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Und der Zug fährt weiter
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eBook221 Seiten3 Stunden

Und der Zug fährt weiter

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Über dieses E-Book

Zweiter Weltkrieg. Für die Deutschen gestaltet sich das tägliche Leben immer schwieriger. In dieser Zeit wächst Hanna, die Hauptfigur des Romans auf. Sie überlebt die Bombardierungen und entflieht schließlich mit ihrem Bruder und ihrer Mutter der zerstörten Stadt. Auf ihrem Lebensweg lernen wir Hanna als mutige, starke Frau kennen, die nie aufgibt und sich allen Herausforderungen der Gegenwart, dem Heute, stellt.

Ein spannendes Buch, fantasievoll und lebensnah. Ein Buch, das der Leser nicht aus der Hand legt, fesselnd von der ersten Seite bis zur letzten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Nov. 2015
ISBN9783739296456
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    Buchvorschau

    Und der Zug fährt weiter - Eva-Maria Naumann

    Zuhause

    1

    Kinderjahre

    Stille beherrschte den Raum. Nur die alte, von Hand geschnitzte Uhr aus England an der Wand machte ihr gleichmäßiges Ticktack und ließ die Zeiger unaufhörlich im Kreis wandern. Müde ruhte die Greisin in ihrem geblümten, schon etwas verschlissenen Ohrensessel. Die Sonnenstrahlen schienen auf ihre vom Leben und Alter gezeichneten hageren Hände. Sie ruhten leicht gefaltet auf ihrem Schoß. Gedankenverloren blickte die Greisin auf den blühenden Kirschbaum hinter dem offenen Fenster. Ein sanfter Wind bewegte die blütenbeladenen Äste und verlieh der weißen Pracht etwas Leichtes, Schwebendes, gab ihr das Aussehen von einem zarten Brautschleier. Die Gedanken der Greisin wanderten zurück zu ihrer Kindheit. Ihr Leben begann an ihr vorbeizuziehen, gleich einem Zug, der auf seiner Fahrt auf vielen Stationen anhält, mal länger, mal kürzer, und dann wieder seine Fahrt fortsetzt, immer weiter und weiter, um an sein Ziel zu gelangen.

    Es war Krieg. Wie ein riesiger Drache kam er immer näher und näher an die Städte heran, Feuer speiend, um alles in Brand zu setzen und zu zerstören. In dieser Zeit, in der überall Sorge und Elend herrschten, wuchs Hanna mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Heinz in einem Vorort einer Großstadt auf, in der Platanenstraße 5. In dieser Straße hatte die Straßenbahn 77 ihre Endstation. Links und rechts standen in kurzen Abständen alte Platanenbäume, die sich nach den hier endenden Schienensträngen noch ein Stück weiter fortsetzten. Ein solch alter Platanenbaum mit dichter Krone stand vor einem zweistöckigen, weiß verputzten, sauberen Doppelmietshaus. Der schöne, große Wintergarten an der Frontseite gab dem Mietshaus eher den Charakter einer großen Villa. Ein kleiner Vorgarten mit zwei jungen Birken und einem niedrigen Holzzaun grenzte das Anwesen von der Straße ab. In »Villa 5«, wie die Nachbarn dieses Haus nannten, lebte Hanna in der Geborgenheit ihrer Familie und in ihrer Kinderwelt. Noch ahnte sie nicht, wie schnell sie aus dieser herausgerissen werden sollte. Die Platanenstraße war eine ruhige Straße. In der Kriegszeit fuhren nur noch wenige Autos und nur ganz bestimmte, wie zum Beispiel das Eisauto, das in regelmäßigen Abständen die langen Eisblöcke für die Eisschränke in die Haushalte brachte – elektrische Kühlschränke, die heute in keiner Küche fehlen, gab es in dieser Zeit nicht. Oder das gelbe Postauto kam, um Pakete abzuliefern. Und jede Stunde kam die »77er« pünktlich am Schienenende an und machte eine kleine Pause, bevor sie dann wieder stadteinwärts fuhr, nachdem der Fahrer das weiße Schild mit dem Namen des Zielortes gewechselt hatte. Ankunft und Abfahrt kündigte die Tram, wie sie vielerorts genannt wurde, jedes Mal mit längerem Klingeln an, sodass die spielenden Kinder auf der Straße sie schon von Weitem hören konnten und zum Achtgeben aufgerufen wurden. Neben »Villa 5« fiel ein gelber Klinkerbau in einem wunderschönen Garten auf, der bewachsen war mit vielen Rhododendron- und anderen Zierbüschen. Im Sommer wetteiferten die Rhododendrenblüten mit der Vielfalt der Sommerblumen. Ihre hellen Farben leuchteten dann durch den Gartenzaun hindurch und luden manchen Spaziergänger zum Stehenbleiben und Betrachten ein. Hanna schenkte diesem Anwesen wenig Beachtung. Das lag daran, dass dort keine Kinder zum Spielen wohnten. Die ältere Frau Nolte lebte in dem großen gepflegten Haus ganz alleine. Viel zu groß für eine alleinstehende Witwe, wie die Nachbarn zu wissen glaubten. Frau Nolte war achtundsiebzig Jahre alt und wohnte seit Jahren nur mit ihrem Hund in dem Haus. Kinder hatte sie keine. Hanna mochte weder die hagere Frau Nolte mit dem strengen Gesicht noch ihren langbeinigen grauen Windhund. Er glich im Gesicht und mit seinem Körperbau auffallend seinem Frauchen, das hatte sie mal festgestellt.

    Zu den Geschwistern einen Stock tiefer in »Villa 5« pflegte Hanna ebenfalls keinen näheren Kontakt. Beide Mädchen besuchten bereits das Gymnasium und waren sehr hochnäsig, wie sie fand. Diese Meinung teilte sie mit Felix. Sie nannten sie heimlich »die Zicken«.

    Felix wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite in einem neuen Einfamilienhaus. Er war mit seinen Eltern und seinen älteren Brüdern vor einem Jahr dort eingezogen. Er war ein ruhiger Junge mit rehbraunen Augen und schwarzem Lockenkopf und etwas kleiner als sie, aber dafür ein halbes Jahr älter, wie er stets betonte. Sie hatten im Kindergarten sofort Freundschaft geschlossen und waren bald unzertrennliche Spielkameraden geworden. Immer wieder erfanden sie neue Spiele und machten gemeinsam Entdeckungen in der nahen Umgebung. Meistens aber spielten sie bei Felix im Garten. Hanna liebte diesen Garten mit den Sträuchern, hinter denen sie sich verstecken konnte, auch die hohe Buschlaube, in deren Laubwerk im Sommer viele kleine weiße Kugeln dicht an dicht hingen und die, wenn man sie auf dem Boden mit den Schuhen zertrat, einen kleinen leisen Knall von sich gaben. Auch Hanna zertrat diese weißen mit Flüssigkeit gefüllten Kugeln gerne mit ihren braunen Stiefelchen und erfreute sich jedes Mal an dem »Knack«. Massenhaft zermatschte Kugeln lagen in der Sommerzeit im Gras oder auf den sandigen Gartenwegen, zertreten von Kinderschuhen.

    Die größte Attraktion im Garten war aber die große grünangestrichene Holzschaukel. So wie alle Kinder das Schaukeln mögen, liebte auch Hanna es über alle Maßen. Wie ein kleiner Vogel, der seine Flügel ausbreitet, um in die Lüfte aufzusteigen, schwang sie sich mit wippenden Beinen in die Höhe. »Schau mal, wie hoch ich bin«, rief sie dann Felix zu, der anerkennend zu ihr aufsah. Manchmal schaukelten sie beide gemeinsam. Während sie auf dem Schaukelbrett saß, fest die Seile umfassend, stand er breitbeinig vor oder hinter ihr auf dem Brett, einen Fuß rechts, einen Fuß links neben ihr. Während seine Hände die Seile umklammerten, beugte er sich mit den Knien in regelmäßigen Abständen auf und nieder, und im gleichen Rhythmus schwang Hanna ihre Beine nach vorn und nach hinten, und langsam und dann immer schneller flogen sie gemeinsam in die Höhe. Waren beide vom Schaukeln müde, ruhten sie sich auf dem Gras aus oder bestiegen einen knorrigen Weidenbaum, der ganz hinten im Garten neben weißen und roten Rosensträuchern stand. Für Hanna war das Klettern auf diesen Baum nicht leicht. Felix konnte das viel besser, er war halt ein Junge und sie ein Mädchen. Sie gab sich aber jedes Mal aufs Neue Mühe, wollte es ihm gleichtun, und schon bald erreichten ihre Füße treffsicher jeden Ast. Bekam sie dabei manchmal auch eine blutige Schramme an Armen oder Beinen, dann war das für sie nicht weiter schlimm, Hauptsache, sie schaffte es, in das dichte Laubdach zu gelangen. Hier oben, versteckt in dem Blattwerk, hatten beide ihre eigene kleine Welt. Auf einem dicken Ast saßen sie nebeneinander, lasen sich vor oder redeten miteinander, wobei Hanna meistens die Unterhaltung führte, was nicht bedeutete, dass Felix dies langweilig fand. Nein, er mochte es, ihr zuzuhören, wie sie ihm mit ihrer hellen Stimme etwas vorlas oder etwas berichtete. Er dagegen hatte immer neue Vorschläge zum Spielen. So ergänzten sich beide und hatten viel Spaß miteinander.

    Wenn Hanna den schönen Garten von Felix auch liebte, so gefiel ihr eins doch ganz und gar nicht. Da gab es nämlich den schwarzhaarigen Schäferhund Harro. Vor ihm hatte sie schreckliche Angst, obwohl er eigentlich ein ganz braver kinderlieber Hund war. Aber sie fürchtete sich vor seinen dunklen Augen und seinem tiefen Bellen. Meistens lag er friedlich vor sich hin träumend auf seiner Decke im Hausflur. Hatte er dagegen Langeweile – und wie kann man wissen, wann ein Hund sich langweilt – kam es vor, dass er in den Garten lief, um mit den spielenden Kindern herumzutollen. Sobald Harro in Sicht war, begann Hanna wegzulaufen, was Harro natürlich als Aufforderung zum Spielen verstand und seinen haarigen Körper schneller in Bewegung setzte und ihr nachsprang. Glücklich, einen Spielkameraden gefunden zu haben, jagte er die laut um Hilfe rufende Hanna quer über Rasen und Wege. »Holt ihn, holt ihn«, rief sie schluchzend, und ihr kleines Herz schlug erst wieder ruhiger, wenn Harro zurückgerufen wurde und wegtrottete.

    Dicke Regentropfen wie Glasperlen liefen die Fensterscheiben entlang. Hanna schaute mit ihrer Puppe Helga im Arm durch die nasse Scheibe in den kleinen Garten hinter der Ligusterhecke. Sie sah verschwommen den grob gezimmerten, rot angestrichenen Holztisch und die ebenso gestrichene Holzbank. Hier hatte sie im Sommer oft mit ihrem Malbuch und den Malstiften gesessen. Heute aber sah ihr Lieblingsplatz nass und verlassen aus. Die braungelb gefärbten Blätter der Birke neben der Bank waren zum Teil abgefallen. Die restlichen wehten lose an den feinen Ästen, die wie lange Ruten nach unten hingen. »Was wohl die beiden Hasen in ihren Ställen machen?«, fragte sie sich. Sie konnte Mucki und Hansi von hier oben nicht sehen. Ihre Behausung stand zu dicht an der Hecke. »Ob sie genug Stroh haben? Ich werde nach ihnen schauen, sobald der Regen nachlässt.«

    Hannas Vater hatte eigens die hölzerne Behausung gezimmert. Durch ein Maschendrahttürchen konnten die Hasen nach draußen schauen und frische Luft schnuppern. Hansi gehörte Hanna und bewohnte den unteren Stall. Er hatte ein schneeweißes Fell und schöne himmelblaue Augen. Schon etwas ungewöhnlich für ein Kaninchen. Der schwarzweiß gefleckte Mucki mit den langen schwarzen Ohren gehörte ihrem Bruder Heinz und hatte sein Zuhause über Hansis Stall. Hanna mochte Mucki nicht so sehr. Sie fand, dass er im Vergleich zu Hansi nicht so kuschelig aussah. Trotzdem reichte sie ihm jedes Mal eine Karotte, wenn sie ihrem vierbeinigen Liebling eine zusteckte. Sie liebte es, den beiden haarigen Gesellen zuzuschauen, wie sie mit wackelnden Nasen an der Rübe mümmelten.

    Der Himmel wurde zusehends dunkler, dicke schwarze Wolken hingen tief am Himmel. Der aufkommende Wind ließ die immer größer werdenden Regentropfen gegen die Scheibe trommeln. Hanna wandte sich vom Fenster ab und legte ihre Puppe in den Puppenwagen. Dann holte sie ihren großen Teddy Peter von der Sitzbank und setzte ihn auf ein hölzernes Klappstühlchen. »Du wirst jetzt fein gemacht, Peterle. Schau einmal, wie zottelig dein Fell aussieht! Ich werde es jetzt glatt machen.« Sie holte eine kleine Bürste und einen kleinen Kamm aus ihrem Puppenkoffer und begann Peterle zu striegeln, schön in eine Richtung. Und als er drohte, vom Stühlchen zu rutschen, hob sie ihren Zeigefinger und schalt ihn: »Sitz still, du weißt, dass auch Bären gepflegt aussehen müssen.« Sie fasste seine rechte Pfote und zog ihn wieder in die richtige Haltung. Seine braunen Glasaugen schauten sie gehorsam an, wie sie befriedigend feststellte. Zum Schluss, als sein Fell ordentlich war, bekam ihr Bärenjunge noch ein paar Spritzer Parfüm aus einem kleinen Flakon, den ihre Mutter ihr geschenkt hatte, hinter seine Zottelohren getupft. Mit einem zärtlichen Kuss auf sein schwarzes Schnäuzchen brachte sie ihren Liebling auf die Sitzbank zurück und ermahnte ihn: «Sei brav und sitz schön still, bis ich wiederkomme.« Dann verließ sie das Kinderzimmer und ging zu ihrer Mutter, die im Wohnzimmer mit einer Stickarbeit beschäftigt war.

    Die Auswirkungen des Krieges wurden für jeden spürbarer. Die Lebensmittel, die man für die roten Lebensmittelkarten bekam, wurden immer knapper, und die Liste der nicht zu bekommenden Dinge wurde immer länger. Schokolade und andere Süßigkeiten sowie Südfrüchte gab es schon lange nicht mehr. Hanna hatte sich wie all die anderen Kinder an diese Tatsache gewöhnt.

    Heute war ihr erster Schultag. Auf dem Rücken trug sie den alten Ranzen von Heinz, der jetzt wie seine Freunde mit einer Aktentasche ins Gymnasium ging. In dem rechten Arm hielt sie stolz eine goldlila Schultüte, gefüllt mit kleinen Überraschungen: einem Radiergummi, einem dicken roten Stift, einem kleinen Block, einer Glaskugel, in der, wenn man sie schüttelte, es zu schneien anfing und weiße Flocken einen grünen Tannenbaum bedeckten. Hanna trug ein rotkariertes Baumwollkleidchen mit einem breiten weißen Kragen. Zwei lustige Zöpfe mit roten Schleifen baumelten über ihren Schultern. Wie all die anderen Mädchen, die heute eingeschult wurden, setzte sie sich auf den ihr zugewiesenen Platz. Zu ihrem Erstaunen war Felix mit anderen Jungen in eine andere Klasse geführt worden, und ihre Freude am ersten Schultag war gleich getrübt, als sie erfuhr, dass die Jungen getrennt von den Mädchen unterrichtet werden. Felix würde also nicht mehr bei ihr sein. Wieso kam er in eine Jungenklasse und sie in eine Mädchenklasse? Im Kindergarten gab es doch so eine Einteilung nicht. Sie hatte sich so gefreut, mit ihm gemeinsam die Hausaufgaben zu machen, und auch er hatte fest damit gerechnet, mit ihr in einer Klasse zu sein, doch nach Jungenart fand er sich schneller mit der Tatsache ab als sie. Sie zog den ganzen Tag über ein finsteres Gesicht, verstand die Einteilung und auch die Erwachsenen manchmal nicht, aber sie wusste, dass sie gehorchen und sich unterzuordnen hatte. Weil ihr Stundenplan oft anders als der von Felix war, gingen sie selten gemeinsam zur Schule. So blieben ihnen nur die Nachmittage, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht hatten.

    Lebensmittel waren jetzt noch knapper geworden. Nur kranke und alte Menschen bekamen ein paar Dinge mehr zugeteilt. Die Seife war rau geworden, grob wie Sand, und das helle, glatte Papier im Schulheft, in das Hanna schreiben musste, gab es nicht mehr, stattdessen graues, mit zahlreichen winzigen eingepressten Holzstückchen. Auf diesem Papier mit Tinte zu schreiben, war nicht leicht, das musste sie immer wieder feststellen. Stieß sie mit der Feder an ein Holzstückchen, entstand sehr oft ein Tintenklecks. Vorsichtig versuchte Hannas Mutter ihn, wenn er trocken war, mit einer scharfen Messerspitze wegzukratzen. Immer gelang dies nicht und was entstand, war ein kleines Loch. Aber alle Schulkinder hatten dieses Problem und die Lehrer waren nachsichtig.

    Auch Textilien bekam man nur noch auf sogenannte Bezugscheine zu kaufen. Die Stoffe waren hart und fest geworden und kratzten auf der Haut. Ständig musste sich Hanna kratzen, wurde vom Unterricht oft abgelenkt. Nicht schnell genug konnte sie nach Schulschluss sich ihrer Kleidung entledigen und in das viel zu kurz gewordene alte Kleid schlüpfen. Es machte ihr auch nichts aus, dass Heinz sie »einen Storch im Salat« nannte. Die Hauptsache war, es kratzte nicht und war bequem.

    Wenn es Nacht wurde, verschwanden die Städte und Dörfer in tiefer Dunkelheit. Es gab keine beleuchtete Straße mehr, keine Lichtreklame an den Geschäftshäusern, keine erhellten Schaufenster. Die »77er« fuhr jetzt abends seltener und wenn, dann mit stark abgeblendetem Licht. Die Fenster der Wohnungen wurden bei eintretender Dunkelheit mit Spanplatten oder dicken Wolldecken ritzenfrei verhängt. Das war Pflicht geworden, und wenn die eingesetzten Kontrollposten nur einen kleinen Lichtstrahl erspähten, gab es einen Verweis. Ein zweiter Verweis konnte unangenehme Folgen haben. »Durch Licht erkennen feindliche Flugzeuge aus der Luft sehr genau, dass unter ihnen Städte und Dörfer liegen, die sie dann bombardieren«, das hatte Hannas Vater erklärt. Den Heimkommenden diente in der Dunkelheit eine abgedunkelte Taschenlampe oder ein matt leuchtender Phosphorring an manchen Bäumen zur Orientierung. Auch die Bäume in der Platanenstraße hatten diesen weißen Ringanstrich bekommen.

    »Vergiss nicht unsere Abmachung heute Nachmittag«, mahnte Felix auf dem Nachhauseweg von der Schule.

    »Drei Uhr«, bestätigte Hanna.

    Sie trafen sich pünktlich an einem bestimmten Platanenbaum am Ende der Straßenbahnschiene. Felix machte sich gleich an die Arbeit. Mit einem Taschenmesser begann er am weißen Borkenring zu hantieren. Er versuchte, ein Stück von ihm zu lösen, während Hanna Ausschau hielt, ob niemand sie beobachtete oder jemand sich ihnen näherte. »Beeil dich«, feuerte sie Felix an. Ihr kleines Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wusste, dass sie etwas Verbotenes taten, aber sie wollten gerne so ein kleines leuchtendes Stückchen besitzen. Plötzlich kam ein Mann um die Ecke. »Achtung, da kommt jemand!«, flüsterte Hanna. Hatte der Mann sie gesehen? Felix ließ schnell das Messer in seiner Tasche verschwinden, stellte sich noch dichter vor den Baum und tat so, als ob er pinkeln würde. Der Mann ging vorbei, ohne Notiz von ihnen zu nehmen. Er hatte nichts gemerkt. Erleichtert arbeitete Felix am Borkenring weiter. Da, jetzt hatte er das zweite Stückchen herausgeschnitzt, gerade so groß, dass man es in der Hand verschwinden lassen konnte. Nun hatte jeder eins für sich.

    Hanna war begeistert. »Mach mal eine offene Faust mit der linken Hand und leg sie fest auf deine rechte, in der du das Phosphorstückchen hältst, dann schau durch die Faustöffnung«, sagte sie. Felix tat, wie sie es wünschte. Beide sahen durch die eigene kleine Faustöffnung das grünlich-lila leuchtende Borkenstück. Stolz bewahrten sie später ihren Besitz jeder in einer eigenen Schachtel auf.

    Die Mütter mit ihren Kindern waren allein in der Heimat, während die Väter an der Front für das Vaterland kämpften. Güterzüge mit der Aufschrift »Räder rollen für den Sieg«, beladen mit Kriegsmaterial, rollten auf den Schienen. Auf den Bahnhöfen bot sich jetzt immer das gleiche Bild, ein tränenreicher Abschied von den Fronturlaubern. Kinder und Frauen wurden zum letzten Mal an die raue, grüne Felduniform gedrückt. Ein letztes Wort, ein letztes Winken, dann setzte sich der Zug in Bewegung. Taschentücher, oft nass von Tränen, winkten den Soldaten nach. Jeder Frau war das Gleiche ins Gesicht geschrieben, die bange Frage: Wird mein Mann, mein Sohn, mein Bruder gesund oder als Krüppel oder vielleicht überhaupt nicht mehr zurückkommen? Auch Hannas Onkel Klaus war heute wieder an die Front gefahren. Mutter und sie hatten ihn heute morgen zum Bahnhof gebracht und Hanna hatte Tränen in den Augen der Mutter gesehen. Hanna war heilfroh, dass ihr Vater nicht eingezogen worden war und bei ihnen bleiben konnte. Er gehörte zu den ausgemusterten

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