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Oberpfälzer Blutnächte: Ein Oberpfälzer Psychothriller
Oberpfälzer Blutnächte: Ein Oberpfälzer Psychothriller
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eBook316 Seiten4 Stunden

Oberpfälzer Blutnächte: Ein Oberpfälzer Psychothriller

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Über dieses E-Book

Nach dem »Phantom-Fall« hat Ludwig Hiermeier dem Polizeidienst den Rücken gekehrt, um sich mit Katharina, die ein Baby erwartet, ihrem Bio-Bauernhof zu widmen. Ein mysteriöser Mord veranlasst seinen Freund und Mentor Richard Hofreiter, Chef der Amberger SOKO, ihn zurückzuholen. Als frischgebackener Kriminalkommissar jagt Ludwig dann vergeblich einen Serienmörder, der es auf Pädophile der gehobenen Gesellschaft abgesehen hat. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf einen Ring von Kinderhändlern, die auch vor Polizistenmord nicht zurückschrecken. Zeugen verschwinden, es gibt immer mehr Leichen und schließlich weiß Ludwig nicht mehr, wem er noch trauen kann. Er muss sich auf einen gefährlichen Alleingang einlassen, um dem Mörder auf die Schliche zu kommen, während Mafia und prominente Pädophile versuchen, in all dem noch ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Juni 2022
ISBN9783347662001
Oberpfälzer Blutnächte: Ein Oberpfälzer Psychothriller

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    Buchvorschau

    Oberpfälzer Blutnächte - Manfred Hirschleb

    1

    Das kleine Dorf Recigär, unweit von Aminioas und 330 Kilometer von Bukarest entfernt, war eines der ärmsten im Land; eine Ansammlung heruntergekommener Häuser und Hütten aus Bruchsteinen und Holz, mit Dächern aus Wellblech oder porösen Zementschindeln, die leidlich die Sommerhitze abhielten, aber nicht den Regen. Verwitterte und windschiefe Holzzäune zeugten vom Verfall. Früher waren sie bunt bemalt, in Grün und Blau, wie die Türen und Fenstereinrahmen, von denen jetzt die Farbe abbröckelte. Überall nagte der Zahn der Zeit. Der Dorfbrunnen, der die Bewohner mit dem lebensspendenden Nass versorgen sollte, war versiegt, sodass das Wasser mühsam vom Fluss geholt werden musste. Ohne die Gärten, die mit Fäkalien gedüngt wurden, wären die meisten längst verhungert. Früher versank die Dorfstraße im Frühjahr und Spätherbst regelmäßig im Schlamm, doch seit zwei Jahren blieben die Regenfälle aus. Das Land ächzte unter der Dürre, sodass viele Tiere geschlachtet werden mussten. Das war nicht immer so. In der postkommunistischen Ära gab es Arbeit und genügend zu essen, doch jetzt … Abgehängt von den Segnungen der EU, die in den Taschen korrupter Politiker und dem organisierten Verbrechen versickerten, herrschte bitterste Armut. Diejenigen die ein Stück Land, ein Pferd oder eine Kuh besaßen, galten als privilegiert. Einige erhielten eine minimale Rente, andere wiederum lebten von dem Geld, das ihnen Angehörige aus dem Ausland schickten, während die Großeltern sich um die Kinder kümmerten.

    Nicht so bei den Stoicas. Sie bekamen nichts. Seit Nicolaies und Zinas Eltern sie vor fünf Jahren verließen, hatten sie nie wieder etwas von ihnen gehört. Weder ein Brief noch ein anderes Lebenszeichen. Seitdem lebten sie von der Hand in den Mund. Opa bezog ein paar Leu Rente, was hinten und vorne nicht reichte, wären da nicht die Ziegen und Hühner gewesen. Die Ziegen lieferten Milch für den Käse und manchmal, an den Feiertagen, landete ein Zicklein als Festtagsbraten auf dem Tisch. Wenn ein Huhn keine Eier mehr legte, erging es ihm ebenso. Alles andere, wie Mehl, Zucker und Salz, musste gekauft werden. Für sich selbst brauchten Oma und Opa nur das Nötigste und verzichteten zugunsten der Kinder, insbesondere an den Festtagen, um ihnen diese zu verschönern.

    Nicolaie war zwölf, erkannte aber sofort, was das schwarze Auto zu bedeuten hatte, das sich in einer Staubwolke dem Dorf näherte. Vor zwei Jahren war es schon einmal hier gewesen und als es wieder wegfuhr, fehlten Iliana und Radu. Sie war erst fünf und er sieben. Jeder wusste Bescheid, sogar der Bürgermeister Bogdan Ionescu, doch niemand verlor ein Wort darüber. Es war Tabu und Fluch zugleich – Tabu der Schande und Fluch der Armut.

    Nicolaie erinnerte sich mit Wehmut daran, wie sie sich heimlich zum Haus des Ortsvorstehers geschlichen hatten, der als Einziger einen Fernsehapparat besaß. Und da die beiden zu klein waren, um durchs Fenster zu spähen, hatte Nicolaie aus alten Zaunlatten eine Kiste gezimmert. Fasziniert hatten sie dem Bericht über die Route 66 zugesehen. Amerika … eine Welt voller Wunder und so völlig anders als die ihre. Später trafen sie sich unten am Fluss und gaben sich das Versprechen, eines Tages in das Land ihrer Sehnsüchte zu reisen. Iliana träumte von einer Model-Karriere und sah sich schon auf den Seiten der Illustrierten, in der Mama ständig geblättert hatte und deren Bilder längst verblasst waren. Ihren Papa hatte sie nie kennengelernt. Radus und Nicolaies Traum war es, mit einer Harley Davidson auf der Route 66 in die untergehende Sonne zu brausen, obwohl sie Easy Rider nie gesehen hatten. Sie träumten von Amerika, bis Radu und Iliana mit der Limousine verschwanden.

    Seit die Arthritis Răzvan plagte, saß er die meiste Zeit auf der Bank vorm Haus, seinem Lieblingsplatz. Obwohl die Sonne unbarmherzig herniederbrannte und die Hitze kaum zu ertragen war, linderte sie die Schmerzen in seinen arthritischen Gelenken. Er war sich der Bedeutung des schwarzen Autos durchaus bewusst, doch es gab Wichtigeres. Wenn es nicht bald regnet, muss ich die Ziegen schlachten. Und ohne Nicolaie, der das Wasser vom Fluss heraufholt, werden wir verdursten. Sie waren zu alt und gebrechlich, um den Hin- und Rückweg zu bewältigen.

    Das Leben hatte tiefe Spuren in sein Antlitz gegraben. Voller Runzeln und Falten, das schlohweiße Haar von einem speckigen Hut bedeckt, saß er gebeugt da und stützte sich auf seinen Stock, der verhinderte, dass sein ausgemergelter Körper vornüber kippte. Keine Miene regte sich in seinem Gesicht, doch bei genauerer Betrachtung konnte man sehen, wie ein paar Tränen in seinen struppigen Bart sickerten. Er hatte Elend, Grausamkeit und Tod erlebt, sodass er sich keinen Illusionen mehr hingab. Und dennoch, bei dem Gedanken daran, was er vorhatte, rührte es sein Herz zutiefst. Es schmerzte unendlich, doch was blieb ihm anderes übrig? Verhungern, wie einige im Dorf? Aber dazu war er nicht bereit. Wenigsten für kurze Zeit kann ich die Katastrophe abwenden. Bogdan hat mir versichert, dass es ihr dort, wo sie hinkommt, besser ergeht und ihr nichts passieren wird. Hat er mich deshalb zum Verkauf ermuntert? Er hat doch selbst vier Kinder, warum hatte er keines verkauft? Gilt das nur für die anderen? Und die Einkäufer? Wer sagt ihnen, an welcher Haustür sie klopfen müssen?, ging es ihm durch den Kopf.

    Kurz darauf hielt der Wagen vor ihrem Haus. Die Insassen warteten, bis sich die Staubwolke gelegt hatte, und stiegen aus. Beide in Schwarz gekleidet, ging der Mann auf ihn zu, die Frau dagegen stützte sich auf die offene Wagentür und schaute verächtlich zu ihm rüber. Ich muss mich entscheiden, rang er mit seinem Gewissen, während drinnen auf dem Herd die Suppe köchelte. Ein paar verschrumpelte Möhren, Kartoffelstücke und etwas Grünzeug, mehr hatte der Garten nicht hergegeben.

    Um die Kinder abzulenken, stellte Oma Stoica den Topf auf den Tisch, füllte die Teller und sprach ein Dankgebet. »Esst, die Suppe wird kalt. Opa kommt gleich«, ermunterte sie die beiden. Es gab nicht einen Tag, an dem sie das kärgliche Mahl nicht gemeinsam einnahmen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. All ihr Flehen hatte nichts bewirkt, denn als Oberhaupt der Familie duldete ihr Mann keinen Widerspruch. Schließlich hatte sie es aufgegeben, obwohl es ihr das Herz zu zerreißen drohte. Zina oder Nicolaie … wen wird es treffen?, fragte sie sich. Er hatte sich beharrlich geweigert, mit ihr darüber zu sprechen, und nun war es so weit.

    Über den Löffel hinweg spähte Nicolaie aus dem Fenster und sah, wie Opa mit zitternden Händen das dünne Geldbündel zählte. Sofort war ihm klar, was das zu bedeuten hatte. Seit die Eltern sie verlassen hatten, war Opa Vaterersatz und Vorbild zugleich, der ihn stets liebevoll behandelt hatte, was gleichermaßen auf Zina zutraf. Die Erkenntnis, dass er sie verraten und an die Menschenhändler verkaufen wollte, traf ihn mit voller Wucht, sodass sein Herz heftig zu pochen anfing. Angst schnürte ihm die Kehle zu und er hatte das Gefühl zu ersticken. Der Gedanke, dass Zina … Damals hatte das Verschwinden seiner Freunde in ihm eine Leere hinterlassen, als hätte man ihm einen Arm oder ein Bein abgetrennt, und seine Träume von der Route 66 mit Gewalt aus dem Kopf gerissen. Seitdem träumte er nie wieder von Amerika. Was ihm blieb, war Zina. Wenn sie unten am Fluss saßen und angelten, um ihr kärgliches Mahl mit ein paar Fischen zu bereichern, versuchte er jedes Mal die Träume zurückzuholen – doch vergebens. Ich werde auf sie aufpassen, hatte er sich damals geschworen und sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt und beschützte sie wie seinen Augapfel. Außer Oma und Opa war sie das Einzige, was seinem Leben einen Sinn gab. In der Schule hatte es sich herumgesprochen, dass man von den verkauften Kindern nie wieder etwas hörte. Was blieb, waren die Erinnerungen an sie. Ständig quälte ihn die Angst, das schwarze Auto würde eines Tages vor ihrer Tür haltmachen. Iliana, Radu … hämmerte es in seinem Kopf, sodass sich alles in ihm auflehnte.

    Wütend stieß er den Teller von sich, sprang auf und schrie: »Nein, nein … nicht Zina!« Panisch ergriff er ihren Arm, zerrte sie vom Stuhl und rannte mit ihr durch die Hintertür nach draußen, vorbei am Bretterverschlag, hinter dem die Hühner im staubtrockenen Boden herumpickten, und dem Pferch, in dem die Ziegen vor Hunger schrien. »Schneller, schneller, sie wollen dich mitnehmen.«, keuchte er. »Zur hohlen Weide unten am Fluss …«

    Die kleine Zina, acht Jahre alt, mit schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen, in denen sich die Angst widerspiegelte, hielt Nicolaies Hand fest umklammert, um nicht hinzufallen. In ihrem bunten Kleidchen, das vom vielen Tragen fast durchsichtig war, zog Nicolaie sie unbarmherzig hinter sich her, wobei sie eine Sandale verlor. Opa hatte sie aus alten Autoreifen gefertigt.

    Außer Atem erreichten sie die Weide unten am Fluss. Sie war uralt und der Stamm innen hohl, doch am Kopf hatte sie ausreichend Geäst, das Nicolaie Schutz bieten konnte.

    »Schneller, Zina, kriech hinein und sei ganz still, sonst holen sie dich.« Er half ihr, sich durch die schmale Öffnung zu zwängen. Danach kletterte er den Baum hoch und versuchte sich, in der spärlichen Deckung der Kopfweide zu verstecken.

    Während Nicolaie voller Angst zum Haus hinauf spähte, hatte Răzvan sich längst entschieden. Ein Leben für das ihre, aber würden die paar Leu ihnen über die schlimmste Zeit hinweghelfen? Und was wäre die Alternative? Verhungern oder sich wenige Monate des Dahinvegetierens erkaufen? Früher glaubte er an den Barmherzigen, der jedes Unrecht vergeben würde, sogar das, was er soeben getan hatte. Wenn es Gott gab, warum half er ihnen nicht? Die Hoffnung hatte er längst aufgegeben, denn ihr aller Leben bedeutete Tod und Verderbnis. Es gab keine Zukunft, nur das nackte Überleben. Er hatte gesehen, wohin Nicolaie und Zina gelaufen waren, und deutete zum Fluss hinunter, worauf hin der Einkäufer sich auf den Weg machte.

    Die Frau setzte sich schweigend neben ihn auf die Bank, darauf bedacht, gebührenden Abstand zu halten. Ihr Blick galt dem Dorf, in dem sie das vierte Mal waren. Manchmal war es eins, ein anderes Mal zwei Kinder, die sie einkauften. Weder die Tränen des Alten noch das Schicksal des Mädchens interessierte sie. Sie wusste, was mit ihnen passierte, aber in diesem Geschäft war kein Platz für Mitleid oder Empathie. Sie waren Menschenhändler und das Einzige, was zählte, war Profit. In der Hinsicht verstand Mitrica, ihr Boss, keinen Spaß.

    Unterdessen schweifte Răzvans Blick hin zu den verdorrten Wiesen und Feldern, über denen die sommerliche Gluthitze waberte. Soweit das Auge reichte alles Gelblichbraun, sogar die Blätter der Bäume sahen schmutzig gelb aus. Er hatte das Gefühl, als würde der Hauch des Todes das Land fest im Würgegriff halten und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie verhungern würden. Was für eine Wahl habe ich denn? Ohne Nicolaie werden wir das nächste Jahr nicht überstehen, versuchte er die Schreie, die vom Fluss zu ihm heraufdrangen, zu ignorieren. Obwohl es ihn zutiefst schmerzte, verschloss er Herz und Ohren.

    Zina kratzte und biss, doch der Mann zog sie brutal an den Beinen heraus und klemmte sie sich wie ein Bündel Wäsche unter den Arm, um mit ihr zum Haus zurückzukehren.

    »Das darfst du nicht!«, schrie Nicolaie. »Nicht Zina!« In seiner kindlichen Einfalt nahm er sich vor, einmal Polizist zu werden, um sie wiederzufinden und die Leute zu bestrafen.

    »Du kannst ruhig da oben bleiben, kleiner Pisser, beim nächsten Mal nehme ich dich mit«, erwiderte der Mann und machte sich auf den Rückweg.

    Panisch sprang Nicolaie hinunter und eilte dem Mann hinterher, um sich an seinen Hosenbeinen festzuklammern. Doch vergeblich, mit jedem Schritt wurde er zur Seite geschleudert. Nach mehreren Versuchen und etlichen Schrammen gab er auf und trottete weinend hinter ihnen her.

    Ins Haus zurückgekehrt, stieß der Mann den Jungen unsanft auf einen Stuhl und herrschte die Alte an: »Pass auf den Bengel auf, sonst nehme ich ihn ohne Bezahlung mit.« Dann ging er mit Zina hinaus.

    In ihrer Verzweiflung nahm Oma Stoica Nicolaie an die Hand und zog ihn in die Küche, wo er sich schluchzend an sie klammerte. Ohnmächtig zusehen zu müssen, wie Zina in die Limousine gestoßen wurde, brachte sie fast um den Verstand. Sie würde ihr Enkelchen nie wieder sehen. Wenigstens Nicolaie würde dieses Schicksal erspart bleiben, aber sicher war sie sich nicht. Als gottesfürchtige Frau wusste sie, was ihr Mann soeben getan hatte und dass es eine Todsünde war. Ich werde täglich zum Allmächtigen beten, dass er … Er ist schon so alt … Sie klammerte sich an eine Hoffnung, die genauso ungewiss war, wie alles in ihrem Leben.

    Bei dem Gedanken erschrak sie. Sie verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als sie sah, wie das Auto davonfuhr, während Nicolaie panisch aus dem Haus rannte und dem Wagen hinterherlief. Doch vergebens.

    Keuchend ließ er sich auf die Knie fallen. »Zina … Zina …«, schrie er und streckte weinend die Arme nach ihr aus, als könne er sie diesen Teufeln entreißen. Im Fond der davonfahrenden Limousine sah er wie durch einen Schleier ihren flehenden Blick und ihre Lippen, die ihn stimmlos anflehten. Er vermeinte zu hören, wie sie nach ihm rief, bis der Wagen mit ihr in der Ferne verschwand. Der aufwirbelnde Staub verklebte ihm Mund und Nase, die Augen tränten und er bekam kaum noch Luft. In seiner Verzweiflung ließ er sich zu Boden fallen, rollte sich wie ein Fötus zusammen und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. »Zina … ich konnte dich nicht beschützen«, stammelte er schluchzend.

    Das Gefühl versagt zu haben, ihr nicht helfen zu können, brannte sich tief in seine Kinderseele ein und sollte ihn nie wieder loslassen.

    2

    Endlich! Wie von Geisterhand öffnete sich das schmiedeeiserne Gartentor und ließ die Autos durch, die neben dem Haus parkten. Neidlos stellte er fest, dass jedes ein Vielfaches seines Jahresgehalts überstieg, und sah zu, wie der Hausherr die Gäste mit Handschlag begrüßte. Er saß in einer Astgabel und sein Bein drohte einzuschlafen, sodass er umständlich seine Sitzposition änderte. Mit hasserfülltem Blick sah er zu, wie sie im Haus verschwanden. Nichts deutete darauf hin, was hinter diesen Mauern bald geschehen würde. Doch er wusste es.

    Aber wem würde es nützten, wenn ich das Schwein töte? Ein anderer wird seinen Platz einnehmen und diese Monster in Nadelstreifenanzügen weiter mit Jungen und Mädchen versorgen. Doch jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt, ich muss das Übel bei der Wurzel packen. Kinderschänder umzubringen ist wahrlich kein Spaß, aber notwendig, denn es gibt einfach zu viele von ihnen. Nachdem ich den ersten getötet hatte, fühlte ich so etwas wie Genugtuung und das Gefühl, das Richtige getan zu haben, sinnierte er.

    Er kannte die Kriminalstatistiken von sexueller Gewalt an Kindern und wusste, dass die Dunkelziffer weitaus höher lag. Zu über neunzig Prozent geschah es im Alter von 6 bis 14 Jahren, doch am schlimmsten empfand er die Tatsache, dass annähernd acht Prozent der Opfer unter sechs Jahre alt waren. Er hatte sich ausführlich damit befasst und wusste, dass der Anteil an Pädophilen wesentlich geringer ausfiel. Für die Unwissenden war Missbrauch gleichzusetzen mit Pädophilie, doch die Wahrheit sah anders aus. Kindesmissbrauch fand in allen Gesellschaftsschichten statt, ob Einzeltäter oder in Familien, und war weiter verbreitet, als einem die Medien vorgaukelten. Was ihn am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass nur über die Fälle berichtet wurde, die aktuell aufgedeckt wurden, um die Auflagen in die Höhe zu treiben. Warum schreiben sie nicht präventiv, klären auf, um Eltern, Angehörige und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren? Weil es niemanden interessiert, solange sie nicht unmittelbar betroffen sind, gab er sich selbst die Antwort. Immer das Gleiche – scheiß Sensationsjournalismus. Und was macht der Staat? Behörden, Ämter und Justiz sind nicht nur machtlos, sondern heillos überfordert, wie der Fall Lügde und andere zeigten.

    Es wurde gemunkelt, dass die Polizei involviert wäre, warum sonst verschwanden Akten? Und da war die kleine Yvonne, die ihm nicht aus dem Kopf ging. Der Blick ihrer Augen, eine entseelte körperliche Hülle, die Perversen als Lustobjekt dienen musste. Damals hatte ihr Anblick ihm einen Stich versetzt und nie wieder losgelassen. Ab diesem Moment entschloss er sich, nicht mehr wegzusehen. Obwohl er in seinem Job Schlimmes erlebt hatte, tauchte er erstmals in die Abgründe unvorstellbarer Grausamkeiten ein. Bis dahin hatte ihm jegliche Vorstellungskraft gefehlt, zu was der Mensch fähig ist, und keiner hatte ihn darauf vorbereitet.

    Es liegt an mir, etwas dagegen zu unternehmen, eine Mission, die meinem Leben einen neuen Sinn gibt. Ja, der Zufall hat mir in die Hände gespielt, ein kleiner Notizzettel mit Namen. Und jetzt kenne ich eure hässlichen Visagen, die ihr hinter der Fassade von Biedermännern zu versteckten versucht. Aber das wird euch nichts nützen. Ich bin nicht mehr bereit, tatenlos zuzusehen, wie ihr unschuldige Kinder missbraucht, um eure perversen Gelüste zu befriedigen. Herrje, ich bin hier, um mir Gewissheit zu verschaffen und nicht zu philosophieren, schalt er sich.

    Sein Blick glitt hinüber zu der Villa mit ihrer verspielten Architektur. Sie stammte aus der Gründerzeit und lag etwas außerhalb, in Weiden-West nahe der B 470. Im Parterre mit dem großen Eingangsportal befanden sich die Wirtschafts- und Personalräume, im ersten Stock der Salon und die Zimmer, in denen die Kinder missbraucht wurden, wie er herausgefunden hatte. Das Dachgeschoss bewohnte der Hausherr. Von der halbrunden eingeglasten Veranda im ersten Stock hatte man einen weiten Ausblick auf den parkähnlichen Garten, durch den sich ein weißer Kiesweg zwischen uralten Bäumen und Büschen schlängelte. Rechts und links des Weges standen marmorne Skulpturen, die der griechischen Mythologie nachempfunden waren. Jetzt wirkte es etwas trostlos, doch wenn sich im Frühjahr alles in zartes Grün kleidete und die Blumenrabatten mit Stiefmütterchen, Tulpen und anderen Frühlingsblumen ihre volle Pracht entfalteten, konnte man sich vorstellen, in einem Schlossgarten zu flanieren. Umgeben war das Anwesen von einer übermannshohen Mauer, dahinter erstreckten sich ausgedehnte Wälder. Die Villa gehörte Branco Dumitrescu, einem üblen Zeitgenossen, der einen Kinderpornoring der Rumänen-Mafia betrieb und sein Geld mit Menschenhandel, Prostitution und Drogen verdiente. Seit seiner letzten Observation hatte sich nichts geändert, außer dass er Jürgen Petzolt, ein widerliches Exemplar von Kinderschänder, dem die Mädchen nicht jung genug sein konnten, als Ersten getötet hatte. Ohne den Zettel wäre er niemals auf ihn aufmerksam geworden, der Rest war Recherche.

    Anfangs wollte er ein Zeichen setzen, wie Florian Seltenreich, dem Phantom, der Pädophile umgebracht und ihnen die Penisse abgeschnitten hatte, um sie damit zu ersticken. Der war 25, hochintelligent und kurz vor dem Abschluss des Medizinstudiums gewesen, ein Psychopath, der mit zehn Jahren missbraucht wurde und durchdrehte, als er seinem Peiniger begegnete und diesen dann auf grausame Art tötete. Zuvor folterte er ihn, sodass er die Namen weiterer Pädophiler erfuhr. Im Augenblick des Todes wurde bei ihm ein sexueller Kick von solcher Intensität ausgelöst, dass er auf sein Opfer ejakulierte. Später wollte es der Zufall, dass er seine Mutter im Wirtshaus zum Goldenen Hirschen in Kirchbichl traf, die ihn als Kind seelisch und körperlich misshandelt und dann verlassen hatte, sodass er bei seiner Großmutter aufwuchs und damit vom Regen in die Traufe kam. Seine Mutter brachte er um, in dem er ihren Kopf in eine heiße Fritteuse tauchte. Das war der Beginn einer grauenvollen Mordserie, die sich als blutige Spur durch die Oberpfalz zog. Seltenreich trieb wochenlang sein Unwesen, bis er von Ludwig Hiermeier, der damals der SOKO angehörte, erschossen wurde. Er erinnerte sich genau, hatte alles akribisch mitverfolgt, sah sich aber nicht als Nachahmer. Jemand musste dem Treiben dieser Bestien Einhalt gebieten, obwohl es letzten Endes auf dasselbe hinauslief. Es gab nur einen kleinen Unterschied, was die Motive betrafen: Das Phantom wollte mit seinen Taten die Öffentlichkeit aufrütteln, er dagegen die ultimative Bestrafung.

    Nach der Versteigerung der Mädchen in der Villa war er Petzolt gefolgt. Zuvor hatte er dessen Gewohnheiten ausspioniert und war in seine Wohnung eingebrochen, um die Whiskyflasche mit K.o.-Tropfen zu präparieren. Statt ihm den Penis abzuschneiden, ritzte er ihm Mea Culpa in die Brust. Obwohl damit sein Rachedurst gestillt war, hatte er sich unbewusst gewünscht, zusätzlich ein Zeichen setzen zu können. Doch Petzolts Tod hatte nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Unabhängig davon hielt die Polizei mit der Wahrheit hinterm Berg und ließ die Medien nur das wissen, was ihre Ermittlungen nicht störte. Ein Prozedere, das er kannte. Dass er Kindesmissbrauch nicht verhindern konnte, war ihm klar, aber mit jedem, den er töten würde, ersparte er anderen Kindern unsägliches Leid und konnte dem Zettel weitere Namen hinzufügen.

    Er musste erneut seine Sitzposition ändern, um besser sehen zu können. Drinnen waren die Vorbereitungen in vollem Gange, während sich die Gäste auf der Terrasse unterhielten – diesmal ohne Petzolt und wieder zu fünft, stellte er grimmig fest. An Kunden schien es nicht zu mangeln. Er konnte nicht nur die Vorfreude in ihren Gesichtern sehen, mittels Richtmikrofon hörte er auch, wie sie sich ungeniert über die Vorzüge ihrer Opfer ausließen und welche Praktiken ihnen den höchsten Kick verschafften. Szenarien jenseits aller Menschlichkeit, die nur entarteten Hirnen entsprungen sein konnte. Falls er jemals gezweifelt hatte, wurde er abermals in seinem Vorhaben bestätigt. Je länger er zuhörte, desto wütender wurde er und hätte die Schweine am liebsten sofort abgeknallt. Es wühlte ihn dermaßen emotional auf, dass sein Herz bis zum Hals hinauf pochte und sein Kopf förmlich glühte. Obwohl die Nachtkühle seine Beine hochkroch, schwitzte er, und nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er hatte recherchiert und festgestellt, dass die ehrenwerten Herren zwischen 50 und 70 Jahre alt waren und allesamt der High Society angehörten. Unternehmer, Banker, Immobilienmakler, New-Economy-Millionäre und Politiker. Alle hatten sie etwas gemein: Sie waren abartig und bezahlten jeden Preis, um ihre perversen Neigungen ausleben zu können. Er kannte ihre Vita und wusste, wo sie wohnten.

    Heute beabsichtigte er, Fotos von den Kindern zu schießen, dafür musste er seinen Standort wechseln. Er hatte herausgefunden, in welchem Rhythmus die Wachen ums Haus patrouillieren und dass die Dobermänner an der Leine geführt wurden. Es waren nur fünfzehn Meter bis zur Eiche mit ihren ausladenden Ästen, die er erreichen musste, um freien Blick in den Salon zu bekommen. Als die Gäste hineingebeten wurden, sprang er vom Baum, sprintete los und kletterte die Eiche hoch. Keinen Augenblick zu früh, denn einer der Hunde schlug an. Als der Wächter den Dobermann weiterzerrte, wischte er sich erleichtert den Schweiß von der Stirn und versuchte, es sich in der Astgabel bequem zu machen. Von hier hatte er freie Sicht in den Salon. Eingerichtet im Rokoko-Stil mit weißen Gardinen, rosaroten Vorhängen und Stuckarbeiten an Decke und Wänden, diente das Ambiente nur einem Zweck: Die Kunden sollten sich wohlfühlen. Er wunderte sich nicht, als kitschig herausgeputzte Damen mit blonden Perücken Champagner reichten. Einige der Gäste standen am sündhaft teuren Buffet und beluden ihre Teller. Er hatte das Gefühl, in eine Welt einzutauchen, die auf perfide Art und Weise die Abartigkeit auf die Spitze trieb, nur um den bevorstehenden Missbrauch in angenehmer Umgebung zu ermöglichen statt in schmuddeligen Hinterzimmern oder verwahrlosten Wohnwagen. Was für kranke Arschlöcher …

    Er wechselte zur Kamera mit dem hochauflösenden Film, als Dumitrescu einer der Damen zunickte. Er kannte das Prozedere, das jetzt folgen würde. Mit etwas Glück könnte das eine oder andere

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