Metallschnalle war ihm im heftigen Rückschlag gegen seine Hand geschleudert

    Er hatte „Gott Verdammte Scheiße geschrien, „Ich Vollidiot! Der Ledergürtel flog in die Ecke und er hatte sich mit verzerrtem Gesicht die verletzte Hand gehalten, sie blutete und schwoll an. Edda hatte Tränen in seinen Augen entdeckt, das hatte sie noch nie gesehen. Sie hatte Mitleid mit ihm gehabt und ein bisschen über seinen Schmerz mitgeweint. Vater war aus dem Haus gestürzt und für drei Tage verschwunden.

    Die Art, seine angedrohten Strafen zu vollziehen, war nicht sehr einfallsreich, die Auswahl gering. Sie hatte alle Angebote ausprobiert und spürte keinen Unterschied. Sie flehte minutenlang um Gnade und versprach hoch und heilig „Es", was immer es auch gewesen sein mochte, nie wiederzutun. Sie sträubte sich mit Händen und Füssen und schrie schon, bevor Vater sie ergriff. Sie verriet ihren Stolz, kroch tief in die Welt der Unterwürfigkeit, obwohl sie sich immer wieder vorgenommen hatte, weder einen einzigen Laut des Schmerzes, noch eine Träne von sich zu geben. Das war ihr nie gelungen. Die Angst vor dem Schmerz erschien ihr weit qualvoller als der Schmerz selbst. Sie übte, sich dieser Vorfurcht zu entziehen, diesem inneren Zittern das Ruder nicht zu überlassen, an etwas Schönes zu denken, die ganze Nacht. Manchmal gelang ihr das, dann tankte sie Mut und träumte ihre Angst in die Flucht.

    Oft genug hatte Vater seine Strafandrohung am nächsten Tag vergessen, sie konnte ihm drei oder vier Tage später wieder einfallen, und erst dann setzte er sie in die Tat um. So schwebte Edda stets in Angst vor ihm. Sobald sie sein Auto oder seine Stimme von weitem hörte, war sie plötzlich unauffindbar. Ihr wurde früh bewusst, dass die Angst, sowie die Freude vor einem Geschehen, stärker waren als das reale Erleben dieser Sache. Auch die Vorfreude auf die Sommerferien reihte sich in diese kindlichen Bewusstseinsübungen ein.

    Aber an diesem Tag gab es erst einmal Ruhe und seine wortstarken Wutausbrüche und Beschuldigungen gegen unverschämte Gläubiger, Geschäftsleute, die nicht länger auf Mutters Hinhaltetaktiken eingehen wollten, schwebten dumpf über Edda hinweg. Zum Fenster hinaus. Sie hatte in früher Kindheit nicht verstanden, warum Vater diese Gläubiger so hasste. Waren sie etwa nicht die Guten? Gläubiger glaubten doch, glaubten an Gott.

    Mit einem Käsebrot und dem Nachtapfel am Bettrand, einem nassen Tuch im Nacken, Van Cliburn vor Augen und dem angenehm moosigen Geruch an den Händen, schlief sie ein.

    Viel zu lange bevor dieses Haus, zwischen Bach, Waldrand und Lärchenschonung, rechtmäßig bewohnbar gemacht worden war, hauste Eddas Familie darin. Diese alte Bruchstein-Ruine, mit ihrem halben Dach, wollte Vater umbauen und vergrößern, dreifach vergrößern! Obwohl die ursprünglichen Quadratmeter des Hauses für die sechsköpfige Familie mehr als ausreichend gewesen wäre. Sieben Köpfe, denn das Hausmädchen war ihm treu ergeben mitgezogen.

    Da sich dieses halbe Haus in einem Landschaftsschutzgebiet befand, bekam er keine Baugenehmigung für sein Vorhaben. Es sei denn, das Haus wäre schon bewohnt und nachweislich eine größere Renovierung erforderlich. Also ordnete Vater sofort den Umzug an und die ganze Bande, wie er seine Familie nannte, wohnte fortan in dieser romantischen Ruine. Sehr bald gehörte eine Latrine zum Anwesen. Man saß auf einem rohen Holzbalken, der parallel hinter sich, in etwa dreißig Zentimeter Abstand, einen zweiten Balken befestigt hatte. Von beiden Seiten war der Parallelabstand mit Brettern zugenagelt, in der Mitte war nur eine quadratische Öffnung geblieben, das notwendige Loch. Die dadurch entstandenen seitlichen Ablageflächen bewahrten den Benutzer dieser Anlage vor dem Blick in die schlammige Tiefe. Doch nur, wenn er saß. Das Ganze war wie ein Steg auf Stelzen vor den Hang gebaut, man stieg von oben ein. Der Ort war mit einem kleinen Holzdach versehen, das mit Teerpappe vernagelt und mit einem Bretterverhau bis in Sitzsichthöhe ausgestattet war. Diese Notduftvorrichtung war etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt, neben einem großen Holunderbaum. Eigentlich war diese Einrichtung anfangs nur für die Bauarbeiter gedacht, nun war es auch das Familienklo.

    Mutter protestierte, schließlich gäbe es modernere Möglichkeiten solch ein Provisorium einzurichten. Vater fegte ihren Einwand vom Tisch. Es gäbe Schlimmeres als die Benutzung eines Donnerbalkens. „Seine" Kriegsgefangenschaft zum Beispiel! Sie solle hier bloß nicht die Gräfin rauskramen.

    Mutter hatte, zu Vaters Stolz und Ärgernis, einige Tröpfchen blauen Blutes in den Adern fließen, da konnten seine Seefahrer ahnen nicht mithalten. Er war bei weitem kein Befürworter der Monarchie, doch hätte er gerne selbst einige dieser vagen Tropfen in seinem Blut gewusst. Mutter war ihre Familienchronik lästig, er spottete zu oft darüber.

    Also stöckelte sie durch das welke Buchenlaub ins Klo-Kabuff. Dort stand ein gefüllter Metalleimer mit ungelöschtem Kalk zur Verfügung, aus welchem man gelegentlich nach vollzogenem Akt, eine kleine, halb gefüllte Schaufel Kalk durch das Loch schippte. Es streute in die Tiefe und traf nicht immer den fabrizierten Punkt. Edda übte hier mit Hingabe ihre Treffsicherheit und ließ eine Unmenge Kalk in dem Loch verschwinden.

    „Welcher Vollidiot verbraucht hier dauernd den ganzen Kalk zum Scheißen, ich habe doch deutlich genug angeordnet, nur ab und zu eine halbe Schaufel zur Desinfektion." So hörte man Vater über das ganze Grundstück brüllen. Holunderbeeren gab es nicht in diesem ersten Jahr, die Wurzeln waren möglicherweise durch den Kalk verbrannt, oder durch die Überdüngung.

    Etwa dreißig Schritte weiter seitlich, minimal oberhalb, war der Rest des Badezimmers angelegt worden. Eine kleine Holzbrücke führte über ein schmales Bächlein, dessen Quelle ein Kilometer weiter oberhalb entsprang und in den großen Bach mündete. Ein starker Ast, mit einer sauberen Gablung, war zur oberen Hangseite hin, mittig vor der Brücke in das Bachbett gerammt. In dieser Gablung lag, in etwa ein Meter Höhe, ein langes, eisernes Rohr fast waagerecht im fließenden Wasser. Ein großer Teil des eisigkalten, sauberen Wassers wurde in dieses Rohr abgeleitet und ließ einen vollen Strahl in handlicher Höhe in eine Emailleschüssel platschen. Man hatte fließendes Wasser.

    Edda stand breitbeinig, ein wenig gebückt, vor diesem Wasserschwall und wusch sich hastig das Gesicht. Beim Zähneputzen spuckte sie den grauen Schaum in das untere Buschwerk und versuchte jeden Tag ein anderes Blatt zu treffen. Diejenigen, die warmes Wasser für ihre Körperhygiene benötigten, mussten es ins Haus an die Kochstelle schleppen, dort erhitzen und sich mit ihrem wertvollen warmen Nass in irgendeine Ecke verkriechen, um sich, ungesehen von Maurern oder Kindern, zu waschen. Da dieser Zustand fast ein Jahr andauerte, war es im Winter eine Rutschpartie, sich auf dieser vereisten Holzbrücke um das Wasserholen zu bemühen. Diese Anlage wurde auch dann notgedrungen eifrig frequentiert, die Quelle galt in dieser langen Bauzeit als einzige Wasserversorgung für das Haus. Edda stank wie ein Frettchen. Das behauptete zumindest die Hausangestellte, die ihr mit Wurzelbürste und Seife zu Leibe rückte.

    Einige Monate lang konnte man nur ein Wohnzimmer im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer im oberen Stockwerk und eine notdürftig überdachte Außenküche als bewohnbar bezeichnen. Der neue, nicht genehmigte Anbau, war zunächst offiziell im Rohbau steckengeblieben, er war mit einem Bauverbot und Strafandrohung belegt worden, doch heimlich wurde weitergebaut.

    Sieben Personen und ein Hund schliefen im selben Zimmer. Mutter und Vater, oder die treue Hausangestellte mit dem Vater ohne Mutter, schliefen manchmal unten auf dem Sofa. Dann lag Mutter heulend allein in ihrem kalten Bett. Edda schlüpfte gerne zu ihr.

    Im Wohnzimmer wuchsen in hellem Grün die Brennnesseln aus dem festgestampften Lehmboden. Mutter verabscheute diese ganze Situation zutiefst, besonders die Toiletten-Einrichtung. Sie stand unschlüssig in diesem Balkenhäuschen und blickte hinunter auf den anwachsenden Kalk-Gemisch-Haufen. Angewidert zerrte sie ihren engen Kostümrock in die Höhe und holte sich als einzige immer wieder Holzsplitter in den Sitzbereich ihrer Oberschenkel. Einen Nachttopf lehnte sie für das Große ebenso empört ab.

    Vater war hartnäckig, es gab kein zurück. Sie hatte doch auch schon ohne Protest einen „Vierzigtonner" samt Anhänger, voll beladen mit triefend nassem Kies, über glatte Straßen durch dunkle Winternächte gelenkt. Oder unzählige Male verschlafene Penner aus dem Obdachlosen-Asyl aufgesammelt, mit ihnen über den Stundenlohn feilschen müssen. Jene Wesen, die keinen festen Wohnsitz hatten, die am Freitagabend ihren gesamten Wochenlohn ertränkten und am Montagmorgen, verquollen in Nähe des Asyls herumlungerten und auf Arbeitsangebote hofften.

    Mutter gehorchte, eine Verweigerung jeglicher Order ihres Mannes, hätte einem heimtückischen Wunsch zur Ehescheidung entsprochen.

    Eine größere Ladung Fenster war geliefert worden. Vater hatte  ungeduldig auf diese Sonderanfertigung gewartet. Natürlich duldete er kein einziges Standartmaß in seinem Haus. In vorderster Reihe, der zwei Dutzend Fenster, standen drei kleinere, schmale, längliche. Diese waren Vaters spezieller Einfall, sein stolzes Design. Sie waren für das Elternbadezimmer als Eckfenster geplant.

    Edda hätte genau solch ein Fenster dringend gebraucht. Für ihre Baumbude. Damit wäre sie dort oben wunderbar vor dem Wind geschützt, und sie hätte trotzdem noch die großartige Aussicht. Also holte sie die Sackkarre und ein dickes Seil. Es waren so viele Fenster, es würde bestimmt nicht auffallen wenn eins fehlte.

    Sie hievte den Fensterrahmen mit seinem eingebauten Glas auf die Karre und zurrte ihre Beute fest. Dann dachte sie, eigentlich wären zwei Fenster besser, sie könnte sie nebeneinander waagerecht anbringen, so wäre die gesamte Front geschützt. Also knotete sie das nächste Fenster dazu. Als sie gerade losziehen wollte, befand sie, dass das einzig übriggebliebene der kleinen Fenster zu auffällig unter den anderen großen war. Es wurde dazugebunden. Nun war ihre Kraft dieser drei Fensterfracht nicht ganz gewachsen. Sie schob und zerrte, zog und klemmte und war schon mit ihrer Fracht an dem hinteren Teil des Grundstücks angelangt. Es waren nur noch einige Stufen zu überwinden, danach wollte sie ihr Diebesgut verstecken und einzeln zu ihrem Baum transportieren, um es dann, so wie alles andere, was sich in diesem Nest befand, von oben hochzuziehen.

    Sie ächzte schwer, verlor den Halt, die Sackkarre überschlug sich und hoppelte mit großem Geklirr und Gepolter die fünf Stufen hinunter. Es waren nicht nur die Scheiben zerdeppert, auch die Holzrahmen waren schwer beschädigt. Edda hatte die Knie aufgeschlagen und tiefe Schnittwunden an den Unterarmen. Alles wurde desinfiziert und danach bekam sie eine mittlere Tracht Prügel. Vater hatte den Lärm gehört und war hinzugeeilt. Sie war mehr erschrocken darüber, dass er plötzlich vor ihr stand, als dass sie den Schmerz der Strafe spürte. Sie hatte sich doch vorher vergewissert, dass sein Auto nicht da war. Wo kam er plötzlich her?

    „Sein Wagen ist in der Werkstatt", sagte einer der Arbeiter mit Bierfahne grinsend, als er Eddas erstaunten Blick bemerkte.

    Vater war ein Hau-Ruck-Mensch. Wenn es etwas zu erledigen gab, selbst wenn es Zweifel aufwarf, stützte er sich auf die Tat und führte sein Vorhaben mit energischen Schlägen durch. Als wollte er sich und der Welt beweisen, dass man nur mit sofortigen Entscheidungen zum Ziel kommt. Weiterkommen, nannte er das. Mit eventuellen Fehlern konnte man sich später befassen. Erst einmal handeln, war seine Devise. Als säße der Teufel persönlich hinter ihm, mit der Drohung, sofort oder gar nicht.

    Schon als junger Offiziersanwärter hatte er außergewöhnlich schnelle Entschlusskraft bewiesen. Er hatte Eddas Mutter nach wenigen Minuten des Kennenlernens, genauer gesagt nach einem halben Walzer, auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in der Weihnachtszeit, einen Heiratsantrag gemacht. Er stand mit seinen Kameraden auf der Bühne und brillierte. Sie gaben in der Gruppe irgendetwas zum Besten, wobei er die Gelegenheit hatte sich besonders hervorzuheben. Tosender Beifall, besonders der reichlich anwesenden jungen Damen. Sie fiel ihm in der Roben-Menge sofort auf. Sie bewegte sich mit der eleganten Selbstverständlichkeit jener Menschen, die im erhabenen Luxus aufgewachsen, gesund und schön sind.

    Er schielte von der Bühne hinunter zu der attraktiven, jungen Frau und hatte nach der Vorstellung, in wenigen Minuten Erkundigungen über sie eingeholt. Es gab Leute im Saal, die sich für derartige Informationen bezahlen ließen. Er verliebte sich augenblicklich in sie und in ihr zu erwartendes Erbe. Vater legte sich ins Zeug. Auf solche Männer war sie in ihrer aufwendigen Erziehung nicht vorbereitet worden, sie fand ihn schneidig, mit-und hin-reißend. Der Schirm seiner Uniformmütze schwebte in Nasenwurzelhöhe über seinem Blick. Er sah sie darunter mit hoch erhobenem Kinn forsch und erobernd an, klemmte diese Kappe galant unter den Arm und bat sie um einen Tanz. Er war ein fabelhafter Tänzer. Nach Beendigung dieses schwebenden Vergnügens wusste sie um seine Liebe zu ihr.

    Sie war mit einem braven Cousin zweiten Grades verlobt, das Vermögen sollte in der Familie bleiben. Was der schnittige Tänzer in Uniform nicht wusste, es gab eine Klausel im Testament ihres früh verstorbenen Vaters. Das Töchterlein sollte, falls sie nicht standesgemäß heiratete, enterbt werden. Damit gedachte der Verstorbene sein Kind vor Erbschleichern zu bewahren.

    Standesgemäß, zu dieser Einschätzung war der ältere Bruder ihres verstorbenen Papas auserwählt worden, ihr gesetzlicher Vormund. Sie war als junge Vollwaise in die Familie dieses Onkels aufgenommen und wie eine geliebte Tochter behütet worden. Dieser Onkel hatte auch ihren Vetter als geeigneten Verlobten vorgeschlagen. Vater hatte nun diese behütete Waise, mir nichts dir nichts entjungfert. Das hatte dieser Schlapp-Schwanz von Vetter natürlich erst für die Hochzeitsnacht geplant. Als die Einwilligung, diesen jungen Wilden zu ehelichen, nicht erfolgte, entführte der wilde Nicht-Akademiker kurzerhand seine Auserwählte. Mutter ließ sich begeistert entführen, endlich kam Spannung in ihr Leben und so sollte es auch bleiben. Ihr wurde sofort ein Pflichtteil des Erbes ausgezahlt, der erheblich höher war als Vaters gesamte Seemannssippe in einem halben Jahrhundert hätte anschaffen können. Sie schenkte ihm zur Verlobung einen BMW Cabriolet. Er setzte sich einige Stunden in den Zug und holte freudig das Auto vom Werk ab. Ein Modell, das zu jener Zeit erst ein halbes Dutzend Mal auf deutschen Straßen zirkulierte. Vater war sehr stolz darauf, und er blieb drei Tage länger als nötig von seiner frisch Verlobten fern, um dieses Geschenk mit einer Ex-Freundin gebührlich zu feiern. Er konnte atemberaubend spontan sein.

    Sie heirateten und lebten in einem ihm unbekannten Saus und Braus. Sie hatte kein Empfinden für Geld, es hatte noch nie gefehlt und war zum Ausgeben da. Sie beschenkte seine Familie großzügig, ließ sie aus Paris einkleiden, und man hatte keinerlei Bedenken verschlissene Wollmäntel mit edlen Pelzen zu vertauschen. Sie kaufte Möbel und erfüllte sogar den Wunsch ihrer Schwiegermutter nach einem Piano. Das geschah zu einer Zeit, als man an hohlwangigen Nachbarn schon erkannte, dass der Hunger kein Fremder war.

    Mutter verteilte aus vollen Händen und das war gut so, denn es dauerte nicht mehr lange, da war ihr Haufen Papiergeld nur noch Papier. Die Inflation machte sie zu einer beinahe mittellosen Frau. Beinahe, denn sie besaß wertvollen Familienschmuck, den man ihr hatte aushändigen müssen, da er ihr schon vor der Heirat gehört hatte. Eddas Mutter bewegte sich ihr Leben lang weiterhin so, als wäre sie noch die wohlhabende Frau der Vergangenheit. Besonders selbstsicher und erfolgreich konnte sie sich bei den Bankdirektoren um Kreditbewilligungen bemühen, um die schwindelerregenden Projekte ihres Mannes zu ermöglichen. In seinen Händen aber war sie willenlos, und ebenfalls konnte sie keinen Wunsch eines ihrer Kinder abschlagen. Solange es in ihrer Möglichkeit stand, erfüllte sie die Wünsche ihrer Brut. Dann machte sie oft scheinbar Unmögliches möglich. Sie unterschrieb auch Verträge oder Verantwortungen, unbesehen, wenn ihr Ehemann es anordnete.

    Zwei Polizisten samt Gerichtsvollzieher bollerten eines Tages an die Haustür, um sie zu verhaften. Das kam nicht überraschend. Mutter lachte, Edda heulte. Die Geschwister waren in der Schule. Die Verhaftete zog sich ihren alten Edel-Pelz über, der inzwischen wieder modern war und schritt plaudernd mit den Ordnungshütern davon. Der Gerichtsvollzieher war mit der Zeit ein wohlgesonnener Vertrauter geworden.

    Vater hatte Heizöl aus dem Tank unter Eddas Zimmer entnommen, nicht nur einmal. Für diese Aktion wurde ein Lastwagen unterhalb der Einfahrt zum Grundstück geparkt. Das Ende eines langen Schlauches wurde im höher gelegenen Haus in den Heizöltank gesteckt. Breitbeinig stand Vater dann auf der Ladefläche des Lastwagens, vor leeren, dort gelagerten Zweihundertliterfässern und sog am anderen Schlauchende. Edda war neugierig, sie wollte auch mal saugen. Sie nuckelte vorsichtig.

    „Heftig saugen, nicht nachlassen, schneller, fester", waren die Kommandos ihres Vaters. Irgendwann hatte sie den Dreck im Mund. Ekelhaft. Edda wurde diesen Dieselgeschmack tagelang nicht los. Mutter schimpfte.

    „Sie soll endlich kapieren, dass man nicht Allem und Jedem vertrauen darf", meinte Vater.

    „Wem soll sie denn vertrauen, wenn nicht dir", war Mutters empörte Antwort. Es kam sehr selten vor, dass sie ihm offen widersprach.

    Er füllte einige Fässer und fuhr diese bis ins Münsterland, zu seiner neuen Baustelle. Das wiederholte er einige Male. Er wartete auf den Abschlag für den ersten Bauabschnitt, der war immer noch nicht überwiesen worden. Da kein Kapital zur Verfügung stand und er Sprit für die Baumaschinen brauchte, damit es weiterging, nahm er das Heizöl. Er war hoch verschuldet. Das Heizöl wurde immer auf Mutters Namen bestellt, da sie offiziell die Hauseigentümerin war. Also bekam sie die Anzeige wegen Zollvergehens. Irgendjemand hatte ihn verpfiffen. Das Heizöl für Wohnungen kostete zu der Zeit elf Pfennig pro Liter. Der Diesel für LKWs und Baumaschinen war doppelt so teuer. Aber deshalb hatte Vater es nicht abgezapft, sondern weil es ihm schließlich gehörte, er es dringend brauchte und kein Geld hatte, um welches zu kaufen. Das Zollamt schätzte, wie viel und wie oft er in den letzten Monaten aus dem viertausend Liter Tank, Diesel entwendet und zweckentfremdet haben könnte. Mutter bekam eine hohe Geldbuße, die sie nicht zahlen konnte. Beugehaft war die Alternative. Diese Ankündigung war keine Überraschung, denn die Drohung hatte sich über einige Wochen hingezogen, bis die freundlichen Polizisten eintrafen.

    „Bin gleich wieder da", hatte sie Edda tröstend zugerufen. Und wahrhaftig, wenige Stunden später war sie zurück. Auf sie konnte man sich verlassen. Der Rechtsanwalt, der zahlreiche Streitereien für Vaters Firma ausgefochten hatte und dessen reichliche Honorarforderungen noch offen waren, hatte trotzdem aus seinen Privatpfründen das nötige Geld aufgebracht und Mutter ausgelöst. Das hatte eine heftige Eifersuchtsattacke ihres Ehemannes zur Folge gehabt, er wollte noch am selben Abend los, um dem Kerl die Eier abzutreten.

    Mutter konnte überzeugend auftreten, doch sie war sehr müde geworden. Wenn ihr der Rücken wehtat, rief sie manchmal nach ihrer kleinsten Tochter und nach Edda. Sie legte sich auf den Fußboden, und die beiden Kinder durften abwechselnd über ihren Rücken balancieren. Auf und ab, das machte Spaß. Mutter schnaufte in die Wolldecke unter sich und stöhnte. „Gut so, genau, da, ja, und weiter oben."

    Etwa ein Viertel des alten Hauses war auf Vaters Anweisung hin unterkellert worden, der obere Teil, fachmännisch nach gutem Bergmannswissen, abgestützt. Es war der Teil des Wohnraumes darüber, aus dessen Bodenritzen die Brennnesseln drangen. Am Tag zuvor waren die Pfeiler gegossen worden. Der Polier meinte, es sei zu früh, um die Holzstützen zu entfernen, man solle bis zum nächsten Tag warten. Vater bediente sich einer rauen Sprache, besonders wenn er seine Arbeiter mit Witzen begeisterte. Arschlöcher und Fotzen stolperten im Rudel durch das Buschwerk seiner Annäherungsversuche an den Humor.

    Diesem Polier wurde nun aufs deutlichste empfohlen, sich seine beschissene Weisheit unter die Nille zu schieben. Edda hatte schon öfter von dieser Nille gehört, denn dahin sollten sich auch die Gläubiger etwas schieben. Sie hatte in jüngeren Jahren Ausschau gehalten, nach diesem eigenartigen Ding. Es war ein lustiges Wort, und sie hatte damals gedacht, es könnte sich vielleicht um ein kleines, bunt gefüttertes Geheimkästchen handeln. Warum schob man die empfohlene Sache nicht dort hinein, sondern darunter? Inzwischen hatte sich dieses Missverständnis geklärt.

    Der Polier verweigerte Vaters Befehl, was seine Vorhaut betraf, sowie den Abschlag der Stützen. Vater schob ihn ärgerlich zur Seite, schließlich war er auch Brückenbauer, er hatte hundertmal und mehr, Stützen entfernen lassen. So nahm er selbst den großen Vorschlaghammer zur Hand und schlug kräftig zu. Eine Holzstütze nach der anderen fiel zu Boden, es war ein Wald von Holzstämmen, den das Wohnzimmer unter sich hatte. Es abstützte!

    Vater wusste, dass der Stahlbeton wenigstens vierundzwanzig Stunden benötigte, um einen belastbaren Härtegrad zu erreichen. Ihm war auch keinesfalls fremd, dass er mindestens sechsunddreißig Stunden benötigte, um zusätzlich seiner errechneten Druck- und Zugbelastung gerecht werden zu können. Es waren aber seit Beendigung der Betonschüttung keine achtzehn Stunden vergangen.

    Mutter hörte ein komisches Geräusch. Sie war mit ihrer Ältesten im Wohnraum. Diese sah einen lebendigen Riss an der tragenden Wand. Ein Riss der sich in Sekundenschnelle vergrößerte, plötzlich in Handbreite aufklaffte und dort den Himmel ein Stück ersichtlich  machte. Dann hörte man Vaters Schreie.

    „Alle Mann raus, das Haus bricht zusammen. Alle Mann raus, verdammte Bande, raus da, RAAUUUS! SOFORT!"

    Mutter ergriff in Panik das lebensgroße Ölgemälde ihrer früh verstorbenen Mutter, welches sie auf die abenteuerlichste Weise durch den Krieg geschleppt hatte und stürzte hinter ihrer Tochter her. Beide waren keine zwei Minuten draußen, in sicherem Abstand, als das Haus einstürzte. Es riss etwa ein Drittel der Ruine mit sich, also mehr als die gesamte momentan bewohnte Fläche ausmachte. Unglaublicher Lärm begleitete das Geschehen, gefolgt von einer kilometerweit sichtbaren Staubwolke. Das Haus war recht einsam gelegen, von der Straße nicht einsehbar, doch etwa zehn Minuten später standen, von der Staubwolke angelockt, fremde Schaulustige vor dem immer noch rauchenden Trümmerfeld. Doch das war etwas später, zuerst einmal gab es ein herzzerreißendes Gejammer von Eddas Mutter.

    „Edda, Edda! Mein Kind, mein Kind, nein, oh Gott!" Sie heulte schrecklich, schrie und wühlte mit abgeknicktem Stöckelschuh in den Trümmern nach Edda.

    Vater war in seinem Element, Katastrophen lagen ihm. Er teilte sofort alle Zuschauer ein. Sie gehorchten wie hypnotisiert. Meter für Meter wurde vorsichtig, systematisch der enorme Schutthaufen geöffnet. Man vermutete unter jedem Stein die zerschmetterte Edda zu finden, das geliebte Kind.

    Auch Vater rief ununterbrochen nach ihr. „Edda, kannst du mich hören, hörst du mich!" Das klang sehr flehend.

    Edda war nach der Fenstergeschichte, damit die Strafe auch ordentlich abgerundet wurde, auf den Speicher geschickt worden, um dort den ganzen Nachmittag vor der Riesenanzahl alter Dachfenster zu hocken und den alten Kitt mit einem Spachtel auszukratzen. Es waren wirklich viele Fenster! Edda hatte eine kurze Besichtigung gemacht und entschieden, erst einmal zu flüchten. Auf ihren Baum. Sie entwischte unbemerkt, holte sich aber vorher noch aus dem blechernen Brotkasten, in den die Mäuse keinen Einlass fanden, ein doppeltes Stück Apfelkuchen und eine Flasche Dauermilch aus dem Vorrat. Sie nahm eine Wolldecke mit und wollte schmollen.

    Kurze Zeit später hörte sie den Lärm, lief hinunter an den Waldrand und sah die Bescherung schon von weitem. Dann hörte sie ihre Mutter nach Edda jammern. Edda stockte und huschte seitlich ins Farnkraut. Sie sollen alle mal ein bisschen um mich bangen, dachte sie. Am liebsten, nachdem sie gerade verhauen worden war, stellte sie sich ihre eigene Beerdigung vor. Sie wollte ihren Vater gerne um sie heulen sehen. Aber das hier, war auch nicht schlecht. Sie würden eine ganze Zeit brauchen, diesen Schuttberg zu durchwühlen.

    Edda beobachtete einige Minuten schmunzelnd ihre trauernde Familie. Sie hörte noch wie ihr Vater die Polizisten, die inzwischen auch eingetroffen waren, ungeduldig anschnauzte. Sie sollten gefälligst einen Krankenwagen anordnen, es sei möglich, dass sich seine Tochter unter diesen Trümmern befinde. Dann wühlte er weiter nach ihr.

    Edda schlich zurück auf ihren Baum und verspeiste genüsslich den Kuchenrest, holte ihren Schmöker heraus und freute sich, dass man um ihr Leben bangte. Erst als die Dämmerung einsetzte, stieg sie herab und wagte sich langsam in den Kreis des Scheinwerferlichtes, welches die verbissen schaufelnden Männer umgab. Vater entfernte schnell und vorsichtig, total nassgeschwitzt, einen Steinbrocken nach dem anderen. Schwere große Natursteine. Er wischte sich mit dem Arm über die Stirn und sah sehr verzweifelt aus.

    Edda bemerkte, er hatte blutige Hände, das beeindruckte sie besonders. Ihre übrigen Familienmitglieder saßen niedergeschlagen am flackernden Feuer, in der Nähe des Schutthaufens. Edda kam angeschlendert, die Hände in den Hosentaschen, ihre Stimme betont lässig. „Was ist denn hier los?"

    Vater blickte auf, sah sie an und wusste Bescheid. Er stürzte aus den Trümmern, umarmte Edda wie noch nie zuvor, bedeckte sie kurz und heftig mit Küssen auf Kopf und Wangen, um sie dann übers Knie zu legen und ihr mit blutiger Hand den Hintern zu versohlen. Ohne Stock.

    Danach durfte Mutter an die Reihe, alle umarmten und herzten Edda. Man hatte bis dahin nur den toten Hund geborgen, der die Angewohnheit gehabt hatte, sobald er Vater brüllen hörte, sich eiligst unter Eddas Bett zu verkriechen. Mit diesem Bett war er in die Tiefe gestürzt. Alle Dachfenster waren zerstört. Gut, dachte Edda, dass ich mir diese blödsinnige Arbeit gespart habe. Noch nie hatte sie sich so wenig, oder besser gesagt gar nicht, gedemütigt gefühlt, wie nach dieser zweiten Tracht Prügel an diesem Tag.

    Eine Woche später hatte Vater seine Baugenehmigung. Man konnte eine ganze Familie schließlich nicht in einem Trümmerfeld leben lassen. Keiner der Beamten wusste wie das Haus vorher ausgesehen hatte, wie viele Stockwerke oder Quadratmeter Wohnfläche genau, es vor dem Zusammenbruch gegeben hatte. Nichts dergleichen war aus den alten Papieren ersichtlich. Die Erkundigungen beim Katasteramt waren ergebnislos. Gerade in diesem Teil der Luftaufnahmen konnte man nichts Genaues sehen, da das alte Haus aus der Vogelperspektive zum Teil von den Buchenkronen verdeckt war. So wurde es dreifach größer wieder aufgebaut, genau nach Vaters Plan. Es hatte drei Bäder, eine Sauna mit Schwimmbecken und ein Kaminzimmer in teutonischen Maßen. In seinen Räumlichkeiten hätte ein Stab Pioniere, samt Familienangehörigen, Platz gefunden. Vielleicht war es genau das, was Vater bedacht hatte. Außerdem schien es zum größten Teil aus Fenstern zu bestehen. Acht Monate im Jahr wollte die Zimmertemperatur, trotz Heizung, nicht über 17 Grad hinaufklettern.

    Aber so weit war es noch lange nicht. Zunächst wurde ein großer Bauwagen auf das Grundstück gestellt. Darin waren sechs Betten untergebracht, im Zweierpack übereinander montiert und im hinteren Teil des Bauwagens befestigt. Im vorderen Teil fand der Rest statt. Mutter wurde bald aus diesem Teil des Albtraumes erlöst, wie sie die Situation nannte.

    Eines Tages entdeckte die ergebene Magd, dass der Herr des Hauses mit einem anderen Hemd am Leibe zurückkam, als es am Morgen beim Verlassen seines Clans der Fall gewesen war. Ein frisch gebügeltes Oberhemd. Auch seine Rasur war makellos, sichtlich keine Stunde zurückliegend. Es wurde so lange gebohrt, bis sich herausstellte, dass er schon seit Monaten seine Sekretärin bestieg und ihr luxuriöses Bad benutzte. Vater wurde des Verrats angeklagt. Mutter mietete ein kleines Apartment in der nächsten Kleinstadt, und Edda musste eine Weile das Geräusch der klappernden Absätze am Abend, bevor Mutter das Kinderbett erreichte, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, vermissen.

    Nach einigen Monaten, Edda war schon ins nächste Schuljahr gerutscht, was einem kleinen Wunder glich, waren endlich einige Zimmer im neuen Haus bewohnbar. Die kleine angemietete Wohnung wurde nun als Büro genutzt, und Mutter residierte wieder Tag und Nacht bei ihrer Familie. Man hatte sich schnell an die enormen Räumlichkeiten gewöhnt.

    Vater hatte am ersten Abend des Einzugs seiner Beethovenphase Ausdruck verliehen. Er ergötzte sich an der Überschaubarkeit einiger dieser Werke, ließ sich, je nachdem wie der Meister es den Noten befahl, in Hochstimmung oder sentimentale Rührung versetzen. Er verlangte klare Gefühle beim Musikgenuss, keine Experimente, und er ahmte dabei gerne die Bewegungen eines Dirigenten nach. Sein Musikgeschmack duldete keinen Anspruch an freies Empfinden oder Erstaunen in der Aufnahme unvorhergesehener Tonfolgen.

    Eddas große Schwester hatte eine LP geschenkt bekommen. Vater kam nach Hause, stürzte an den Plattenspieler und entfernte den Tonarm manuell mit einem Ratsch von der Schallplatte. „Was macht diese Negermusik in meinem Haus", bellte er.

    Er war kein romantischer Mensch, doch bestimmte Musik und Heldenhaftigkeit rührten ihn. Er umarmte, um geliebt zu werden. Er half, um Bewunderung zu ernten und er verbrachte Heldentaten, um gerühmt zu werden. Er schien nichts zu vollbringen, einfach nur um der Sache willen.

    Vater litt immer noch unter dem Nichtsieg des Vaterlandes. Zumindest grub sich das so, aus seinen Reden entnommen, in Eddas Bewusstsein. Es war überaus erstaunlich, dass er sich mit Sieg oder Untergang einer Nation identifizierte, da er gewiss nicht für das kollektive Empfinden geschaffen war. Sein Ego war unverwüstlich.

    Er klaubte gerne Gegebenheiten aus der Vergangenheit heraus, drehte daran herum und konstruierte ein neues Gerüst für die Gegenwart. So schlüpfte er aus diesem Neubau als der Gute, der Schlaue oder Unschuldige hervor. Er fingerte in dunklen Löchern der Vergangenheit, knetete und roch, bis sie sich erhellten. Danach wiederholte er gedanklich oder verbal viele Male den neuen, für ihn günstigeren Umstand, bis er ihn am Ende selber glaubte. Das war der entscheidende Punkt, er glaubte wirklich an das, was er sich zurecht gedacht hatte.

    Es muss ein mühsames Schleppen gewesen sein, aber er krallte sich an diesem Gewicht fest, als sei es das gewesene Selbst. Er konnte eine Person verurteilen oder bevorzugen, auf Grund seines Fantasiegeflechts. Die Familie versuchte mit dieser seiner Eigenart Schritt zu halten. Sie versuchte ihr Bestes.

    Vaters Einfälle

    Eddas Vetter, ein Psychiater, den sie viele Jahre später einmal darauf ansprach, erklärte ihr, dass dieser Vater die Verdrängungskunst perfekt beherrsche. Das müsse so sein, sonst könne er die Kriegslasten nicht tragen. Eine schwere Krankheit, die besonders bei den Überlebenden des Krieges seiner Generation sehr verbreitet ist. Auch eine jahrelange Therapie würde, nach so langer Zeit, in den wenigsten Fällen Erfolg haben. Der Kranke, so müsse man ihn wohl nennen, ist oft so schwer traumatisiert, dass er irgendwann, früher oder später, unter totalem Realitätsverlust leide, nicht zuletzt um sich zu schützen. Er hocke in seiner ausgepolsterten Höhle als der einzig Gute und sähe nur noch Feinde und schlechte Menschen, da er selber zu intensiv und lange, schlecht und Feind gewesen sei. Arroganz käme auch noch dazu, weil diese Überlebenden sich unbewusst für unsterblich hielten.

    „Es wird leider noch eine Weile dauern bis sie aussterben. Ein wahres Übel der Menschheit, diese Alten, diese Kriegsveteranen."

    Er sah Eddas entsetztes Gesicht und fügte hinzu, diesen Satz nicht als Arzt ausgesprochen zu haben, sondern als direkt Betroffener eines dieser Verrückten in seinem nahen Familienkreis.

    Edda erfand ihre Sprache für das Wortlose schon sehr früh, viele Jahre bevor sie an den Waldrand gezogen waren. Sie war noch kein Schulkind gewesen, als ihr der Keuchhusten den Kleinkindspeck raubte. Sie war besorgniserregend dünn geworden und hustete oft noch so stark, dass sie sich erbrach, obwohl die akute Krankheit schon seit Monaten überstanden war. Schon beim ersten Hustenreiz kotzte sie los. Das nervte Vater ungeheuerlich, doch je mehr er befahl mit dem blödsinnigen Keuchen aufzuhören, umso öfter keuchte und kotzte Klein Edda ihm vor die Füße. Dem dringenden Rat des Arztes folgend, schickte man sie nach Bad Kreuznach in ein Kinder Erholungsheim. Edda war knappe Fünf und hatte das Gewicht einer gesunden Dreijährigen. Der Zug war beladen mit ängstlichen Kindern, welche alle ihr Namensschild um den Hals gebunden auf der Brust trugen. Zwei Schwestern vom Roten Kreuz begleiteten diese Fracht. Edda war noch nie von ihrer Familie getrennt gewesen. Sie war eine der Jüngsten im Heim, in dem großen Schlafsaal war sie aber das einzige Kind, dem ein Gitterbett zugewiesen wurde. Sie konnte natürlich hinausklettern, die Seitengitter waren hier nur zum Schutz gegen das Herausfallen gedacht.

    Da sie den Esstisch nicht verlassen durfte, bevor ihr Teller Wirsing Eintopf leer gegessen war, wurde sie gleich am ersten Tag der Buhmann. Sie saß stundenlang vor diesem Teller, sprach mit den Fliegen, die vergnüglich an den glibberig weißen Speckwürfelchen saugten, die sie spielerisch um den Tellerrand drapiert hatte. Natürlich gab es zur Strafe keinen Nachtisch für sie, die Kalorienbomben für die Kinderschar. Eddas Gewicht fiel weiter.

    Kinder hatten in diesem Haus an Gewicht zuzulegen, es war die oberste Pflicht der Schwestern, darauf zu achten. Die Gewichtszunahme wurde jede Woche dokumentiert. Keine Gewichtsabnahme! Aus diesen Zahlen ergab sich die Notwendigkeit dieses Establishments, sie rechtfertigten die Subventionen.

    Alle Kinder aßen freiwillig, nur Edda nicht. Man versuchte sie zu nudeln. Eigentlich aß sie gerne, aber niemals viel, außerdem gab es hier nur Speisen, die sie nicht mochte. Man hielt sie zu zweit fest, und eine dritte Person schaufelte ihr die kalten Speckbröckchen ihres Tellerrandes in den gewaltsam geöffneten Mund. Speck macht fett, das wusste jeder.

    Edda schluckte, hustete und kotzte. Nach einigen weiteren Versuchen, die Nahrung gewaltsam einzuverleiben, entschied man, dass sie ungehorsam sei und sich für den beliebten Nudelakt nicht eigne. Ihre Tasse Milch wurde von nun an mit flüssiger Sahne angereichert. Man gab ihr nur noch dick belegte Käsebrote mit viel Butter zu essen und doppelte Portionen Schokoladenpudding. Sie aß, allerdings einsam

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