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"Ich bin kein Papagei": Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss
"Ich bin kein Papagei": Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss
"Ich bin kein Papagei": Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss
eBook344 Seiten4 Stunden

"Ich bin kein Papagei": Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss

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Über dieses E-Book

Der "beste Schauspieler Europas"
("The Times")

Gert Voss war ein Meister seiner Zunft. Über Jahrzehnte prägte der 1941 in Shanghai geborene Schauspielstar die deutschsprachigen Theaterbühnen zwischen Stuttgart, Bochum, Berlin, Wien und Hamburg. 1986 unter Claus Peymann ans Burgtheater engagiert, wurde er bald zum Publikumsliebling der Wiener. Ob als ikonischer Shakespeare-Held Richard III., Othello oder König Lear, in Rollen von Büchner, Schiller oder Thomas Bernhard – Gert Voss brillierte stets als wandlungsfähiger, vielseitiger Charakterdarsteller.
Mit demselben Tiefgang und Humor erzählt er von seiner Kindheit in China und seinem Theaterleben, von Kollegen und Freunden, von seiner Familie, Glück und Empfindungen. Die letzten Jahre seiner Lebensreise hat seine Tochter Grischka Voss berührend und persönlich zu Ende erzählt.

Mit zahlreichen Privatfotos
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Sept. 2021
ISBN9783903217836
"Ich bin kein Papagei": Eine Theaterreise. Zu Ende erzählt von Grischka Voss

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    Buchvorschau

    "Ich bin kein Papagei" - Gert Voss

    I.Amhurst Avenue, Shanghai

    Im alten österreichischen Kino im ehemaligen jüdischen Viertel von Shanghai sitzend, stelle ich mir vor, wie ich an meinem 70. Geburtstag mit meiner Frau zusammen noch einmal alle Orte aufsuche in Shanghai, der Stadt, in der ich geboren wurde und sieben Jahre leben durfte. Vielleicht fände ich doch mein altes Shanghai wieder und all meine Erinnerungen. Ich habe mir immer gewünscht, noch einmal nach Shanghai zu kommen. Lange Zeit ging dies aus politischen Gründen nicht, das Land war wie in seiner frühen Geschichte abgesperrt, später durfte man zwar einreisen, aber sich nicht frei bewegen, und noch später sagten wir uns, wir müssen noch so viel sehen, New York, Amerika, den Pazifik von Westen nach Osten. Dann aber kam im Jahr 1998 Rose Kern vom ORF, sie wollte ein Filmportrait machen und fragte mich, ob ich einen Ort wüsste, an dem der Film gedreht werden sollte. »Ein Ort, egal wo in der Welt? Dann bin ich ganz kühn und sage Shanghai.« Sie war einverstanden, und ich gab ihr mein in blaue Seide gebundenes Kinderalbum, damit sie recherchieren konnte, wo ich als Kind mit meinen Eltern gewohnt hatte. Nun kamen wir nach Shanghai – und ich habe nichts wiedererkannt. Die neueren Viertel nicht, und nicht die wenigen alten Stadtviertel. Ich stand in einer Stadt, die mir dem Namen nach bekannt war, aber es gab keinen Ort, von dem ich sagen konnte, ach, ich erinnere mich, hier bin ich damals gestanden. Und selbst an dem berühmten Bund, dem damaligen Prachtboulevard, wo wir damals das amerikanische Schiff bestiegen und 1947/48 von Shanghai nach Bremerhaven gebracht wurden, kam nicht eine Erinnerung, auch nicht an das Peace Hotel am Bund mit der Jazz-Kapelle, in dem meine Eltern wohnten, wenn sie von Europa kamen oder nach Europa reisten, und in dem ich Eis und Schokolade bekam. Dann kam der Tag, an dem Rose Kern und ihr Team mich in die Amhurst Avenue führten in der ehemaligen Französischen Concession. Im Fotoalbum war unser damaliges Haus zu sehen, die Adresse stand unter dem Bild. Und wieder habe ich nichts wiedererkannt. Auch jedes andere Haus hätte unser damaliges Zuhause sein können. Die heutigen Bewohner kamen zu mir, ich stand da mit dem Fotoalbum in der Hand, bald war ich umringt von zehn, zwanzig chinesischen Männern und Frauen, alle gestikulierten, zeigten auf die Fotos, die Straße, das Haus. Wir hatten damals in Shanghai Pidgin-Englisch gesprochen, nur meine Großeltern, die ihr Leben in China verbracht hatten, sprachen sehr gut Chinesisch, doch ich verstehe wenig und ahnte daher nicht, dass sie mir mein ehemaliges Zuhause zum Kauf anboten.

    Am Angelteich im Jessfield Park

    Wir gingen in den Jessfield Park, im Fotoalbum gab es Bilder, wie ich dort mit meinem Vater einen herrlichen chinesischen Papierdrachen aufsteigen lasse. Schließlich kamen wir an einen kleinen See, um den viele Kinder saßen und angelten. Gegen ein geringes Entgelt konnte man eine Angel ausleihen und einen Eimer mit Wasser, als Köder bekam man ein paar Regenwürmer. Den Goldfisch, den man fing, durfte man dann in dem Eimer mitnehmen. Das Filmteam wollte eine Szene filmen, wie ich bei den Kindern sitze und angle. Und tatsächlich fing ich einen Goldfisch. Ich nahm ihn vorsichtig vom Haken ab, setzte ihn in den Eimer – und endlich kamen Erinnerungen an meine Kindheit zurück. Ich wusste, dass ich oft in diesem Park gewesen war, und ich verstand plötzlich ein Foto in meinem Album, das meinen Bruder und mich vor einer großen Aluminiumwanne sitzend in unserem Garten zeigte. In der Wanne schwamm ein Fisch. Meine Mutter konnte mir nie sagen, was dieses Bild bedeutete. »Hatten wir ein Aquarium?«, habe ich sie oft gefragt, »haben wir den Fisch im Sommer nach draußen getragen, damit er es dort kühler hat?« In dem Moment, als ich den erfolgreich gefangenen Goldfisch in den Eimer tat, wusste ich, ich war mit meiner chinesischen Amah hier gesessen. Und wohin mit dem Fisch, den man nach Hause nehmen durfte, wenn man kein Aquarium hat? In die Aluminiumwanne, die Wanne mit Hilfe der Amah in die Mitte des Gartens gestellt, mit einem Schlauch Wasser eingefüllt, damit der Fisch wieder schwimmen kann.

    Später erinnerte ich mich an Gerüche, an Mahlzeiten, die an der Straße zubereitet wurden, ich erinnerte mich an zwei silberblitzende kleine Flugzeuge direkt über unserem Garten. Sie flogen zueinander, flogen umeinander, tanzten und torkelten wie silberne Vögel. Plötzlich kam die Amah, holte uns schnell ins Haus und sagte voller Angst, wir sollten uns unter dem Bett verstecken. Aber wir entwischten ihr, weil wir weiter sehen wollten, was die beiden Silbervögel da oben trieben. Man sah kleine Blitze hin und her fliegen, und mit einem Mal leuchteten beide Silbervögel leuchtend rot auf und gelb und verschwanden weit hinten über der Stadt. Mein Vater erklärte uns am Abend, dass ein nordchinesisches und ein japanisches Flugzeug sich bekämpft hatten, weil Krieg war zwischen China und Japan, und dass beide Flugzeuge über Pudong abgestürzt waren. Wir machten uns weiter keine Gedanken darüber, ahnten nicht, dass Menschen dabei umgekommen waren, für uns war das ein aufregendes Schauspiel am Himmel.

    Baby-Album aus China

    Mit Amah, Shanghai 1942

    Ich wusste nicht, was Krieg ist, aber ich wusste, was der Tod ist: Als ich mit meiner Mutter zum Einkaufen gehen durfte – wir hatten zwar Personal zum Kochen, Putzen, für die Wäsche und eben auch ein oder zwei Boys zum Einkaufen, aber manchmal wollte meine Mutter selbst einkaufen und ich als der Ältere durfte mit: Plötzlich, an einer Eisenbahnschwelle, wir überquerten die Gleise, lag da ein Stoffbündel. Ich sah, eingewickelt in den Stoff, einen Säugling. Und noch ein Stoffbündel. Und noch eines. »Was ist das?« »Lass uns schnell weitergehen.« »Nein, ich will wissen, was das ist!« »Das machen viele Chinesen. Weil sie viele Kinder haben. Auf diese Weise entledigen sie sich der Kinder. Manche drücken ihren Kindern die Fontanelle ein und töten sie gleich, wenn sie auf die Welt kommen. Andere machen es dann so, indem sie sie auf die Gleise legen.« »Kann man das Kind nicht retten?« »Natürlich könnte man es retten, aber es ist schon tot, und was sollten wir denn machen mit so einem kleinen Würmchen?« Davon habe ich immer wieder geträumt, von den toten Kindern auf den Gleisen und von den vielen kleinen weißen Kindersärgen. Ich hatte viele Ängste. Ich träumte oft, einsam zu sein, verlassen und allein in Shanghai durch die Straßen zu irren. Eines Tages war ich mit meinen Eltern im Zentrum von Shanghai, als eine riesige Menschenmenge auf uns zurannte. Alles schrie und brüllte. Ich stand plötzlich ganz allein, meine Eltern waren weggetrieben worden von der Menge. Ich stand unter Hunderten von Chinesen, weinte, sie hörten mich nicht, verstanden mich nicht, ich gestikulierte, sie stießen mich. Wie von einem Gespenst verjagt, rannten sie mit einem Mal alle weiter, und meine Eltern, die sich in einen Hauseingang gedrückt hatten, fanden mich mitten auf der Straße stehend wieder. In der Not keine Sprache zu haben – das ist ein nie vergessenes Erlebnis. Und endloses Alleinsein unter vielen fremden Menschen, wie damals, als ich mit meinen Großeltern eine Spazierfahrt in der Rikscha machen durfte. Ich hatte eine Rikscha für mich, meine Großeltern waren zunächst hinter mir, aber mein Rikschafahrer wurde immer schneller und schneller, und so konnte ich sie bald nicht einmal mehr sehen. Wieder vergingen Stunden, allein in einer riesigen rasenden, schreienden Menschenmenge. Als mich meine Großeltern wieder fanden, erklärten sie mir, dass die Menschen Hunger hatten und dass sie gegen die japanischen Besatzer demonstrierten.

    Im Kimono mit Ente, Shanghai 1943

    Einmal war ich mit meiner Großmutter unterwegs, wir kamen zu einem Zauberer, der an der Straßenecke saß, ein Hypnotiseur, die Kunststücke haben mir keinen sonderlichen Eindruck gemacht, ein Europäer lachte sogar laut den Zauberer aus. Der Zauberer hat seine Vorführung unterbrochen, er hat den Europäer fixiert, wenige Sekunden, und der Mann fiel ohnmächtig zu Boden. »Wie ist das möglich?«, fragte ich meine Großmutter. »Der Zauberer hat das Gesicht verloren, achte darauf, dass du nie etwas tust, wodurch ein anderer sein Gesicht verliert. Der Zauberer nimmt den Mann, der ihn ausgelacht hat, mit den Augen in eine andere Welt, damit er zur Strafe das Bewusstsein verliert und umfällt.« Das hat mir zutiefst imponiert, dass man auf einen Menschen so eine Macht ausüben kann, nur mit den Augen. Ich habe das oft nachgespielt, mein kleiner Bruder war immer so nett umzufallen, als wäre er von mir erfolgreich hypnotisiert worden.

    Mit den Eltern Marion und Wilhelm Voss und Bruder Christian, Weihnachten, Shanghai 1943

    Meine größte Liebe war die chinesische Oper, und mein höchstes Vergnügen als Kind war, chinesische Musik zu dirigieren. Nach einem Besuch in der chinesischen Oper war ich so davon ergriffen, dass ich zu Hause versuchte, die Stimmen der Operndarsteller zu imitieren. Zum Leidwesen meiner Eltern besonders die hohen Stimmen. Wegen meiner Piepserei von morgens bis abends glaubten sie, ich hätte schon wieder eine Tropeninfektion. Wenn ich mich vor dem Radio bewegte, glaubten meine Eltern, ich tanzte nach der chinesischen Musik aus dem Radio, aber ich imitierte die Darsteller, die ich gesehen hatte, und ich dirigierte die Kämpfe und die Musik. Eines Tages wurde die Sendung plötzlich unterbrochen. »Über Hiroshima ist eine furchtbare Waffe explodiert, eine Atombombe, viele viele Tote!«, sagte eine Stimme. Meine Eltern saßen wie erstarrt am Tisch. »Was ist eine Atombombe?«, fragte ich. »Etwas ganz Schreckliches.« Mein Vater stand auf und stellte das Radio ab. Es hat mich als kleiner Junge immer beschäftigt, was da wohl passiert war, aber ich erhielt keine Antwort. Als ich später in Deutschland den Film von Alain Resnais sah, Bei Nacht und Nebel, erhielt ich wiederum keine Antwort. Mein Vater schwieg, nach einer Weile sagte er: »Du bist noch zu klein, um dir das zu erklären.« Meine Eltern waren keine Nazis, aber sie haben vor uns Kindern immer geschwiegen, sie haben uns nicht aufgeklärt, was in Japan geschehen ist, in China, in Deutschland. Sie sagten höchstens: »Der Krieg ist etwas Furchtbares.« Vielleicht hatten sie eine ähnliche, vom Internat Salem geprägte Haltung zu ihrem Herkunftsland wie der Bruder meiner Mutter. Obwohl sie keine wirkliche Beziehung zu Deutschland hatten, denn mein Vater war schon mit achtzehn Jahren als junger Kaufmann nach Shanghai gekommen und hatte einen Kontrakt unterzeichnen müssen, mindestens zehn Jahre zu bleiben und zehn Jahre nicht nach Deutschland zu reisen. Der Bruder meiner Mutter ist mit einundzwanzig Jahren im Krieg gefallen, sinnlos gefallen. Er wollte in den Krieg, obwohl alle versuchten, ihn zurückzuhalten. Da er nach dem Abitur in Salem in China lebte, hätte er nicht Soldat werden müssen. Doch er meldete sich freiwillig und wurde schon im ersten Jahr in Frankreich verwundet. Er durfte seine Verletzung in China ausheilen und hätte dort bleiben können, aber er ging sofort wieder zurück und sagte: »Ich kann doch meine Kameraden nicht im Stich lassen.« Zwei Tage später wurde er erschossen.

    Meine Großeltern waren meine Lehrer, meine Lebenslehrer. Sie hatten ihr ganzes Leben in China verbracht, mein Großvater kam mit sechsundzwanzig Jahren als Physiker nach China, meine Großmutter mit vierundzwanzig Jahren, sie reisten quer durch China und in die Mongolei, lebten lange in Mukden, wo meine Mutter und mein Onkel geboren wurden. Später, als sie ihre Kinder mit zwölf Jahren nach Deutschland ins Internat Salem schickten, lebten meine Großeltern in Shanghai. Sie sprachen und schrieben sehr gut Chinesisch, besonders mein Großvater, auch mein im Krieg gefallener Onkel beschäftigte sich intensiv mit dem Konfuzianismus und dem Zen-Buddhismus. Mir blieben von diesen großen Erfahrungen nur wenige Jahre der intensivsten Erzählstunden mit meinem Großvater gegen Ende der Fünfzigerjahre. Er war nach dem Krieg von den Russen in Shanghai zu einhundertzwanzig Jahren Gefangenschaft verurteilt und nach Sibirien verschleppt worden, weil er als Physiker für die Firma Otto Wolff gearbeitet hatte, die den Russen als deutscher Waffenlieferant galt. Ich durfte jeden Abend in seine Studierstube kommen, in Wasserburg am Bodensee, nachdem er 1952 begnadigt worden war. Die Studierstube war eigentlich nur eine durch einen großen Bücherschrank abgeteilte Zimmerecke, und er berichtete von seinem Leben »draußen«, vom Gelben Fluss, den er hinauf- und hinunterfuhr mit einem Wohnboot, und von wochenlangen Expeditionen ins Landesinnere auf der Suche nach Bodenschätzen. Das sollte meine Zukunft auch werden: Draußen leben, nicht drinnen leben, so träumte ich.

    Auch meine Eltern waren tief unglücklich darüber, nicht mehr draußen zu leben, sie konnten sich schwer an das Drinnen gewöhnen, an die Enge, die Kleinheit im Vergleich zur Weite in China und der Internationalität in Shanghai. Als die Amerikaner nach Shanghai kamen, wurden die Deutschen repatriiert. Zuvor wurden meine Großeltern und auch mein Vater in Internierungslager gebracht. Meine Mutter ist mit meinem Bruder und mit mir den ganzen Tag durch Shanghai gezogen, von einem Kino ins nächste, um uns zu verstecken, damit wir nicht auch in ein Internierungslager kämen. So begann die große Filmwelt für mich in den Kinos von Shanghai, mit Tarzan, mit The Chinese Tarzan und dem amerikanischen Tarzan-Film, mit dem amerikanischen Filmstar Douglas Fairbanks in The Black Pirate, The Thief of Bagdad und Robin Hood, mit Charlie Chaplin in Immigrant und Gold Rush. Es gab meistens Filme aus Hollywood, aber auch die neuesten chinesischen und europäischen Filme, und sogar deutsche Filme mit Willy Fritsch. Schon die Namen der Kinos waren für mich märchenhaft verführerisch, der »Crystal Palace« und das »Star«, das »Grand« und das »Ritz«, das »Carlton« und das »Nanking«.

    Und kurz darauf dann auf dem amerikanischen Schiff, oben an Deck, noch mehr Filme aus Hollywood und viele, viele Kriegsfilme. Ich erlebte die Welt im Kino. Wir waren ganz unten im Schiffsbauch untergebracht, wo wir fast erstickten vor Hitze. Mein kleiner Bruder war bei meiner Mutter, denn Frauen und Männer waren getrennt worden, ich durfte bei den Männern sein. Mein Vater ermöglichte uns schließlich, für eine Uhr und einen Fotoapparat, den Aufenthalt an Deck. Dort fand ich Helden und Heldinnen am Tropenhimmel. Später in Deutschland habe ich all das Gesehene nachgespielt, mein kleiner Bruder war ein dankbarer Mitspieler und fügte sich in meine Regie. Ich versuchte auch, mit ihm eine Szene unter Deck nachzuspielen, als ich mit meinem Vater noch im Stockbett in der Männerabteilung des Truppentransporters schlafen musste. Da sah ich, wie ein Mann im unteren Bett seine Zähne herausnahm. Das wollte ich auch können. Zu Bett gehen spielten wir seitdem mit Papiergebissen und eingezogenen Lippen. Später in der Inszenierung von Thomas Bernhards Elisabeth II. habe ich es immer noch sehr bedauert, dass ich nicht meine Zähne herausnehmen konnte, denn der Herrenstein sagt zu Beginn des Stücks: »Ah, ich habe meine Zähne vergessen.« Es wäre ideal gewesen, das Stück ohne Zähne zu beginnen. So musste ich das spielen, aber natürlich macht das nicht so viel Vergnügen, wie tatsächlich die Zähne herauszunehmen und die Zuschauer damit zu erschrecken.

    Mit Bruder Christian, China 1944

    Die Reise auf dem Truppentransporter ging durchs Südchinesische Meer, an Hongkong vorbei, an Taiwan, dann in die Malaysische See, in den Indischen Ozean, zum Roten Meer, zum Suezkanal, Mittelmeer, Atlantik, Ärmelkanal, dann Bremerhaven. Die schrecklichen Sorgen meiner Eltern, die außer zwei Schrankkoffern nichts mehr hatten, haben wir Kinder nicht wahrgenommen. Wir empfanden es als großes Abenteuer, auf einem Kriegsschiff zu sein, durch die Meere zu fahren, wir waren wie Joseph Conrad. Der ist heute noch mein Lieblingsautor. Wir legten in Hongkong an für Wasser und Medikamente, dann in Singapur, den Andamanen. Im Roten Meer, als wir morgens aufwachten, war die Wüste vor uns, Kamele, Palmen, Oasen. Wir mussten in Suez warten, durften aber nicht an Land und auf den Basar, doch es kamen kleine Boote zum Schiff, von denen die Araber ihre Waren an langen Stangen zu uns hinaufreichten, aber wir hatten kein Geld und konnten ihnen nichts abkaufen. Plötzlich wurde auf dem Truppentransporter Alarm ausgelöst. Die Sirenen heulten. Meinem Vater schrien sie zu: »Das Schiff ist von einem Torpedo getroffen worden, wir müssen alle in die Rettungsboote.« »Wo ist meine Mutter, mein Bruder?« »Ich weiß es nicht, wir müssen zu den Männern auf die linke Seite, die Frauen müssen auf die rechte Seite.« Schwimmwesten an, Geschrei der Soldaten, der Passagiere, Gejaule der Alarmsirenen. »Bleiben Sie ruhig!« »Beeilen Sie sich!« »Das Schiff ist getroffen!« Ich war in entsetzter Panik, ich saß ohne meinen Vater im Rettungsboot, unten auf dem Wasser, wir waren nur Kinder. Mit einem Mal die Durchsage: »Das war eine Übung. Danke.«

    Meine Lieblingsfilme am nächtlichen Tropenhimmel waren naturgemäß Heldenfilme. Ich habe wohl auch viele Western gesehen, Liebesfilme, das interessierte mich nicht. Nur wenn eine einzelne Person in eine gefährliche Situation kam und sich dann daraus retten konnte, war der Film für mich faszinierend, und ich war furchtbar betroffen, wenn mein Held es nicht geschafft hat. Mich hat immer das Schicksal eines Individuums beschäftigt. Auch später am Theater. Die Erhaltung der Individualität: Ein Mensch kommt in eine Situation, die er nie zuvor erlebt hat, er muss sich neu bestimmen, er muss sich prüfen, einige versagen, andere wachsen über sich hinaus. Mir haben immer die Menschen gefallen, die sich gewehrt haben und dadurch über sich hinaus wuchsen. Zu Beginn waren dies Kinder, die allein waren und sich durchschlagen mussten. Später, in den Ruinen von Hamburg, waren es Halbstarke, sogenannte »Kraden«, die sich durchschlagen mussten. Frauen fand ich nicht sonderlich interessant, ich war nicht verliebt in Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Ich konnte mich mit all den großen Helden identifizieren, mit John Wayne, James Stewart, Gregory Peck, William Holden. Mein Vater erinnerte mich an William Holden, er sah sehr gut aus, hatte schwarze Haare, eine römische Nase und war sehr groß, zumindest aus meiner damaligen Perspektive. Mein Vater war für mich immer ein absolut untadeliger Mensch, ich fand über lange Zeit keine Fehler an ihm. Erst später erkannte ich, dass er getrieben war von der Angst zu versagen. Das hatte auch mit seiner Kindheit zu tun, er kam aus sehr armen Verhältnissen, es ist ihm gelungen, sich – in China und später in Deutschland – so emporzuarbeiten, dass er ein gut situiertes Leben führen durfte. Er war stolz darauf, aber immer voller Angst, diesen Status wieder zu verlieren. In meiner Kindheit war er der absolute King.

    Für meine Eltern war die Repatriierung aus China entsetzlich, sie mussten meinen Großvater in russischer Gefangenschaft zurücklassen und meine Großmutter in einem Internierungslager in der Nähe von Shanghai. Für mich hingegen gab es nur noch die monatelange Reise und die Filme am Himmel bis weit nach Mitternacht. In meiner Erinnerung waren das herrliche Filme, die eine Begeisterung bewirkten für die Geschichten von Menschen, die um ihre Freiheit kämpfen, die sich befreien, überleben, dem Tod entkommen müssen. Solche Überlebenskünstler faszinieren mich noch heute am meisten. Der Überlebenswille. Ich liebe und verehre Nelson Mandela. Clint Eastwood hat ihn in seinem Film Invictus geschildert als einen Menschen, von dem man erwarten musste, dass er nach der Verurteilung sagt, so, mein Leben ist eigentlich beendet, ich werde lebenslang unter demütigenden Umständen mit der Gefangenennummer 46664 auf Robben Island sein. Er interessierte sich aber dafür, wie die Weißen leben, wie sie denken, was sie lesen, er las ihre Literatur, er lernte lebenslang. Das bewundere ich außerordentlich.

    Mandela zitiert das Gedicht Invictus:

    »I thank whatever Gods may be For my unconquerable soul. (…)

    I am the master of my fate:

    I am the captain of my soul.«

    Er war immer geistig tätig, wie mein Großvater in seiner Studierstube. Der Überlebenswille und die Neugierde und die Lebensfreude sind für mich die wichtigsten und gewaltigsten Fähigkeiten des Menschen.

    II.Das Kino am Himmel im Südchinesischen Meer

    Der amerikanische Truppentransporter kam in Bremerhaven an, und vom dortigen Internierungslager wurden wir nach Hamburg gebracht, wo wir unsere erste Unterkunft in Deutschland fanden. Hamburg war eine Trümmerlandschaft. Wir wohnten in der Sierichstraße, auch dort war jedes zweite Haus zerstört. In dem Haus Nummer 20, in dem wir wohnten, mussten auf einer Etage vier Familien zusammenrücken und sich eine Küche teilen, für meine Eltern und für uns Kinder gab es nur ein Zimmer. Ich sah in den zerstörten Häusern, wie die Menschen gewohnt hatten, an der Wand stand noch eine Badewanne, da ein Bett, hier Stühle, inzwischen morsch vom Regen, und ich malte mir aus, wie diese Menschen ausgesehen und was sie erlebt hatten im Hamburger Feuersturm. Mit meinem kleinen Bruder zusammen kletterte ich in die Keller, wir bildeten uns ein, wir könnten in den Trümmern noch Schätze finden oder Spielsachen, die den getöteten Kindern gehört hatten, oder Fotos, die von den verschwundenen Bewohnern erzählten. Manchmal waren die Keller fast unversehrt und wir fanden Dinge, die für uns exotisch waren, Gläser mit Marmelade, Töpfe mit Essiggurken, alte Messingstücke, die wir in Eisenwarenhandlungen verkaufen konnten.

    Die Ruinen waren Abenteuerlandschaften für uns, in den Ruinen konnte ich die Heldengeschichten aus den Hollywoodfilmen nachspielen. Aber

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