Christian Grashof. Kam, sah und stolperte: Gespräche mit Hans-Dieter Schütt
Von Christian Grashof und Hans-Dieter Schütt
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Rezensionen für Christian Grashof. Kam, sah und stolperte
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Buchvorschau
Christian Grashof. Kam, sah und stolperte - Christian Grashof
mitbegründete.
SINN DES SOCKELS
IST DIE FALLHÖHE
VON HANS-DIETER SCHÜTT
Donald Duck aus Löbau
Da war er endlich, der Eklat
Ach, Kostja, ich wünsch dir Glück
Das Licht begrüßt die Finsternis
„Ich bin keine Marktfrau aus Mahlsdorf"
Der feine Gestus unterer Bezirke
Als Loman in „Tod eines Handlungsreisenden", Deutsches Theater 2003
1.Die Hand auf dem Foto, sie ist der Verräter. Der Mann will sich in die Gelöstheit strecken, ins Triumphale. Frohe Botschaft, so strahlt der Kopf! Aber eben: diese rechte Hand. Ein unübersehbarer Ansatz: Sie ist alles andere als ein Triumph. Wahrheit krallt. Kleiner Mann, so groß? Nein, eine Täuschung. Wo sich der Mensch – obwohl er sich reckt – derart verkrampft, dort grinst ein Tod. Der des Gemüts oder der Nerven oder jener der Hoffnung. Es gibt viele kleine Tode, die in einem Körper Platz haben und sich heimtückisch Leben nennen. Diesen vielen kleinen Toden kann man entgehen. Aber es gibt ja noch den einen, den großen Tod …
Christian Grashof spielt am Deutschen Theater Berlin den Willy Loman in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden", 2003. Ein unbesieglicher Stoff gleichsam für alle großen Schauspieler, in deren Aura das Prototypische des so genannten kleinen Rüh-Mannes lebt. Dieses knäbische Ungeschick und dieses traurige Talent, nicht wahrgenommen zu werden. Loman, in all seiner inneren Verwüstung, ist auch entsetzlich komisch. Der dauerreisende Vertreter, müde, abgeschlafft, erfolglos. Aber zunächst nicht müde genug, um nicht trotzdem weiter von seiner Bestimmung für diesen Scheißjob zu träumen. Nicht abgeschlafft genug, um nicht trotzdem weiter seine zwei Söhne mit Aufstiegsrezepten zu tyrannisieren. Nicht erfolglos genug, um sich nicht trotzdem weiter vor seiner eigenen Frau seelisch zu verbergen. Wo andere sich sehr selbstverständlich ins soziale Fitnessprogramm einloggen, muss der kleine Loman sich hineinlügen. Bis zum Selbstmord jagt er einer Ideologie des Heim-ins-Reichsein nach. American Weh of Life. Loman steckt in quetschender Zimmer-Enge auf dunkler Bühne, wo aller Form nach zwar Familie stattfindet, aber jeder allein ist und auch er sich selber ein Fremdwesen bleibt. Ein Steg führt nach hinten. Anderes Ufer? Dazwischen Jordan, Lethe? Fluchtweg jedenfalls, der nicht offen steht. Ausgang, der keiner ist.
Auf der Bühne, als drohender Hintergrund und Begleitmenge für Grashofs Loman: ein Chor sehr junger Leute. Genormte Selbstbewusste, starr grinsende Totengesichter des Erfolgs, kopfzuckende Roboter der neoliberalen Wellness, hetzende Puppen der gängigen Power-Formeln, Krawatten-Klone des Individualismus. Regisseur Dimiter Gotscheff zeigt somit nicht nur das Getriebensein Lomans, er zeigt vor allem, dass dieser Typ Mensch als bedauernswertes Produkt der Gesellschaft stets auch deren verlässlich stabilisierender Faktor bleibt.
Margit Bendokat als Linda Loman – sie und Grashof gleichsam als Letztverbliebene einer Schauspiel-Ära des Deutschen Theaters. Großartig, wie die Bendokat Einfalt spielt – Zeichen eines Schicksals, darin die Emanzipation nicht mal mehr seufzen darf. Die Hände auf dem Schoß, übereinandergelegt. Heben sie sich, in Erregung, so lösen sie sich doch nicht. Elende Geschaltetheit des Menschen: Alle Regung nur noch Apparaturreflex, der selbst tiefste Depressionen wegen des Selbstschutzes manieristisch werden lässt. Aufwühlend, wie die Bendokat dann plötzlich doch, aus einem letztglühenden Kern der Liebe heraus, ihren Mann gegen die hassenden Söhne verteidigt. Wie sich eine heiße Herzsprache auf Wegen zur Zunge in eine kalte Lava gegen die eigenen Jungen verwandelt – und wie sie dann das Wort vom Vater, der doch, bitteschön!, auch ein Mensch sei, wahrhaft herunterdonnert.
Hart: wie Grashofs Loman motorisch, verzweifelt unecht die Sorge seiner Frau weglacht; wie er – Achtung: Zärtlichkeit! – seinen Kopf so kurz und so schnell auf die Schulter Lindas legt, dass er sofort glaubhaft widerrufen könnte, es je getan zu haben; wie er sich vor seinen Söhnen in die böse gebieterische Mannhaftigkeit strafft; wie er aufbricht, um bei seinem Chef endlich einen geruhsameren Posten zu erwirken – aber schon ein Kratzen der Knie beim Aufstehen verrät, dass er nichts, gar nichts wagen würde. Der Schauspieler als plusternd trotziges Männlein, von dem man später nur noch den zu großen Hut und das dünne Hälschen bemerken wird. Die Loman-Seele floh längst. Und dann jener berühmte schnelle Grashof-Gang, die Arme nach hinten, den Kopf nach vorn gereckt. Der Panto-Mime. Ein Mann will durch die Wand. Ach, auch das eine Luftnummer. Die Wand steht. Das Letzte ist der leise Traum vom Gemüsebeet. Dann ein Donnerschlag. Dunkel. Diese Welt da: endlich ausgelöscht. Ausgelöscht freilich nur im Spiel.
2.Ein Jahr zuvor am Deutschen Theater, 2002: „Doktor Caligari". Filmische Ikone des Expressionismus. Waghalsige Verzerrung aller irdischen Form. Rechtwinkliges schief, Rundliches spitz. Und inmitten des Schrägen, Geknickten: jene dämonische Geschichte von Caligari und seinem Somnambulen Cesare – einer Jahrmarkts-Attraktion, die Zukunft weissagt und nachts das Messer zieht. Dies alles auf Geheiß des Schaustellers – der Direktor einer Irrenanstalt ist. Und am Ende weiß niemand, was an der Geschichte grausame Wahrheit, was nur irre Fantasie eines Insassen war …
Es inszenierte Robert Wilson, texanischer Schausteller. Tiefe, das ist bei diesem Spiel-Architekten das Dekorative. Das Dunkel der Psyche, das taucht er in Licht, grün, blau, gelb, rot – alle Schattierungen, alle Schönheiten. Ein Spektral-Fetischist. Seine Bühnen-Bilder: Stoffbahnen öffnen, schließen sich, so kommt es zu den wesentlichen Zuspitzungen auf der Szene. Pfeile, Vierecke, Dreiecke wechseln, die Aussparungen tanzen geradezu Ballett nach Regie der Beleuchtung. Die Schauspieler? Wortlosigkeiten, mit einem unsichtbaren Schlüssel im Kreuz aufgezogen. Stummfilmtheater, als wolle Wilson gegen die Allgewalt der feurigen Zeitgeist-Zungen anspielen. Und zwar in Zeitlupe – zur Live-Musik von Michael Galasso im Orchestergraben. Die mal plärrt, mal sehr hübsch schlagert. Ufa-Stil, der „Cabaret werden will. Regelmäßig Donnergrollen zur abrupten Bewegung der Figuren; Raunen aus dem Off: „Cesare!!!
Das Personal erscheint, als arbeite eine Zauberhand. Christian Grashofs Caligari in einem Lichtviereck rechts, weit oben. Die Augen gleichsam größer als der gesamte Kopf. Beklemmend. So führt Wilson in die Erzählung ein. Dann friert er sie ein. Nach jeder Szenenmalerei ein Black. Kindertheater auf teurem Niveau. Das von der Kälte des Weltalls in uns erzählt. Ekstasen einer Bindungslosigkeit, bei der eine Schattenwesen-Welt wie an unsichtbaren Drahtseilen hopst, tänzelt, stolpert. Den Schwerpunkt setzt eine Kraft von draußen, von oben, von fern. „Die Befreiung der Toten findet in Zeitlupe statt, schrieb Heiner Müller über Wilson. Und Wilson sagt über Grashof: „Er ist Erfüllung meiner Phantasie vom Schauspieler: wunderbarstes Element eines Traums zu sein, der darum bittet, nicht gedeutet zu werden.
Es gibt in dieser Inszenierung eine merkwürdige Beziehung zwischen der Sterilität der Abläufe und einer plötzlicher Verausgabung in einem lautlosen Schrei, einem Augenaufreißen, einer Handdrehung. Wilson zelebriert die Preisgabe alles Organischen, und damit gibt er einzelnen Theaterelementen, einzelnen Körperteilen ihre Würde zurück, die sie im Naturalismus verloren. Schnitter-Akribie, die auf der Bühne einem gestreckten Bein die gleiche Bedeutung zumisst wie einer beleuchteten Schläfe. Inzwischen ist der Texaner längst auch zum Somnambulen seiner eigenen Laufstege und Schein-Werfereien geworden. Den Schauspielern des Deutschen Theaters immerhin ist in dieser Aufführung anzumerken, dass sie weitgehend unbelastet sind von Wilson-Permanenz. Hier wirkt wohl noch der Umstand, dass die Arbeit des US-Amerikaners, ein einziges Mal genossen, eine wie immer geartete Bereicherung darstellt. Vielleicht ist es ja trotz aller Einwände nach wie vor ein Ereignis, in unserer Welt der Wohltemperiertheiten einem Menschen mit konturenstarker Manie zu begegnen. So lebt die „Caligari"-Inszenierung mitunter durch Unsicherheiten, die die Glätte behindern. Bernd Stempel, Regine Zimmermann: Es kostet Mühe, nicht plötzlich lebendig zu werden.
Grashof gelingt es, aus dem Panzer der Stummheit, eines schweren Mantels und einer weißen Maske heraus mit Augen, Mund und Händen Bedrohung zu senden, Verbrechensgier zu offenbaren, Bosheitskräfte auszustrahlen. Es ist, als leuchteten gestisch-clowneske Assoziationen aus der frühen starken Zeit des Regisseurs Alexander Lang herüber. Und in diesem Caligari des gebogenen Körpers lauert jene gespenstische Macht der Manipulation, die den Stummfilm einst, im Hinblick auf die faschistische Massen-Hypnose, als ein Werk der Vorahnung adelte. Einmal, da Grashof ein Podest besteigt, in nahezu lasziver Verzückung, wird ein Rauschen hörbar: heillos undefinierbar und doch heilvoll klingend. Als wüchse einem Dr. Goebbels ein Sportpalast zu; ach, eine Sekunde nur, die einen bösen Gedanken herbeizurufen wagt. Grashof setzt in die Zeichen-Formen-Farben-Kunstwelt des Robert Wilson etwas, das dort so schwer hineinzusenken ist: ein Herz – das man warm fühlt, auch wenn es ein kaltes bleibt.
Loman, Caligari: zwei Rollen aus der schauspielerischen Spätzeit des Christian Grashof. Spricht man vom Deutschen Theater Berlin, so gehört dieser Schauspieler zu jenen, die ein Geschichtsmaß vorgeben. Ein Gewordener, der inzwischen ein starkes, beeindruckendes Geltungskonto vorweisen kann. Aber freilich: Der Wesenskern von Theater, die Flüchtigkeit, sorgt gnadenlos dafür, dass erbrachte Leistungen den jeweils Nachkommenden kaum noch präsent sind. Daher unbedingt dieses Buch: Erinnerung, Beschreibungsversuche. Von Vergangenheit, die noch einmal in Gegenwart übergehen möge. Gedächtnis als schönste Rücklagenbildung – für ärmere Zeiten, die immer sind.
Christian Grashof steht für eine Epoche, steht für Erfahrung, darin die Behauptungskraft der Jahresringe ruht, aber auch rumort. Kraft, die Geschichten erzählt. Vom 1943 geborenen Arbeiterkind aus Löbau, vom DDR-Theater. Von Jugend, die aus Karl-Marx-Stadt, jenem Talentetheater Gerhard Meyers, herandrängte an den Olymp DT, wo zunächst das quälende Warten auf hohem Niveau bestanden werden musste. In Karl-Marx-Stadt hatte er Rainer Kerndls „Alois Fingerlein gespielt, wurde gleichsam hineingeworfen in Schatrow, Gorki, Horváth, Kleist, Schiller, Shakespeare. Arbeitete bei den Regisseuren Wolfram Krempel, Alexander Stillmark, Klaus Erforth. „Der macht seinen Weg
, hat der Dramatiker Alfred Matusche beizeiten gesagt.
3.Deutsches Theater Berlin in der Schumannstraße, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße. Eine magische Platzlandschaft. Bescheidene wie anmutige Klassizität. Kein Raum mit imperialer oder monumentaler Gebärde, sondern bürgerliche Stätte, ganz im Sinne der Aufklärung, schlicht die Fassaden, zart die Farben, einladend die beiden Eingänge, ins große Haus und in die Kammerspiele. Schwellenangst kommt hier – jedenfalls für Besucher – nicht auf. Das Haus ist auf Sand und Sumpf gebaut wie ganz Berlin – nur Pfahlbauten können einen sicheren Stand geben. Märkische Endmoräne. Wer hier baut, muss die Pfähle tief ins Erdreich schlagen, bis eine feste Steinschicht erreicht wird.
Das Deutsche Theater war zu DDR-Zeiten wahrlich nicht nur sozialistisches Staatstheater, es war königlich gutes Theater. Wer heute an jenes DT der vierzig zentral gelenkten Jahre denkt, erinnert sich mit Recht (und Wehmut, natürlich!, und Verklärung, ja, warum denn nicht!) an Zeiten, da in der Schumannstraße 13 a die Wurzellosigkeit ein unbekanntes und Schauspieler ein majestätisches Wort war. Vor allem gab es die romantische Produktionsweise, jene schöne Kehrseite der behäbigen Planwirtschaft: Zärtlichkeit, Ruhe. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Ruhe vom Zeitbesitz. Damals lebte das Theater (gut!) davon, dass das Sagen der Wahrheit immer ein wenig abenteuerlich war; heute scheint das Theater manchmal mehr als nur ein bisschen daran zu sterben, dass die Wahrheiten einander aufheben. Damals kam die Wahrheit im klassisch kostbaren oder betont unauffälligen Gewand der List, heute aber ist sie nackt, denn sie muss mit allen teilen, und „nichts ist ohne sein Gegenteil wahr", sagt Martin Walser. Pluralismus mutet an wie Wert und Watte zugleich. Weiche Mitte besitzt mitunter etwas hochgradig Unbefriedigendes.
Zumeist waren Aufführungen am Deutschen Theater bestürmende Schauspielerfeste. Christian Grashof sagt: „Arbeit als ein großes Begegnungsglück!, so habe ich das erlebt, so habe ich das gelebt. Ein Wort wie das von Ekkehard Schall über das Berliner Ensemble: „Ich war dabei, was will ich mehr!
Die Großen des DT: der spinöse, nervvibrierende Düren; die preußisch präzise Keller; der asketisch verschlossene Hentsch; der erdige Böwe; die mütterliche Grube-Deister; der dünnhäutig komische Ludwig; der schneidige, kantige Mann; die noch im Verkrähten so damenhafte Macheiner; der sonderbar verträumte Baur; die skurril melancholische Schorn; der heiter brummige Franke; der scharfumrissene Grosse; die irrlichternde Ritter; der intelligent ironische Piontek, der geistglühende Kaltnadelspieler Mühe. Jeder Name ruft das Bedauern darüber wach, wen alles man unerwähnt lassen muss.
Es gab eine anrührende Vertrautheit zwischen Bühne und Publikum, gewachsen über die Jahre; im anderen Teil Deutschlands vielleicht nur mit Peter Steins Westberliner Schaubühne oder Dieter Dorns Münchner Kammerspielen vergleichbar. Edle Gegenden. Aber stärker als dort wirkte hier, am Deutschen Theater, die Spannung zwischen einer Hochkultur der Repräsentation und einer intelligenten Unterwanderung offizieller Denkdoktrinen. In den besten Aufführungen, an denen Grashof mitwirkte, spielten sozialistisches Weltbild und träumerische Weltoffenheit klug und kühn eine Doppelrolle. Die Kunstabsicht verschmolz sehr oft mit den Erwartungen von Menschen, die während der Aufführungen nicht nur lauter Einzelne waren, sondern ein Publikum bildeten – aus Liebe zur Aura, aus gemeinsamer Lust, eine Grenzenlosigkeit zu diskutieren, die man nicht kannte, aber doch verstehen und erfühlen wollte. Jedes Billett fürs Hohe Haus war ein Reisepass in Gegenwelten. Theater letztlich als offenste Form einer geschlossenen Gesellschaft. Eine Verschworenheit, die sich am Ende, in jener nicht mehr zu heilenden Agonie der DDR, zum direkten politischen Impuls aufschwang (Schauspieler dieser Bühne gehörten zu den wesentlichen Initiatoren der legendären Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz). Ein intellektueller, emotionaler Aufschwung – um dann schnell, mit dem Zusammenbruch des Staates, zu ermatten und sich schließlich zu erledigen.
Freilich: Immer erst später weiß man, dass alles Beglückende bloß existiert, weil der Schein unser Bewusstsein nicht minder stark bestimmt als jenes Sein, das doch meist weniger Beglückendes parat hat. Mit anderen Worten und gegen die eigene wohlige Erinnerung gerichtet: Auch das Deutsche Theater, sagt Christian Grashof, „war selbst zu besten Zeiten des Gemeinsinns keine Insel der Glückseligen. Hier müsse man „boxen oder untergehen
, hatte der wuchtige Kurt Böwe zum schmächtigen Grashof gesagt. Im Deutschen Theater gipfelten die künstlerischen Karrieren jenes kleinen Landes, das sich nach Brechts Worten den Mühen der Ebenen hingegeben hatte: Das DT war hohe Ebene, und hohe Ebenen sind klein. Also Drängelei, und einen Schritt weiter kam nur noch – die Mauer. Wer am „Deutschen" angekommen war, blieb. Der Höhepunkt war also zugleich Endpunkt. Das DT war demnach auch ein einsames Haus, am Ende der DDR besonders spürbar damit geschlagen, sich einzig an sich selber messen zu müssen. Wie lange schafft man es, so wach zu bleiben, dass man diese Isolation der eigenen Größe auch als großen Verlust fühlt? Vielleicht hat die Zeit dem Theater zur rechten Zeit geholfen, indem sie die DDR abschaffte. Jetzt war man im wahren Sinn des Wortes heraus-gefordert: Von außen kamen neue Forderungen. Mit obligater Nebenwirkung: Was vorbei ist, wird irgendwann schöner, als es je sein konnte. Diese Trauer darf nicht auf sich beruhen lassen, wer noch bereit sein möchte für Zukunft.
4.Den runden Kopf nach vorn gereckt – wo ist die Wand, gegen die geschwind zu rennen ist? Das Kreuz durchgebogen – wo ist der Sturm, unter dem man hier hindurchrauschen kann? Die Arme fliegen wie im Skiflug nach hinten – wann endlich wachsen die Flügel? Manchmal hat Grashofs Darstellung etwas von der grandios menschentiefen Minder-Wertigkeit eines Donald Duck. Und Disneys Duck ist immer in Druck, ist immer wichtigtuerisch, aus Nöten im Lebenskampf, ist immer in Angst, der Hals sei nicht lang genug, um über Wasser zu bleiben. Grashof ist ein Schauspieler der hoch kontrollierten Künstlichkeit. Er möchte, dass das Verschwommene exakt aussieht. Dafür gibt es zwei Lebenswege: den Rechner und den Clown. Grashof rechnet mit allen Möglichkeiten, die im Clown liegen. Er kann springen, weil man ihn tritt – so kommt man in Schwung. Seine Gestalten sind mitunter an den Grenzstein gefesselt, der das Reich des selbstbewusst ungebundenen vom Reich des verformbaren Menschen trennt. Als träfen sich in einer einzigen Seele Chaplins tänzelnder Charlot – Grashof wird in diesem Buch darüber reden – und Brechts schlingernder Galy Gay. Das Kleine, das Geringe im Zerrkampf zwischen der unerwarteten Energie eines David und naheliegender Demütigung, zwischen listig-kecker Rebellion und wadenbeißerischer Ergebenheit in irgend ein Räderwerk. Schaut man Grashof zu, muss sich die Identifikation immer der Gefahr bewusst sein, von giftig kichernder Boshaftigkeit düpiert zu werden; aber alle Distanz, die das Clowneske hervorruft, wird irgendwann auch an jenen Punkt kommen, da sie unvorsichtig wird und willig hinüberschmilzt in ein wärmendes Mitfühlen.
1975, da ist er fünf Jahre am Deutschen Theater, führt Grashof seine Tasso-Auffassung vor. Geist und Macht stehen zur Rede. Der Schauspieler nähert sich zurückhaltend. Er gibt sich beherrscht. Er weiß, verletzlich kann man sich geben, aber doch bitte unter einer sich wehrenden, spröden Hülle. Wie Wolfgang Langhoff am DT einst Lessings Minna in Neuland aufbrechen ließ, wie Wolfgang Heinz und Adolf Dresen Goethes „Faust" neu erfanden, wie Friedo Solter den Nathan so ganz anders entdeckte, so trat nun, wieder bei Solter, Grashofs Tasso überraschend neu an und auf. Er ist, als zentraler Blickfang, das Gegenteil klassizistischer, arkadischer Erhabenheit. Grashof ist ohnehin keine Gestalt für Denkmalsockel, die ein Dichter sich selbst unter die wandelnden Feinfüße setzt. Und er gibt hier nicht den abgehobenen Poeten, sondern den jungen, gierigen Aufsteiger, verstrahlt von Versagensängsten. Fast fragte man sich angesichts dessen, woher die Unsterblichkeit der Goethe-Gestalt überhaupt resultiere. Aber Grashof offenbart sehr wohl, unaufhaltsam zum Ende hin, den lehrenden Sinn aller Sockel: Er liegt in der Fallhöhe.
Tassos Emigrantenschicksal, von Ferrara weg, wird nicht als obligate Verzweiflungs-Raserei hingeworfen, nein, Grashofs Tasso wird sehr, sehr still – er steht da wie ein Geborstener, und in die aufgebrochene Seele scheint er hineinzuschauen, so tief und erschrocken, wie kein Mensch bislang in sich selbst hineinzublicken vermochte. Glühendes Verglimmen hin zum glaubhaftesten Satz dieser Erscheinung: „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide." Als sei dies Dichters einziger Auftrag: Wenn du das Herz eines Menschen erreichen willst, musst du es brechen. Zuerst natürlich das eigene – in einer Welt, die Schlimmeres tut: Sie bricht jedes Versprechen.
Da war er endlich, nach lang sich ziehender Anfangszeitrechnung, jener künstlerische Eklat, der den jungen, großenteils noch unbemerkten Fremden, aus Chemnitz gekommen, urplötzlich zum Ereignis erhebt, das in dieses hochkarätige Ensemble wie ein Blitz einschlägt. Das Hohe so unerwartet irdisch, das Edle so aufreizend elend, das Geschwungene so eckig. Das Wunderbare bei Goethe zahlt Grashof bar: mit Wunden, die seine ganz eigene Art allem Abgeklärten zufügt – um es ins Leben zu bringen. Jetzt war Grashof gewissermaßen ein Mittelpunkt am Deutschen Theater geworden. Und das bleibt so. Wird sofort bekräftigt. Mitten auf der Bühne ein Kreidekreis, vielleicht zweieinhalb Meter Durchmesser. Der Spielort – eine Gefängniszelle. Umgeben rundum von Bänken fürs Publikum. Brüske Kargheit: Athol Fugards Stück „Die Insel", gespielt von Christian Grashof und Alexander Lang, Regie: Klaus Erforth und Alexander Stillmark. Schicksale unter der Apartheid Südafrikas. Grashofs Häftling John: forcierte Drahtigkeit und zugleich Schübe von Erschöpfung – nur geistiges Gespanntbleiben erhält ihn gegen das bohrend Tumbe seines Mithäftlings Winston. Selbsterhaltungsbalance in ständiger Sprenggefahr.
Jetzt ist Tempo angesagt. 1977 jener Aufstand der Schauspieler, der wesentlich mitwirkt an der Schaffung des Regisseurs Alexander Lang – gemeinsam mit Roman Kaminski und eben Christian Grashof erarbeitet Lang eine der atemberaubendsten Interpretationen Heiner Müllers: „Philoktet". Grashof als Odysseus: klein, bleich und gefährlich zieht er im hochgeschlossenen, schmutzig-grauen Trenchcoat die Fäden einer unerbittlichen Konfrontation. Mit rhetorischer Beflissenheit und lügnerischer Eiseskälte. Lang als Philoktet: ein Wesen, trotz schwerer Verletzung mit der Wendigkeit eines geschmeidigen Waldtieres, aber auch mit der seelischen Starrheit eines geschichtlich tief Enttäuschten. Schmerzlaute wie grässlich grelle Vogelschreie: Zehn Jahre lang war Philoktet Gefährte nur von Geiervögeln. Lang gibt mit staunenswerter Energie und Klarsichtigkeit, teils sogar mit sarkastischer Schärfe, jenen Prozess wieder, den Philoktet beim erneuten Treffen mit Odysseus durchlebt: Misstrauen, ein überraschender Hauch von Vertrauen plötzlich, dann doch wieder Hass und stärker werdender Hass, schließlich rasender Zynismus bis ins Sterben hinein. Der Zorn auf Odysseus macht ihn menschlich, die Wut auf alles Leben macht ihn selber unmenschlich. Zwischen diesen beiden: Neoptolemos, des Odysseus Helfer, gespielt von Roman Kaminski. Mit der federnden Leichtigkeit fast eines Cowboys betritt er Lemnos, jung und tatgierig, mit der Ehrlichkeit des Naiven, der an Griechenland und an Odysseus glaubt. Die Insel verlassen wird er als gebrochener Mann, der die politische Lüge gelernt hat. Groß die Szene, da er den unbändig tobenden Philoktet tötet und ihn zärtlich aus seinen Armen auf den Boden gleiten lässt.
Überhaupt: Alexander Lang. Als Schauspieler führte er die Schlaksigkeit in den Adelsstand. War auf der Bühne in der Schumannstraße von Schiller zu Volker Braun gesprungen, also vom Ferdinand zum Kipper Paul Bauch: vom Kopf, der an tödlich niedrige ständische Himmel stieß, zum Arbeiterutopisten, der sich ein Büchergebirge unter die Füße wuchtet, um dem sternigen Weltall näher zu sein. Ich fand immer, wenn ich Lang spielen sah: Es klafft zwischen dem Spieler und dem Gespielten ein strichdünner Spalt; durch den sah man, wie ein großer, trauriger Junge in einem überbunten Kinderzimmer sitzt. Böse und listig gestimmt, dies alles zu versenken. Das war die Theaterwelt des Alexander Lang, der seinen Figuren die unverkennbare thüringische Dialekteinfärbung mitgab – so dass sich alles Hohe, das sie sagen wollten, mit allem Niederen, das sie erleben mussten, zu einer seltsam müde-rebellischen Melancholie kurzschloss. Er beherrschte die clowneske Verschrobenheit und das Spiel der scheinbar falsch verschraubten Glieder. Versunkener Ernst, ungelenke Würde, still erhobene und erhabene Distanz.
Als Regisseur dann ein Fortsetzer seiner selbst: Toller, Grabbe, Gryphius, Strindberg – und Christian Grashof im Zentrum dieser klug-artifiziellen Regie, deren Bilder aus choreografischen Überzeichnungen erwachsen. Unvergesslich das Arena-Spiel in Brechts „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe – Grashof, der Pächter Callas, als Vorform eines schmiegsam-schmierigen Arturo Ui; die Verhärtung gegen alles Vernünftige in der Gestalt eines faszinierend gefährlichen Verbiegungskünstlers. Höhepunkt aber einer Theatergeschichte schreibenden Gemeinsamkeit: 1981 Langs „Dantons Tod
, Grashof als Danton