HÜBNER: backstage
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Über dieses E-Book
Seine Kunst: Höhenflüge im Höllentief. Noch eine Schleife Verlorenheit, noch eine Prise Verzweiflung, noch einen Humpen Witz. Am liebsten spielt Hübner wohl am Schnittpunkt, wo die Spannung zwischen Eingelöstem und Ersehntem am unerträglichsten ist. Jenseits aller Kultur, mit der wir einander abdämpfen und abrichten. Mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt führte er Gespräche über Herkünfte und Hingaben, erzählt von seinem Dokumentarfilm "Wildes Herz", einem Porträt des Frontmannes "Monchi" Gorkow der Punkband Feine Sahne Fischfilet, und seinem Buch über "Motörhead".
Mit Texten von Charly Hübner, Tobias Rempe, Heinz Strunk und Christian Tschirner.
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Buchvorschau
HÜBNER - Hans-Dieter Schütt
I.
„Durch Umständlichkeit zum Wesen der Dinge"
HANS-DIETER SCHÜTT: Charly Hübner, wozu spielen?
CHARLY HÜBNER: Schön.
Schön was?
Dass die einfachste Frage gleich zu Beginn kommt. Is’ wie die Frage: Was ist Kunst?
Erfolgreich vom Weg abzukommen.
Hm. Klingt gut, ist wahrscheinlich aber falsch.
Wie heißt das geflügelte Wort? Wo einer fragt, werden andere keine Antwort wissen, und wo Antworten kommen, werden Fragen warten.
Wozu spielen … Vielleicht so: Im Spiel kann man das Leben angenehm vereinfachen.
Spiel? Weglassen, was plagt
Stimmt das denn?
Man kann auf der Bühne vieles von dem weglassen, was einen sonst ziemlich plagt. Es tut beim Spielen nicht mehr wirklich weh, was ansonsten schmerzt.
Das Leben.
Ich würde präziser sagen: die landläufige Realität. Spielend lässt man das Öde weg, dafür bringt man anderes auf den Punkt.
Was?
Wesentliches, im besten Falle. Schillernd, wenn möglich.
Was ja auch so furchtbar peinigt, ist all das, was auf digitaler Ebene tagtäglich über uns kommt.
Ja. Aber das kommt nicht, das wird geschüttet. Du steigst in die S-Bahn und guckst Fernsehen, das ist eine ständig laufende Schleife dröger, an dir herumfressender Bilder, immer, überall. Du wirst, wenn du nicht aufpasst, fortwährend zerstreut. Das ist in grässlicher Art auch eine Art Klimawandel, in seiner Gefährlichkeit nicht zu unterschätzen.
Die Lüge übt Herrschaft aus
Fake News.
Die sind inzwischen eine eigene Welt, die uns umzingelt, uns bedrängt und uns die Luft abdrückt. Die Lüge übt eine ganz eigene Herrschaft aus. Das macht unsicher und ratlos und misstrauisch. Es gibt ein böses Spiel mit der Welt, das ist leider kein Spiel – aber es gibt eben dieses Spiel in der Welt, und das hat was mit Freiheit zu tun, mit schöner Verantwortungslosigkeit. Wie sie von Kindern ausgeht. Wir stehen am Spielfeldrand und geben ungefragt Kommentare ab. Wir nehmen uns heraus, ständig zu rufen: „He, Leute, das stimmt doch alles nicht! Hier stimmt doch überhaupt nichts!" Und keiner kann uns was.
Gib dem Menschen eine Maske, und er sagt die Wahrheit.
Im Spiel darfst du lügen, ohne dass es gleich eine Schelle gibt oder ein Krieg ausgelöst wird. Mit dem Problem schlage ich mich rum: dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit, von Realität und Fantasie. Ich bin interessiert – und verwirrt.
Das Künstlerthema.
Na ja (lacht), vielleicht ist das bei mir auch nur die soziale Mitgift, ich komme aus der Gastronomie und vom flachen Lande, von den einsamen Landstrichen, also auch vom Alkohol – aus einer Welt, da gehören Betäubungsstrategien zum Standard.
Wo nicht?
Anders kommst du nicht durch die Erträglichkeit.
Wozu spielen … Weil einem die echte Welt also zu viel ist.
Oder zu wenig. Oft ist sie gar nüscht. Im Spiel fallen die Moralfesseln. Ich bin kein Mörder, darf mir aber den Mörder auf den Leib holen; ich bin auf der Bühne jemand, auch wenn ich nur so tu, als wär ich dieser Jemand.
„Spielkinder" (Jürgen Holtz)
„Spielkinder" nannte Jürgen Holtz die Schauspieler. Glücksmomentesammler.
Davongekommene. Tänzer auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken.
Es ist eine leidige Erfahrung: Immer sollst du der Welt entsprechen, immer sollst du etwas Erlerntes für das Eigene halten. Andauernd und möglichst erfolgreich soll man so tun, als wär man der und der.
Is’ man nicht.
Man ist immer Wechselbalg
Eindeutig definierbare Menschen sind langweilig.
Gibt es sie denn? Ist man die und der? Ist man nicht eher ein Wechselbalg? Es ist doch erstaunlich, wie viele Meinungen in einem einzigen Menschen Platz haben. Sobald ich eine Meinung heftig vertrete, mobilisiere ich in mir sofort auch das Gegenteil.
Öffentliche Auskunft tendiert dazu, allgemein zu bleiben.
Technisch schwierig für mich! Zu viele Details bedrängen! Gegen das Allgemeine ist Kunst ein Gegenmittel.
Ist man verantwortlich für das, was man spielt, was man schreibt?
Es ist nicht wichtig, was ich spiele oder schreibe. Es ist nicht wichtig, was ich will. Entscheidend ist die Wirkung.
Die können Sie nicht beeinflussen. Man nennt das Aura.
Das sagen Sie, von außen. Ich sag, ’ne Nummer kleiner: Ich kann nüscht dafür (lacht).
Suche nach dem, was unerledigt ist
Aus der mechanischen Physik ist die schöne Auskunft bekannt, etwas habe Spiel. Das bedeutet: Bewegung ist möglich.
Was dich bewegt, damit kannst du spielen. Was aber erledigt ist, das bringt keine Bewegung mehr zustande, da gibt’s keine Bewegtheit mehr in dir. Also musst du nach dem suchen, was noch offen, was noch unerledigt ist. Her mit allem, was die Dinge bunter, grauer, dunkler, heller macht.
Auch dazu sagen manche: Lüge.
Nö, es ist Ermöglichung.
Gehen Sie auf die Bühne, weil Sie ein Ziel vor Augen sehen?
Eher gehe ich da hoch, weil ich keines vor Augen habe. Aber doch eins sehen will. Das treibt an.
Reiseführer Feeling B
Sie spielen nicht, weil Sie Einsichten haben, sondern weil Sie uneinsichtig sind?
Uneinsichtig … Kann man so sagen. Unerzogen. Darüber hat schon Feeling B in der DDR gesungen: „Wir wollen immer artig sein, denn nur so hat man uns gerne. Ein Reiseführer durch alle Zeiten ist das, auch durchs Heute. Bei der Erziehung lernt man, sich auf was anderes zu konzentrieren als auf sich selbst. Am Ende kommt hauptsächlich raus, dass man von dir sagen kann, du seist „gut erzogen
. Aber ist denn dies das Ding, um das es geht im Leben?
Die Lüge soll lächeln, der Schein soll glänzen, die Wunden tragen schicke Pflaster.
Und das Elend singt die lustigsten Lieder. Auch fragwürdig – mindestens.
Allerdings: Man kann die Welt letztlich nicht überwinden.
Erstens: Natürlich nicht! Zweitens: Doch! Mit Fantasie.
So lernt man aber auch den Verlust kennen.
Unser treuester Begleiter.
Was schützt davor?
Nur das Spiel mit diesem ganzen Zeug, gegen dieses ganze Zeug.
Jetzt schon das Schlusswort?
Vladimir Nabokov schreibt vom Jungen, der aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt. Der Tag dieses Berichts, so der Schriftsteller, sei aber nicht jener Tag, an dem die Literatur in die Welt kam. Sie kam in die Welt, als ein Junge aus dem Neandertal gerannt kommt und atemlos berichtet, ein Wolf habe ihn verfolgt – und es war gelogen.
Sich auszudrücken, das hat die Menschheit mit Kreidebrocken gelernt, die nicht aus den Läden von MacPaper stammen. Spielen heißt, aus dem Sichtbaren in etwas Unsichtbares gelangen zu wollen. Ist das nicht ein schönes Schlusswort für unser Gespräch? Tschüs, Herr Schütt.
Tom Kühnel, Robert Schuster
Netter Versuch. Vergessen Sie’s. Beschreiben Sie Ihr anfängliches Berufsgemüt, etwa am Theater am Turm in Frankfurt am Main, Ende der neunziger Jahre.
Arbeit bei Tom Kühnel und Robert Schuster. Das war ein großes, offenes Heranreden ans mögliche Wesen einer Aufführung. Ich redete als Schauspieler bei den Proben mit, aber für eine vordere Stimme hatte ich zunächst viel zu viel Respekt – vor dem, was ich vom Theater wusste und kannte. Und ich kannte und wusste ’ne Menge, das kann ich schon so sagen.
Ein Widerspruch.
Stimmt. Gelesen hab ich wie blöde. Aber dieses Wissen, diese Kenntnis machten mich nicht unbedingt sicherer, im Gegenteil, der Respekt hemmte mich.
Traum von junger Truppe
Und was war’s, das Sie sicher machte?
Am Anfang nicht viel. Eigentlich null. Ich spürte, auf der Bühne funktioniert bei mir ein gewisser Bauernwitz, und über eine Art Grundmasse verfügte ich auch. Aber ein Vorkommnis war ich ganz und gar nicht. Natürlich hatte ich Brecht und Stanislawski gelesen. Schweres Gepäck, das würde mir Kraft geben, dachte ich, es war aber Gepäck, das lastete auch, es war das Gepäck, das ich vergessen musste beim Spiel. Kannst auf den Wiesen nicht Heu wenden mit dem Buch in der Hand. Und: Zu meinem Empfinden gehörte ein tiefer Zweifel, ob das alles überhaupt Sinn macht und ich darin glücklich werde. Im Kopf umzingelt von den Größen des deutschen Theaters. Herr Peymann, Herr Langhoff, auch diese Typen um Castorf, und dann gab es noch Flimm und Baumbauer. Hamburg, Köln, München – Galaxien sonst wo. Aber an der Schauspielschule war es anregend konkret und ermutigend geworden: Ostermeier, von Treskow, der verrückte Kühnel, der analytische Schuster. Ehrgeizige, tolle Jungs. Wär doch schön, sich mit denen zusammenzutun und gemeinsam was auszuhecken. Viel besser, als auf die Anfrage aus der Intendanz des Deutschen Theaters zu warten. Nicht, dass ich die Sehnsucht nach dorthin leugnete, aber woher sollte ich den Mumm nehmen, darauf zu hoffen.
Das Theater am Turm
Das Theater am Turm in Frankfurt wurde die große weite Spielwiese.
Wir waren dort eine richtig gute Truppe. Tom Kühnel und Robert Schuster, die anfangs noch als Regieduo inszenierten, Bernd Stegemann als Dramaturg, im Ensemble waren Christian Tschirner, Jenny Schily, Felix Goeser, Bettina Schneider, Eckhard Winkhaus, dazu Christian Weise und Suse Wächter als Puppenspieler, Jan Pappelbaum baute die Bühnen.
Zuvor das Schauspiel Frankfurt.
Ja, dort hatte Intendant Peter Eschberg den Mut, eine ganze Truppe zu engagieren, ein Riesenvertrauensvorschuss. Aber es war uns bewusst, dass diese gesamte Konstellation nicht lange halten würde, die Energien drängten naturgemäß auf den Markt, der Markt machte jedem und jeder seine verlockenden Angebote …
Das Theaterleben als Konkurrenzbetrieb.
Vom Sport her kannte ich den Wettkampfgedanken, du musst mithalten, du musst durchhalten, auch dagegenhalten. Musst stark sein. Musst gucken, was läuft. Andererseits war mein Narzissmus sehr begrenzt. Ja, klar, ich hatte ein Empfinden dafür, wer ich in etwa bin, was mir gefällt, was mir guttut, aber nie war ich auch nur in Ansätzen überzeugt, das Maß der Dinge zu sein. Welcher Dinge auch immer. Am Anfang meiner Theaterzeit dachte ich, mach dein Ding, kümmer dich nicht ums Drumrum, aber ich weiß noch, wir probten Tschechow, und mich drängte es zu fragen, rund um die Figur, ich warf irgendwie Steine ins Wasser und die Kreise interessierten mich, die sich immer weiter zogen, ich spürte meine Aufwändigkeit, ich merkte, wie umständlich ich auf andere wirken musste. Mich beschäftigte das: Warum hatte Tschechow Bock, genau so zu schreiben, wie er schrieb? Warum sind die Sätze so und so gebaut? Warum nicht so wie bei Dostojewski, der ein Serienautor war.
Ich stolperte, wo alle schon rannten
Jede Zeile brachte Kopeken.
Wieso diese Hysterie bei Schiller, diese Atemlosigkeit bei Kleist? Ja, ich bin durch Umständlichkeit zu den Dingen gekommen, somit auch zu etwas größerer Sicherheit, mit der Zeit. Zugleich kommst du ja durch Umständlichkeit leicht ins Hinterhertraben, du bist der Stolperer, wo alle schon rennen. Seltsamerweise wirkst du begriffsstutzig, wo du doch gerade was begreifen willst. Da half Sten Nadolnys Buch über die Entdeckung der Langsamkeit sehr.
Kommt einer zu sich, rütteln ihn die anderen: Komm endlich zu dir!
Lina sagt …
Ihre Frau Lina Beckmann.
Lina sagt: Mach es nicht so kompliziert! Stimmt wahrscheinlich, aber ich kann’s nicht anders. Es muss so sein, wie es ist – umständlich eben. Es gibt doch ständig Fragen, wenn du in den Tag hineinstiefelst. Welche Stimme hast du am heutigen Proben- oder Vorstellungstag, wie sehr quietschen die Gelenke. Es ist wie im Sport, die Muskeln müssen warm sein, wenn du das Parkett oder den Rasen oder die Laufstrecke betrittst. Wie kriegst du das heute alles hin? Worum es geht, sind diese ersten Peitschenhiebe auf den Brummkreisel. Wenn der dann in Schwung ist, dreht er sich von allein. Aber wie kommt er in Schwung? Von unterwegs kam ich vor kurzem zu einer Geheimagent-Vorstellung am Schauspielhaus. Auf der Autobahn nach Hamburg plötzlich ein Unfallstau. Hitze. In mir stieg die Nervosität, dann die Müdigkeit hoch. Die nahm ich mit ins Schauspielhaus. Dann war auch noch der Souffleur krank, Corona. An solchen Vorstellungstagen – und das zudem bei einem Castorf-Marathon – kannst du dir nur aufmunternd aufs Gemüt klopfen und sagen: Tja, fang irgendwo und irgendwie an. Ich hörte an diesem Abend die Texte wie neu, ich hörte mich wie einen Fremden, aber das Erstaunliche war: Alles ergab doch einen