Wendezeiten: Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung, Band 46
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Über dieses E-Book
Mit Beiträgen von Daniel Kehlmann, Sir Paul Collier, Lars Feld, Tobias Straumann, Bill Emmott, Jerome Powell, Robert Kagan, Karin Keller-Sutter, Ai Weiwei, Christoph Franz und Peter Maurer.
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Buchvorschau
Wendezeiten - Das Schweizerische Institut für Auslandforschung
SOZIALWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN
DES SCHWEIZERISCHEN INSTITUTS FÜR
AUSLANDFORSCHUNG
BAND 46 (NEUE FOLGE)
Begründet von
Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich A. Lutz (†)
www.siaf.ch
Wendezeiten
Herausgegeben von Martin Meyer
Mit Beiträgen von Daniel Kehlmann, Paul Collier,
Lars Feld, Tobias Straumann, Bill Emmott, Jerome Powell,
Robert Kagan, Karin Keller-Sutter, Ai Weiwei,
Christoph Franz, Peter Maurer
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG.
Der Text des E-Books folgt der gedruckten
1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-03810-474-2)
Lektorat: Jens Stahlkopf (deutsch) und Ashley Curtis (englisch)
Gestaltung, Satz: Mediengestaltung Marianne Otte, Konstanz
Datenkonvertierung: CPI Books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsan-lagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Verviel-fältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN 978-3-03810-474-2
ISBN 978-3-03810-490-2 (E-Book)
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhalt
Vorwort
DANIEL KEHLMANN
Wie Literatur die Welt spiegelt
PAUL COLLIER
The Future of Capitalism
LARS FELD
Wirtschaftskrisen der Zukunft
TOBIAS STRAUMANN
Hitlers Aufstieg und die Aktualität der 1930er-Jahre
BILL EMMOTT
Europe in an Age of Trump, Salvini and the Gilets Jaunes
Panel Discussion with Governor
JEROME POWELL and Governor THOMAS JORDAN
ROBERT KAGAN
Where are the US heading?
KARIN KELLER-SUTTER
Zwischen Zusammenarbeit und Grenzen
AI WEIWEI
All is Art. All is Politics.
CHRISTOPH FRANZ
Was verspricht die Digitalisierung für das Gesundheitswesen?
PETER MAURER
Die Transformation humanitären Handelns
Vorwort
Lässt man das Programm des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung im Jahr 2019 noch einmal Revue passieren, was auch Sinn und Zweck eines Jahrbuchs sein soll, so fällt zweifellos auf, dass der Spannungsbogen weit gezogen war. Abwechslung war angesagt, nicht nur für die Themen der Vorträge, sondern auch für die Speaker, die zwischen dem 5. März und dem 18. November ihre Auftritte an der Universität Zürich hatten und dabei vor grossem und interessiertem Publikum referieren konnten.
Den Auftakt im Frühjahrssemester machte der berühmte deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann mit einem bemerkenswerten Vortrag zum Verhältnis zwischen Welt und Literatur. Es folgte der Auftritt des britischen Ökonomen Sir Paul Collier, der die Zukunft des Kapitalismus mit Anschauungsmaterial insbesondere aus dem Vereinigten Königreich spiegelte. Weiter ging es mit ökonomischen Themen und Fragestellungen in den Referaten von Professor Lars Feld («Wirtschaftskrisen der Zukunft» - «Corona» konnte noch nicht auf dem Radar des Verdachts stehen…), von Professor Tobias Straumann («Hitlers Aufstieg und die Aktualität der 1930er-Jahre») und Bill Emmott («Europa im Zeitalter von Trump, Salvini und den Gilets jaunes»). – Aus allen Vorträgen wurde ersichtlich, dass das Wort vom Primat der Politik für die Zeitgeschichte längst zu ergänzen ist durch dasjenige von der Vorherrschaft der Wirtschaft und insbesondere der Weltwirtschaft, die ihrerseits vielfältigen Formen von Politik und Politisierung immer neue Nährstoffe liefert.
Das Herbstsemester begann mit einer besonders spannenden Ouvertüre, hatten wir doch das Privileg, den Chef der Notenbank der Vereinigten Staaten von Amerika, Jerome Powell, in Zürich willkommen heissen zu dürfen. Powell diskutierte mit Thomas Jordan, dem Präsidenten des Direktoriums der SNB, und dem Unterzeichnenden über aktuelle Fragen der Geldpolitik. Ebenfalls aus Amerika stiess der Politologe Robert Kagan zu uns, der die gegenwärtige Politik der USA einer kritischen Analyse unterzog. Bundesrätin Karin Keller-Suter, Vorsteherin des EJPD, hielt einen viel beachteten Vortrag zum Verhältnis zwischen Kooperationen und Grenzen in Europa, während sich Christoph Franz, Chairman von Roche, zu aktuellen Fragen des Gesundheitswesens äusserte und Peter Maurer, Präsident des IKRK, über Transformationsprozesse im humanitären Handeln referierte.
Am 30. Oktober war der weltberühmte chinesische Künstler und Zeitdiagnostiker Ai Weiwei beim Siaf zu Gast. Er erhielt im Kontext seines Auftritts den zum fünften Mal verliehenen Frank-Schirrmacher-Preis und wurde von alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey mit einer ebenso eloquenten wie substanziellen Laudatio geehrt. Anschliessend diskutierte Ai Weiwei mit dem Unternehmer und Kunstsammler Uli Sigg sowie Micheline Calmy-Rey über die politischen Aufgaben von Gegenwartskunst im Rahmen einer zunehmend schwieriger «lesbaren» Welt.
Sämtliche Anlässe waren hervorragend besucht. Die Möglichkeit, jeweils nach dem Vortrag noch mit den Referentinnen und Referenten zu diskutieren, wurde ebenfalls rege wahrgenommen.
Gute Vorträge von klugen Gästen bieten nicht nur Momentaufnahmen. Sie sind nicht nur Schlaglichter auf aktuelle Vorkommnisse und Entwicklungen. Sie lassen immer auch Tiefenstrukturen und langfristige Prozesse der Zeit sichtbar werden. Insofern mag die Lektüre dieses Jahrbuchs zu weiteren Reflexionen anregen.
Wir wünschen ergiebige Lektüre.
Dr. Dr. h.c. Martin Meyer
Präsident des Vorstands
Schweizerisches Institut für Auslandforschung
(Alle Texte geben mündlich gehaltene Vorträge wieder und sind in diesem Sinn als niedergeschriebene Reden zu verstehen.)
Wie Literatur die Welt spiegelt – ungeordnete Bemerkungen über literarische Gattungen
DANIEL KEHLMANN
Veranstaltung vom 5. März 2019
I
Gattungen sind keine willkürlichen Erfindungen. Es gibt sie schon lange, es wird sie geben, solange Menschen Sätze zu Geschichten zusammensetzen. Wer von ihnen spricht, muss bei der ältesten, der ursprünglichsten anfangen, beim Gedicht.
Das Gedicht stammt direkt vom Zauberspruch ab, von den ältesten Versuchen unserer Vorfahren, das Chaos der Welt zu bannen und zu meistern. Ein Gedicht ist etwas Innerliches. Es handelt davon, wie es sich anfühlt, ein bestimmter Mensch in einem bestimmten Moment zu sein, sogar wenn es von Dingen der Aussenwelt handelt, handelt es eigentlich davon, wie es ist, die Person zu sein, die diese Dinge in einem Moment eines bestimmten begrenzten Menschenlebens wahrnimmt. Ein «objektives» Gedicht wäre ebenso ein Unding wie ein «allgemeingültiges». Ein Gedicht, das Ereignisse berichtet, wäre schon keines mehr, es wäre, wenn es lang ist, ein Epos, wenn es kurz ist, eine Ballade.
Das Gedicht zeigt den Menschen, der darin spricht, als Vereinzelten in der Welt. Und es zeigt ihn dabei, sich Rechenschaft abzulegen. Deshalb ist es kein Wunder, dass die klassische deutsche Literatur mehr grosse Gedichte als grosse Romane hervorgebracht hat. Die Literatur deutscher Sprache im 18. und 19. Jahrhundert ist ein Produkt der protestantischen Pfarrhäuser. Es ist immer wieder verblüffend, wie viele romantische Poeten Pastorensöhne waren – aber was ist denn der Protestantismus, wenn nicht eben dies: die Idee, dass du auf die Zwischenhändler verzichten kannst? Dass du alleine vor Gott stehst, der dich bis ins Innerste kennt und dem du dich zu erklären hast. Für das protestantische Pfarrhaus ist die Gesellschaft eine unnötige Ablenkung von der bitter notwendigen Seelenerforschung, die die Aufgabe jedes einzelnen Menschen ist. Man verliert sich nicht in der Welt. Man hat bei sich zu sein. Das eben ist die fundamentale Wahrheit des Gedichtes.
II
Aber es gibt eben nicht nur den Einzelnen, es gibt auch die Gesellschaft. Es gibt Cocktailpartys, Business Meetings und Parlamentssitzungen. Es gibt also Politik, und es gibt Familien, mit all ihren Streitigkeiten und zähen Verwicklungen. Was wäre der Mensch ohne sie? Die Wahrheit des Gedichtes ist noch nicht die ganze. Die Welt der Menschen ist eine des Mit- und Gegeneinanders, eine Welt des Strebens und Scheiterns, eine Welt, wo wir einander helfen und einander im Weg stehen, eine Welt der Verstrickungen! Davon spricht der Roman. Die beiden Pole Politik und Familie überspannend, ist er eine bürgerliche Gattung, dessen grosse Zeit nicht zufällig mit dem Siegeszug der Demokratie anhebt und daher auch in Frankreich und England stattfindet, während der deutsche Sprachraum unterdessen eine Hochzeit der höfischen Form erlebt, nämlich des Dramas.
Drama und Roman, beide handeln davon, dass Menschen einander im Weg stehen, ohne dass eine Seite dabei eindeutig recht oder unrecht haben müsste. Ein religiöser oder politischer Fanatiker könnte theoretisch ein gutes Gedicht schreiben, denn auch ein zutiefst in Ideologie Verstrickter könnte in ergreifenden Worten beschreiben, wie es ist, eine Liebe zu verlieren oder eine Blume oder Wolke zu sehen. Aber einen gelungenen Roman schreiben, in dem per definitionem jede einzelne Figur auf ihre Art recht haben, unser Mitleid erregen und unser Verständnis besitzen muss – das kann er nicht, und könnte er es, er wäre kein Fanatiker. Der Roman ist zugleich die Form der Empathie wie auch der Ironie – in seiner klassischen Ausprägung stellt er die Verwebungen der Gesellschaft dar und relativiert so jeden absoluten Wahrheitsanspruch.
Und das Theaterstück? Ich habe es eine höfische Form genannt – dass dem so ist, hat schon mit seinen Produktionsbedingungen zu tun. Ein Gedicht zu schreiben kostet weder viel Zeit noch Geld, man braucht nicht einmal Papier und Bleistift dafür, es lässt sich im Kopf machen. Für die Abfassung eines Romans braucht es immerhin einen einzelnen Menschen und einige Monate oder Jahre, das kostet nicht die Welt, aber es ist doch ein Luxus, den man sich leisten können muss; ebenso sind der Druck, die Herstellung, der Vertrieb eines Romans zwar nicht umsonst, aber auch nicht kostspielig verglichen mit anderen Formen – für ein Stück aber braucht es einen Mäzen. Selbst kommerzielles Theater hat Investoren und Förderer; Theater ist nicht denkbar ohne einen reichen Fürsten im Hintergrund, so ist es entstanden, und in demokratischen Umständen wird diese Rolle vom Steuerzahler übernommen – das Gedicht ist eine ganz und gar individuelle, der Roman eine demokratische, das Theater eine höfische Form, es benötigt Ermöglicher. Wie der Roman, so ist auch das Drama eine Form, in der niemand ganz recht und niemand ganz unrecht hat, aber im Roman führt diese Haltung zu einer gewissen Abgeklärtheit, einer ironischen Distanz des Erzählers. Im Drama führt sie vielmehr dazu – und nichts anderes besagt das Wort dramatisch in der Umgangssprache –, dass wir den Konflikt miterleben und -erleiden. Das Drama lässt uns die Menschenwelt als ein aus Widerstreit erbautes Gebilde erleben; ein Stück erzählt eine Geschichte gewissermassen immer von einem Konflikt zum nächsten, ohne sich mit Äusserlichkeiten aufzuhalten, die Schönheit der Natur, die physische Textur der Aussenwelt ist ihm gleichgültig, jede Szene auf einer Bühne ist ein Streit. Es muss kein offener oder lauter Streit sein, er kann auch versteckt und im Verborgenen stattfinden, aber es bleibt der seltsame Umstand, dass jeder Moment in einem Theaterstück, der nicht einen Konflikt entweder exponiert oder weiterentwickelt, schlicht und einfach langweilig ist. Das gilt für Schnitzler, Ibsen und Shaw ebenso wie für Ionesco, Beckett und Yasmina Reza, es ist eine Regel, von der sich nicht abweichen lässt, und tut man es doch, ist alles, was auf der Bühne geschieht, im gleichen Moment leblos, blass, tot.
III
Ich merke es auch an mir selbst. Wenn ich an einem Roman schreibe, und die Arbeit geht gut voran, fühle ich mich seltsam ausgeglichen, ich fühle mich im Griff einer ironischen Klarheit, ich fühle mich den Menschen gleichzeitig nahe und fern; einen Roman schreiben ist, wenn es gut läuft, ein angenehmer Zustand. Wenn ich an einem Theaterstück schreibe, und es geht gut, bin ich nervös. Ich fühle mich reizbar und angegriffen, ich denke in Konflikten. Es ist kein Zufall, dass wir in der Literaturgeschichte so viele Beispiele von Dramatikern haben, die, um es vorsichtig zu sagen, schwierige Leute waren – von Alkoholikern, von Streithähnen, von Menschen, die ständig hilflose Beute ihres Zorns wurden. Die Form des Dramas bringt es mit sich, dass es nicht angenehm ist, ein Dramatiker zu sein. Mir persönlich sind meine Stücke ebenso wichtig wie meine Romane, aber was den tatsächlichen alltäglichen Prozess des Schreibens angeht, so bin ich lieber der, der an einem Roman, als der, der an einem Stück arbeitet.
IV
Der Lyriker und der Romancier sprechen direkt. Die Stimme, die wir hören oder lesen, ist die Stimme des Autors – sie mag verstellt sein, aber sie gehört ihm. Der Dramatiker wie auch der Autor eines Drehbuchs sprechen durch andere, nämlich die Schauspieler. Aber hier endet auch schon die Gemeinsamkeit. Film und Drama sind kollaborative Formen, die nicht eine Person allein, sondern eine Gruppe realisiert, aber der Film ist kein fotografiertes Theater! Er unterliegt anderen Gesetzen und steht dem Roman näher als dem Theaterstück.
Überhaupt, der Film. Im Augenblick sieht es ja so aus, als ob er die Gattung ist, die in der zeitlich ausgestreckten Form der Fernsehserie alle anderen Gattungen vertilgend überrollt. Wir alle sehen mehr Filme als wir lesen oder ins Theater gehen. Wir alle sind mit Filmen aufgewachsen und, ob wir es wollen oder nicht, stärker von Filmen geprägt als von Büchern, Dramen, Erzählungen, Gedichten. Für mich gilt das in besonders starker Weise, auch aus familiären Gründen: Mein Vater war Regisseur, meine Mutter ist Schauspielerin, und die Prägung erfolgte nicht nur in äusserlicher, sondern auch innerlicher Weise. Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich den Tod meiner Mutter erlebte. Nicht in Wirklichkeit, Gott sei Dank, sie befindet sich bei guter Gesundheit, sondern in einem Fernsehfilm. Die Figur, die meine Mutter darstellte, starb keineswegs vor meinen Augen, ihr Ableben wurde nur von einer anderen Figur gegen Ende des Films kurz erwähnt, und vermutlich hatten auch deswegen meine Eltern nicht daran gedacht, dass etwas so Fernes und Abstraktes mich tatsächlich würde erschrecken können – aber es erschreckte mich, und zwar sehr. Meine Mutter sass neben mir auf dem Sofa, und dennoch regte ihr Tod in der Handlung des Films mich so sehr auf, dass ich gar nicht mehr zu mir finden konnte vor Weinen und Verunsicherung. Meine Mutter ist ein einfühlsamer Mensch, aber nun wusste sie doch nicht recht, wie sie umgehen sollte damit, dass sie ihren kleinen Sohn zu trösten hatte über ihren eigenen Tod – in einem Moment, wo sie doch gesund und munter neben ihm sass. Und auch ich selbst begriff natürlich, dass das alles keinen Sinn hatte, dass meine Traurigkeit völlig unangebracht war und dass es bloss um eine Fiktion ging. Und doch konnte ich mir nicht helfen und weinte hemmungslos. – Diese Geschichte ist vielleicht symptomatisch für viele Dinge – ich weiss nur nicht genau, wofür. Für das komplizierte Verhältnis von Fiktion und Leben womöglich, für die Seltsamkeit des Schauspielerberufs, und sicher auch für die eigentümliche Lage eines Kindes, dessen Eltern im Illusionsgewerbe tätig sind. Auf seltsame Weise kamen mir seit dieser Kindheit alle anderen Berufe … nun ja, unwirklich vor.
Mein Vater war Regisseur, er inszenierte Fernsehfilme, die ich kannte, lange bevor ich sie eigentlich sehen konnte. Mein Vater hatte die Angewohnheit, Drehbücher zu diktieren, er sass an seinem Schreibtisch, vor Bergen gekritzelter Notizen, die nur er allein lesen konnte, und sprach das Drehbuch, zum Beispiel seiner Verfilmungen der grossen Romane von Joseph Roth, auf ein Tonband. Das wurde dann von seiner Sekretärin abgetippt und kam als säuberlich geschriebenes Skript zurück, das er dann wieder mit Kritzeleien versah, aus denen er eine zweite Fassung diktierte. Und wenn er das tat, sass ich oft dabei, reglos, stumm, zuhörend, und die merkwürdige Mischung aus Nummern, Szenenanweisungen, knappen Handlungsbeschreibungen und natürlich Dialog liess vor meinen Augen, nun ja, vielleicht nicht einen Film, aber doch eine Handlung, eine Geschichte entstehen. Es war zugleich abstrakt und konkret, zugleich erzählend und eigentümlich schematisch, und als ich viele Jahre später selbst anfing, nun auch Drehbücher zu schreiben, hatte ich nicht das Gefühl, etwas völlig Neues zu versuchen, sondern kehrte vielmehr zu etwas Vertrautem zurück: jener schmucklosen Prosa, die das Innerste eines Films ausmacht, die sozusagen sein Gerüst aufbaut und seine Form erzeugt.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich immer überzeugt war von der tiefinnerlichen Verwandtschaft von Film und Roman. Der Film ist eine epische Gattung mehr als eine dramatische; obgleich er mit Schauspielern, Szenen und Dialogen arbeitet, steht er dem Roman näher als dem Theaterstück. Er lebt von Atmosphäre, von genauer Einrichtung der Details, von Bildern, Übergängen, An- und Zusammenklängen, von Farben und Formen, natürlich auch von kleinen Gesten, Blicken, Haltungen und Bewegungen; von all diesen Dingen mehr als von Dialogen. Deswegen werden Romane so oft in Filme übersetzt und Theaterstücke so selten.
V
Romane sind in Filme übersetzbar, und wer etwas anderes behauptet, halten zu Gnaden, spricht ein Klischee nach. Mit kaum einem Satz erntet man mehr Zustimmung auf Partys als mit der Feststellung: «Ein guter Roman ist immer unverfilmbar.» Auf diesen Satz hin wird stets genickt, egal wann er geäussert wird, egal wo, egal von wem, und niemand antwortet: Ja, aber was ist mit Tarkowskijs Solaris? Was ist mit Viscontis Tod in Venedig? Was mit Bondartschuks Krieg und Frieden, was mit Hanekes Klavierspielerin, was mit allen Filmen Stanley Kubricks? Was ist mit den Wahlverwandschaften der Taviani-Brüder, was ist mit Sam Mendes’ Revolutionary Road, was mit Schlöndorffs Verwirrungen des Zöglings Törless oder seiner Blechtrommel, was mit David Leans Passage to India, was mit Robert Altmanns Short Cuts? Ja, kann man nicht so viele Gegenbeispiele zu der beliebten Party-These von der Unverfilmbarkeit guter Romane