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Blutfehde: Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi
Blutfehde: Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi
Blutfehde: Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi
eBook255 Seiten3 Stunden

Blutfehde: Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi

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Über dieses E-Book

In der Nähe des kleinen Dorfes Kirchbichl, auf dem Kalvarienberg im Oberpfälzer Wald, wurde ein Mann erschossen aufgefunden. Bei seinen Ermittlungen stößt Polizeihauptkommissar Ludwig Hiermeier auf eine Blutfehde zwischen zwei alteingesessenen Familien aus seinem Heimatdorf, die bereits nach dem I. Weltkrieg ihren Anfang nahm, und gerät plötzlich selbst ins Visier des Mörders …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Aug. 2018
ISBN9783746967974
Blutfehde: Ein Oberpfälzer Grenzland-Krimi

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    Buchvorschau

    Blutfehde - Manfred Hirschleb

    1

    Frühjahr 1919, bayerisch-böhmische Grenze

    Die Rabatzer hatten ganze Arbeit geleistet, um die Zöllner und Finanzerer auf beiden Seiten in die Irre zu führen und den Weg ins Böhmische für die Kolonne freizumachen. Das Pasch machte sich bereit.

    »Kieben und Rucksäcke aufnehmen und auf geht‘s, Männer«, flüsterte ihr Anführer Josef Ganselhuber. Als Veteran hatte er das absolute Sagen, während die de Gunge, zumeist junge unerfahrene Pascher, die Lastenträger stellten. Tage zuvor hatten die Baldowerer die Route ausgekundschaftet. Die Gesichter rußgeschwärzt, nahmen sie Kieben und Rucksäcke auf und machten sich auf den Weg über die Grenze. Sie waren zu fünft. Neben Josef Ganselhuber, waren da noch Georg Draxler, ein weiterer Veteran, sein jüngerer Bruder Otto, Konrad Gruber und Anton Paa.

    Der Vollmond warf lange Schatten an den Waldrändern, an denen sie sich beinahe unsichtbar entlang bewegten. Für gewöhnlich erfolgten ihre Touren bei Neumond, denn die Dunkelheit war ihr Verbündeter, doch dieses Mal wollten sie es andersherum versuchen, weil die bayerischen Zöllner nicht mit ihnen rechnen würden. Das heutige Geschäft wollten sie mit zwei korrupten Finanzern abschließen, wie sie die böhmischen Zöllner nannten. Was sie antrieb, war die Not der Menschen, hüben und drüben im Grenzgebiet, die ein karges Dasein fristeten, sodass das Schmuggeln für viele längst zur Überlebensstrategie geworden war.

    Die Nacht war nicht wirklich still. Vereinzelt hörte man den Ruf einer Waldohreule, eines Waldkauzes oder den Todesschrei einer Marder- oder Fuchsbeute. Seit zwei Stunden waren sie unterwegs und kamen gut voran. Bis zum Treffpunkt war es nicht mehr weit. Vereinzelt waberten Nebelschwaden über die Lichtungen, an denen sie vorüberkamen. Stand äsendes Wild darauf, war das ein untrügliches Zeichen, dass keine Grenzer in der Nähe waren, sonst wäre es längst abgesprungen. Ihr Gepäck war voller Salz, Strümpfe und Uhren, die sie drüben gegen Zucker, Mehl, Tabak, Zigaretten und Schnaps tauschen wollten. Den Schmuggel mit Ochsen und Pferden betrieben die anderen Kolonnen. Fette Mastochsen ließen sich gut verkaufen, denn ihr Fleisch war in Prag begehrt; die robusten Ochsen aus dem Böhmischen hingegen waren für die hiesige Landwirtschaft besser geeignet. Man band ihnen Lappen um die Hufe, schickte einen Pascher mit einem mickrigen Tier voraus, der kontrolliert wurde und für Ablenkung sorgte, sodass die Kolonnen die Zöllner unbesorgt umgehen konnten.

    Ursache für den Schmuggel waren die unterschiedlichen Zölle, die auf die Waren hüben wie drüben erhoben wurden. Zucker, Salz, Vieh, Pferde, Hüte, Schmalz, Mehl, Stoffe, Pelze, Petroleum, Tabak, Spitzen und Eisenwaren wurden getauscht und gewinnbringend weiterverkauft. Das Schmuggeln entlang der über 350 Kilometer langen bayerisch-böhmischen Grenze verschaffte den in bitterer Armut lebenden Menschen ein Zubrot und bewahrte die eine oder andere Familie vor dem Verhungern. Im Schönseer Land war der 23 Kilometer lange Sautreiberweg die am meisten benutzte Route, die entlang der Grenze von Rackenthal über Schönsee nach Schwarzach und weiter nach Weiding verlief. Sie hatten sich entschlossen, vom Eulenberg aus aufzubrechen. Das Gerstmeier Wirtshaus in Friedrichshäng, 20 Meter vom Schlagbaum entfernt, war ein beliebter Schmuggler-Treff, von dem aus sie ihre Touren starteten.

    Sie hatten die Lichtung auf der Hochlohe erreicht. Misstrauisch geworden, stoppte Josef die Kolonne und sicherte die Umgebung. Nachtfeuchte hatte sich als glänzender Tau auf die Gräser und flachen Büsche gelegt, von denen leichter Dunst aufstieg. Der Mond tauchte die Lichtung in eine unwirkliche, gespenstische Atmosphäre. Aber wo waren die Böhm, mit denen sie verabredet waren?

    Angestrengt beobachtete Josef den gegenüberliegenden Waldrand. »Ruhig bleiben, Leute, die werden schon kommen. In ein paar Stunden sind wir wieder zu Hause.« Er versuchte seine eigene Nervosität zu verbergen, schob den Hut nach hinten und strich sich über den Bart. Die Jungen hatten heute ihr Debüt und das sollte erfolgreich über die Bühne gehen.

    Gerade wollte er sich an sie wenden, als er am gegenüberliegenden Waldrand das verabredete Zeichen sah: dreimaliges Blinken – einmal kurz, einmal lang und wieder kurz.

    »Also, Leute, los geht‘s«, wandte er sich erleichtert an die Gruppe, denn die beiden Böhm kamen ihnen bereits entgegen.

    Als sie die Mitte der Lichtung erreichten, wurden sie plötzlich angerufen: »Bleibt‘s sofort steh‘n und nehmt‘s de Händ‘ hoch!«

    Otto, der neben Josef stand, griff sich voller Angst an die Brust, wollte den Trageriemen der Kiebe abstreifen, um schneller weglaufen zu können, doch im gleichen Augenblick zerriss ein ohrenbetäubender Knall die nächtliche Stille und Josef, der neben ihm stand, vernahm den dumpfen Einschlag der Kugel in dessen Körper.

    Geistesgegenwärtig machte er kehrt und schrie: »Alle zurück! Zurück in den Wald!«

    Wie von Furien gehetzt rannten sie los, zurück in den Schutz des Waldes, während ihnen die Kugeln um die Ohren flogen und sie mit Rindenfetzen und Aststückchen überschütteten.

    Für den Fall, dass etwas schieflaufen sollte, hatten sie einen Fluchtpunkt vereinbart, wohin sich jeder auf eigene Faust durchschlagen sollte. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis sie sich dort auf der bayerischen Seite wieder alle einfanden. Völlig außer Atem und erschöpft ließen sie sich auf den Boden fallen. Die Gesichter der jungen Pascher waren noch immer von Schrecken und Unglauben gezeichnet. Sie saßen ratlos da und starrten vor sich hin.

    Über Konrads Stirn zog sich eine blutige Schramme und jetzt, da die Gefahr vorüber war, spielten seine Nerven verrückt und er begann leise zu weinen.

    Auch Georg hatte etwas abbekommen. Fluchend wischte er sich das Blut der aufgerissenen Augenbraue aus dem Auge. Von den Alten hatten sie gehört, dass gelegentlich jemand erwischt wurde, aber gleich auf einen Pascher schießen? Nein, so was kam äußerst selten vor.

    »Was für eine gottverdammte Scheiße war das?«, keuchte Josef. »Wieso haben die Finanzerer auf uns geschossen, obwohl sie das verabredete Zeichen kannten? Die wollten uns wie die Hasen abknallen!« Langsam kam er wieder zu Atem. Voller Wut riss er sich den Hut vom Kopf und raufte sich die Haare. Aus seinem rußgeschwärzten Gesicht blitzte das Weiße in den Augen und ließ ihn wie einen wütenden Waldschrat aussehen. »Wir wurden verraten und Otto hat es erwischt, der ist bestimmt tot! Was ist? Hat jemand von euch eine Ahnung, warum die uns eine Falle gestellt haben?« Mit wutverzerrtem Gesicht schrie er die Jüngeren an: »Habt ihr im Suff im Wirtshaus geplaudert? Ja? Mit wem, verdammt noch mal?«

    Erbost lief er von einem zum anderen und schaute jeden durchdringend an, aber in der aufkommenden Morgendämmerung sah er nur in betroffene und niedergeschlagene Gesichter. Alle schüttelten bedrückt die Köpfe. Niemand wollte glauben, dass es einen Verräter unter ihnen gab, und dennoch hatte man sie in eine Falle gelockt, das war nicht zu leugnen.

    Georg Draxler saß schweigend da. Tränen und Blut hatten sein rußgeschwärztes Gesicht verschmiert und ließen ihn schrecklich aussehen. Ein tiefer Riss zog sich über seine Wange. Jetzt, wo sie in Sicherheit waren, wurde ihm bewusst, dass sein kleiner Bruder wahrscheinlich tot war und sein verhasster Rivale immer noch lebte. Wie konnte das nur passieren? Seine Trauer schlug in Wut um, denn so hatte er sich das nicht vorgestellt. Alles war bis ins kleinste Detail geplant gewesen. Jetzt musste er aber erst mal den Schein wahren, damit kein Verdacht auf ihn fiel. Er stand auf, ging reihum und schaute jeden wütend an, um schließlich vor Josef stehenzubleiben. Er fuhr ihn an: »Das kann nur einer von uns gewesen sein! Und eines sage ich dir, wenn ich herausfinde, wer das war, werde ich ihn eigenhändig umbringen.«

    Irritiert über diesen Wutausbruch, versuchte Josef, zu schlichten: »Beruhig dich, Schorsch, ich werde es herausfinden und Gnade Gott …«

    Ihre persönlichen Rivalitäten hatten hier nichts zu suchen. Hier ging es ums Geschäft und als Anführer ihrer Gruppe musste er sie beruhigen. Irgendwelche Drohungen waren völlig fehl am Platze. Möglicherweise ließ sich später herausfinden, was heute genau passiert war. Aber da war dieses unbestimmte Gefühl, das sich ihm mit Gewalt aufdrängte Hier war Verrat im Spiel! Aber wieso ausgerechnet der kleine Draxler? Oder sollten sie sogar alle erledigt werden? Warum? Nur eines war sicher: Sie hatten einen Verräter in ihrer Mitte!

    Anton, der junge de Gunge, wusste, wer der Verräter war, wie er heimlich hinterm Gerstmeier Wirtshaus am Eulenberg mit dem Zöllner Kohlmeier getuschelt hatte. Obwohl viele Stunden Fußweg von Kirchbichl entfernt, war die Kneipe für ihr Vorhaben am besten geeignet. Natürlich kannten auch die Zöllner die meisten Schmugglerpfade, nur wann die Kolonnen aufbrachen, das wussten sie nicht. Manchmal machten sie die Zöllner betrunken und erfuhren von ihnen, wo und wann die Patrouillen unterwegs sein würden. Ganz dreiste Pascher machten sie sogar betrunken, bis sie einschliefen, nahmen ihnen die Mäntel ab und bemächtigten sich ihrer Pferde. Nach ihrer Rückkehr schliefen die Zöllner immer noch ihren Rausch aus. Das funktionierte aber auch nur deshalb, weil die meisten Zöllner aus den umliegenden Dörfern stammten und sie sich mehr oder minder alle untereinander kannten.

    Das war vor einer Woche. Anton war zum Pinkeln nach draußen gegangen, als er die beiden unfreiwillig hinterm Haus belauscht hatte. Obwohl er nicht alles verstand, nur Wortfetzen wie Hochlohe oder Ganselhuber, wusste er sofort, dass es dabei um ihre heutige Tour ging. Das es um Verrat ging, ging damals im Suff unter. Doch jetzt befiel ihn Angst und er begann zu zittern, weil er um sein Leben fürchtete. Es war unglaublich, wie der Verräter sich verstellen und jeden Verdacht von sich lenken konnte.

    Anton wurde klar, dass der Kohlmeier am Verrat beteiligt war und eine Absprache mit den Finanzern getroffen hatte, andernfalls hätten die bayerischen Zöllner oder die Böhm sie abgefangen. Also schwieg er und schaute verschämt zu Boden. Er wusste nicht, dass es um eine Frau ging. Mit seinen 16 Jahren verstand er nicht viel von der Liebe und den Irrungen und Wirrungen, die sie mit sich bringen konnte. Auch nicht, dass jemand aus Eifersucht zu einem Mord fähig sein könnte. Nur eines wusste er: Wenn er jetzt den Verräter entlarvte, käme das einer Katastrophe gleich. Sie würden ihn beschuldigen, den Tod von Otto durch sein Schweigen mitverschuldet zu haben. Nicht auszudenken, was sie mit ihm machen würden, geschweige denn mit dem Verräter, und da ihn die Angst nach wie vor eisern im Würgegriff hielt, schwieg er. Der Gedanke, dass Otto tot sein könnte und er allein schuld war, schmerzte und stürzte ihn in einen schweren Gewissenskonflikt, weil sie seit Kindertagen Freunde waren. War er an seinem Tod schuld? Nein, er durfte nichts sagen, denn das musste er erst mit sich ganz alleine ausmachen.

    Als Pascher waren sie durchorganisiert und es herrschten strenge Regeln. Es gab einen Ehrenkodex, den niemand zu verletzen wagte. Der Name Pasch oder Padd leitet sich davon ab, dass ausgewürfelt wurde, wer wann und wo auf Schmuggeltour mitgehen durfte. Normalerweise waren die Kolonnen wesentlich größer. Da die Zeiten immer schlechter wurden und die großen Kolonnen es zunehmend schwerer hatten, den Grenzern auf beiden Seiten auszuweichen, hatte Josef sich entschlossen, diesen Gang zu fünft durchzuziehen. Er wollte nicht, dass seine Gruppe zerfiel, aber Verrat in den eigenen Reihen? Nein, das ging gar nicht. Jetzt musste er dafür sorgen, dass sie alle irgendwie heil aus der Sache herauskamen.

    »Wir können nicht wieder zurück und nachschauen, ob Otto noch lebt. Die Finanzerer haben ihn garantiert mitgenommen«, meinte Josef. »Wir sollten jetzt aufbrechen und erst mal alle nach Hause gehen. Ist das klar?«, fragte er reihum. »Außerdem können wir im Moment nichts ausrichten.« Indem er seine Autorität als Chef herauskehrte, konnte er seine eigene Verunsicherung vor den anderen verbergen. Nichts war schlimmer, als wenn er das Vertrauen seiner Gruppe verlieren würde.

    »Und wann erfahren wir, was mit Otto tatsächlich passiert ist?«, murmelte Anton und wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Krampfhaft versuchte er, das Zittern in seiner Stimme zu verbergen. Die Hände hatte er in den Rucksack verkrallt und der Druck auf der Blase verstärkte sein Schwitzen. Es fehlte nicht viel und er hätte sich eingepisst. Aus den Augenwinkel heraus schaute er zu Konrad, der noch immer am ganzen Körper zitterte und sich ständig über die blutige Stirn fuhr. Schrecklich sah der Junge aus.

    »Ich weiß es nicht. Vielleicht erfahren wir etwas von den anderen drüben. Bis dahin warten wir ab. Wir treffen uns nächste Woche wieder hier. Und du, Georg, hast zu Hause einige Fragen zu beantworten. Nicht nur, wo dein Bruder abgeblieben ist, sondern auch über die Tauschwaren, die verloren sind. Wenigstens haben wir die unseren noch.« Es tat ihm leid, so harte Worte zu gebrauchen, deswegen meinte er noch: »Vielleicht lebt dein Bruder und liegt irgendwo verletzt auf einer Krankenstation beim Böhm.«

    Er wusste jedoch genau, dass Otto tödlich getroffen war. Dieser Gesichtsausdruck, als ihn die Kugel erwischte und er selbst im Begriff war, dem anschließenden Kugelhagel zu entkommen, sprach für sich. Otto war tot! Trotzdem … es blieb dieses kleine Fünkchen Hoffnung.

    »Also, auf geht‘s und zu niemandem ein Wort.«

    Mühsam erhoben sie sich, klopften den Schmutz aus den Kleidern und machten sich auf den Weg. Der Morgen hatte die Dämmerung vertrieben und die Sonne ließ bereits Bodennebel aufsteigen, der sich alsbald in den Baumwipfeln verfing, während die Vögel den neuen Tag mit ihrem fröhlichen Gezwitscher begrüßten.

    Sommer 1919

    »Warum wolltet ihr sie alle umbringen? Das war gegen die Abmachung«, fragte Edwin.

    Sie standen sich gegenüber, die Finanzerer Gassinger und Eissner, sowie Edwin, der gerade ein Geldbündel in Tasche steckte.

    »Du hast deinen Anteil. Und wer sagt denn, dass wir alle umbringen wollten? Leider haben wir nur einen von beiden erwischt. Der andere war zu schnell und dann wollten wir der ganzen Bande noch einen ordentlichen Schrecken einjagen. Hätten wir alle erledigen wollen, wären sie längst tot. Also, was willst du noch? Die Sache ist erledigt und du hast doch dein Geld oder? Jetzt hau einfach ab.«

    Selbstgefällig wandten sie sich zum Gehen.

    »Stopp!«, rief er ihnen nach. »Ihr habt den Falschen erwischt!«

    Abrupt hielten sie inne und drehten sich um. »Was soll das heißen, den Falschen erwischt?«, fragte Eissner.

    »Na den Falschen halt. Anstatt die beiden Alten zu erledigen, habt ihr einen der Jungen erschossen. Sein Bruder, mit dem ich die Abmachung getroffen habe, wird zwei und zwei zusammenzählen. Wenn er dahinterkommt, wer ihr seid, wird er sich rächen und bei mir wird er damit anfangen. Wie ich ihn kenne, wird er herausfinden, wer ihr seid, dann geht’s euch auch an den Kragen.« Er hielt kurz inne, um in ihren Gesichtern zu lesen, und setzte nach: »Das ist ein ganz harter Bursche und kennt sich hier an der Grenze bestens aus. Ich habe Angst und die solltet ihr auch haben. Ihr hättet besser ihn erschossen.«

    Mit Genugtuung bemerkte er ihre Verunsicherung und wie die Überheblichkeit für einen kurzen Moment aus ihren Mienen verschwand, was aber nicht lange anhielt, denn sofort zeigte sich wieder die Arroganz der böhmischen Beamten.

    »Glaubst du, dass wir deswegen Angst haben? Wer ist schon dieser Bauernlümmel, hm? Nur ein verdammter Pascher, der aus Eifersucht seine eigenen Leute verpfiffen hat. Im Grunde ein Mörder, mehr nicht. Für uns hat sich das kaum gelohnt. Sollten wir ihn jemals auf unserer Seite erwischen, geht er für Jahre ins Gefängnis oder wir erschießen ihn gleich, dann hat die liebe Seel a Ruh«, meinte Oswald, der ältere der beiden. »Und jetzt hau ab, für uns ist die Sache erledigt.«

    Sie wandten sich um und ließen ihn einfach stehen. »Seid euch nur nicht zu sicher und sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Und was ist mit dem Jungen? Was habt ihr mit ihm gemacht?«, rief er ihnen noch nach.

    Doch sie winkten ab und waren kurz darauf im Wald verschwunden. Trotz ihrer Überheblichkeit hatte er das kurze Aufblitzen und die Angst in ihren Augen jedoch gesehen.

    Frustriert machte er sich auf den Heimweg. Er dachte an seinen Verrat, an das Doppelspiel und dass er nicht teilen wollte. Die Finanzerer würden ihn am Gewinn der Waren und dem Blutgeld, welches Georg bezahlt hatte, beteiligen. Georg ging es ja nur darum, seinen Nebenbuhler loszuwerden. Sie sollten aber nicht nur Josef, sondern Georg gleich mitbeseitigen. Das war sein Plan! Stattdessen musste der kleine Otto dran glauben und nun fühlte er sich schuldig; der Junge hätte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Ihm war klar, dass sein Bruder, dass nicht hinnehmen würde. Ab jetzt war er ein Gejagter und hatte keinerlei Gnade zu erwarten.

    Allein der Gedanke daran trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er wollte nicht sterben und schon gar nicht, nachdem er es endlich geschafft hatte. Das Glück, aus diesen verdammten Krieg heil zurückgekehrt und nicht wie Millionen seiner Kameraden auf den Schlachtfeldern umgekommen zu sein, ließ ihn auch an jene denken, die an Leib und Seele verstümmelt und vom Vaterland sich selbst überlassen wurden. Mit am Schlimmsten traf es die sogenannten Kriegszitterer oder Schüttelneurotiker, die von den Nervenärzten als Simulanten abgestempelt wurden. Viele Kriegsheimkehrer drifteten ins Asoziale ab, wurden obdachlos und Trinker oder alles zusammen. Er nicht. Bereits vor dem Krieg war er Zöllner und glühender Monarchist. Als sein geliebter Kaiser die Mobilmachung ausrief, gehörte er mit zu den Ersten, die voller Enthusiasmus in die Schlacht zogen. Jahre sinnlosen Sterbens hatten ihn aber desillusioniert; nachts hörte er immer noch die Einschläge der Granaten und die Schreie seiner sterbenden Kameraden im Schützengraben. Am Schlimmsten waren die unmenschlichen Schreie, wenn das Senfgas ihre Augen und Lungen verätzte. Als er aus dem Krieg zurückgekehrt und das Haus verlassen vorgefunden hatte – ohne Abschiedsbrief oder sonst ein Lebenszeichen von ihr –, musste er von den Nachbarn erfahren, dass sie, kurz vor Kriegsende, mit einem anderen durchgebrannt war. Warum hatte sie nicht gewartet? Anfangs schrieben sie sich noch Briefe und als die ihren schließlich ausblieben, schöpfte er noch immer keinen Verdacht. Und wenn, wie beinahe jeden Tag, das Trommelfeuer einsetzte und die Granaten ringsum einschlugen, sie mit Dreck und Schrapnell-Splittern überschüttet wurden, machte er sich im Schützengraben ganz klein und wartete auf das Ende des Beschusses. Blieb der Befehl des Kommandeurs zum Angriff aus, weil die Giftgasschwaden übers Schlachtfeld und durch die Gräben waberten, zog er ihr Bild aus der Tasche und starrte durch die verschmierten Sicht-Gläser seiner Gasmaske auf seine geliebte Irmi: Wie sehr er sie doch liebte und wie fern sie war. Würde er sie je wiedersehen? Und dann geschah das Wunder: Plötzlich war der Krieg zu Ende, der Kaiser dankte ab, ging ins Exil und er hatte überlebt!

    Als preußischer Beamter durfte er wieder als Zöllner arbeiten, was er als sein gutes Recht empfand, hatte er doch für sein Vaterland die Knochen hingehalten. Aber die Bestie Krieg hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen und so war es nicht verwunderlich, dass er versuchte, mit Alkohol die Dämonen zu verscheuchen, die ihn besonders in der Nacht heimsuchten. Und irgendwann begann er die Welt mit anderen Augen zu sehen: Er hatte für sein Vaterland gekämpft, aber nichts, rein gar nichts hatte es ihm zurückgegeben. Nichts hatte sich zum Besseren gewendet

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