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Wir denken an .......: Literarische Essays
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eBook350 Seiten4 Stunden

Wir denken an .......: Literarische Essays

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Über dieses E-Book

Diese literarischen Essays sind zwischen 1948 und 1955 als Rundfunkvorträge entstanden. In kurzen, aber aufschlussreichen biographischen Skizzen versucht der Verfasser das jeweilige Wesen und die tieferen Beweggründe des Handelns von Malern und Bildhauern, Dichtern und Schriftstellern, Komponisten, Erfindern und Endeckern, Staatsmännern und Feldherrn und anderen Grossen der Weltgeschichte zu erfassen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum7. Apr. 2021
ISBN9783753184425
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    Buchvorschau

    Wir denken an ....... - Heinrich Jordis-Lohausen

    Vorwort

    Heinrich Jordis-Lohausen gehört in jenen weiten Kreis österreichischer Schriftsteller, die auf dem Umweg über das Militär den Weg zur Literatur gefunden haben.

    Er ist im Jahre 1907 als Sohn eines k.u.k. Rittmeisters in Seebach bei Villach geboren, wuchs dann in Graz auf und legte auch hier und zwar in der seinerzeitigen Landesoberrealschule in der Hamerlinggasse die Reifeprüfung ab.

    Seine lang vorbereitete Absicht, die diplomatische Laufbahn zu ergreifen, musste er bald aufgeben. Die Notwendigkeit sich das Leben selbst zu verdienen, zwang ihn bereits im Jahre 1926 das begonnene Hochschulstudium sein zu lassen und das Dasein eines Studenten an der Karl-Franzens-Universität in Graz mit dem eines Rekruten in der Lazarettfeldkaserne zu vertauschen.

    Wir finden Jordis-Lohausen später als Leutnant der Artillerie in Stockerau, dann wieder in seiner Heimatstadt Graz, später, nach in Italien, Frankreich und England betriebenen Sprachstudien, auf der Generalstabsschule in Wien.

    Die dort erworbenen Fertigkeiten und die mitgebrachten Sprachkenntnisse führten ihn während des zweiten Weltkriegs in verschiedenartige Verwendungen, von denen eine vorübergehende Tätigkeit an der Deutschen Botschaft in Rom und die eines Verbindungsoffiziers Rommels bei italienischen Einheiten des Afrika-Korps, die hervorstechendsten waren.

    Das Kriegsende traf ihn als Führer eines niedersächsischen Artillerieregiments. Die anschließenden Jahre nach kurzer Gefangenschaft als Dolmetscher in Salzburg, später als Hilfsarbeiter, Bürosekretär und Handelsvertreter wieder in Graz.

    Bereits in seiner Jugend ein Liebhaber schöner Literatur, hatte Jordis-Lohausen schon früh damit begonnen, schöngeistige Essays, Gedichte in Prosa, aber auch belletristische Skizzen zu schreiben. Die abwechslungsreichen Eindrücke des vergangenen Krieges bestärkten diese Neigungen und ließen den Wunsch aufkommen, sich ihnen nach seiner Beendigung vorbehaltlos zu widmen. Seit 1948 ist Heinrich Jordis-Lohausen ständiger Mitarbeiter des Grazer Rundfunks. Die von ihm verfassten Vorträge der Sendereihe « Wir denken an.... » gehören zu den wertvollsten und beliebtesten Programmbeiträgen.

    Otto Hofmann-Wellenhof,

    Leiter der Literaturabteilung des Senders Alpenland Graz, im Juni 1951.

    **********

    Einleitung

    Diese Aufsätze sind für den Rundfunk geschrieben, also bestimmt gehört zu werden, nahe gebracht von einer Stimme, die sie Wort für Wort zu wägen versteht. Nicht waren sie ursprünglich bestimmt, von stummen, das bloße Schriftbild festhaltenden Augen aufgenommen, nicht also gelesen zu werden. Auch sind sie geschrieben im Hinblick auf eine knappe und unumstößlich bemessene Sprechzeit – meist nur 13, allenfalls 14 Minuten. Und das zwang wiederum, der Stimme zur Andeutung zu überlassen, wofür ein eigenes Wort oder gar ein eigener Satz aus Zeitmangel nicht mehr bereitstand.

    Dass dies so sein musste – nie ist im Rundfunk unbeschränkt Zeit – bewirkt ihren Stil, auch den Zwang, von jedweder Wiederholung abzusehen. Gedacht waren sie mithin als einmalige, flüchtige Visionen, ihr Erscheinen im Druck zwingt sie mit einem Male zur Dauer. Das widerspricht ihrem Wesen. Widerspricht im Grunde dem Wesen jeden Essays. Essay heißt Versuch und Versuche sind nie etwas Fertiges, sind bestenfalls Übergang und Vergänglichkeit. Unwiederholbarkeit ist ihr wesentliches Kennzeichen. Vielleicht ist alle Kunst so. Und vielleicht trennt gerade das sie von jeglicher Wissenschaft (besonders von ihrer eigenen – der Kunst- und Literaturgeschichte). Wissenschaft ist immer fertig. Ist immer das, was gilt und einwandfrei bewiesen werden kann.

    Nichts von alle dem, was in diesen Aufsätzen steht, kann bewiesen werden (ausser allenfalls einige Quellenangaben und Daten) also ist nichts Wissenschaftliches an ihnen und kann es nicht sein: Vor allem nichts Fachwissenschaftliches. Alles Menschliche widerstrebt dem Versuch, Teil eines Fachwissens zu werden.

    Um ein Leben wiederzuerzählen, bedürfte es wiederum eines Lebens. Auch ein zehnbändiges Werk wäre dazu nicht im Stande, und auch ein hundertbändiges nicht. Und doch gelingt zuweilen, einem Augenblick, was ein derartiges Werk nicht vermag, das Wesen einer Gestalt bis auf den Grund zu erhellen. Wer dann sieht, ist begnadet und zugleich verurteilt zu schweigen. Das Tiefst in uns ist wortlos und spottet jeder Beschreibung.

    Man kann einen Strom nicht in Eimer fassen – doch gesetzt den Fall, man könnte es, man würde selbst den letzten Wassertropfen jenes Eimers nie auszuloten vermögen. Und man kann eine Kugel nie dadurch beschreiben, dass man die Punkte ihrer Oberfläche abzählt. Man kann sie auch durch den einen einzigen Punkt in ihrer Mitte nicht beschreiben. Man kann – und das ist der einzige Weg – das Wesen einer Kugel nur aus einem jener unzähligen Strahlen erfassen, die pfeilähnlich ihre Oberfläche mit dem Inneren verbinden.

    Anderes wollen auch diese Aufsätze nicht sein als solche Strahlen, « Pfeile nach innen » – jeweils einer von den abertausend möglichen, die von der Peripherie unseres lebendigen Seins seiner Mitte zustreben. In dieser Mitte, unendlich fern in dieser Mitte steht der Mensch.

    Heinrich Jordis-Lohausen.

    Charles Dickens

    Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth geboren. Aber schon vier Jahre später ziehen seine Eltern nach Chatham. Und dort, in der kleinen Südenglischen Hafenstadt, empfängt Charles seine ersten bleibenden Eindrücke.

    Er ist zart und kränklich. Da er wenig unternimmt, beobachtet er umso lebhafter, und was er nicht sieht, ergänzt seine Phantasie. So mehr mit Träumen als Spielen verbringt er seine Kindheit.

    Er ist elf, als ein neuerlicher Umzug sein Leben von Grund auf verändert. Ursache dieser Übersiedlung sind finanzielle Schwierigkeiten seines Vaters. Offenbar waren Schulden nicht die gewünschte Empfehlung für einen Zahlmeister der britischen Flotte und eines Tages sah sich der muntere Dickens ziemlich plötzlich aus Chatham versetzt und abgeschoben nach London.

    Und nun sitzen sie dort – in der Stadt, die schon seit Generationen alle auffängt, die irgendwo im Vereinigten Königreich ins Rutschen gekommen sind. Aber noch geht es weiter abwärts. Zuerst erscheint der Gerichtsvollzieher, dann ziehen Vater und Familie ins Schuldgefängnis.

    Sie finden eine ausgesuchte, aber bunte Gesellschaft in ihrer neuen Behausung vor, denn die merkwürdigsten Ursachen haben hier die merkwürdigsten Leute zusammengeführt. Mit weit aufgerissenen Augen erfasst Charles das groteske Nebeneinander der Tragik und Komik, das dieser Versammlung gestrandeter Existenzen ziemlich ausnahmslos anhaftet.

    Das Lächerliche stets neben dem Ernsten zu finden, erscheint ihm seither bezeichnend für jedes menschliche Schicksal. Und er wird später nicht müde werden, uns das ewig Tragikomische unseres Daseins vor Augen zu halten.

    Hätte England nicht aus angeborener Trägheit für gut befunden, seine Schuldgefängnisse bis ins 19. Jahrhundert hinein unverändert bestehen zu lassen – allein Dickens und seine Geschichten hätten es von der Weisheit seines Unterlassens überzeugen müssen.

    Zunächst jedoch hat Charles wenig Ursache, zu lachen. Indessen er, der Bildungshungrige, seinen verlorenen Büchern nachweint, zwingt ihn bitter Not, in einer Schuhwichsefabrik Etiketten zu kleben.

    Er beißt die Zähne zusammen, aber er tut seine Arbeit mit brennender Scham. Er ist viel zu sehr Realist, viel zu sehr Bürgerkind, um das Herabgekommene seiner Lage nicht zu begreifen. Aber auch viel zu sehr Idealist, um seine kleinen Leidensgenossen in der Fabrik jemals vergessen zu können und um nicht eines Tages einer der Ersten zu sein, die ihre Stimme gegen das Laster der Kinderarbeit erheben werden.

    Aber noch ist er elf Jahre alt. Und erst nach Monaten befreit ihn ein gütiges Geschick und steckt ihn zu glücklicheren Altersgenossen in eine Schule. Und nun überschlägt sich der bisher so stille Junge in waghalsigen Streichen, gibt eine Schülerzeitung heraus, spielt Theater, verschlingt zwischendurch, was immer ihm an bedrucktem Papier zwischen die Finger gerät und scheint im Übrigen nur nachholen zu wollen, was er in den zehn vergangenen Jahren an Knaben-Torheiten versäumt hat.

    Fraglich bleibt, was Charles im üblichen, schulmäßigen Sinn gelernt hat. Aber Lernen war, wie wir wissen, gar nicht der Zweck dieser englischen Schulen. Der war schon erreicht, wenn die Eltern ihre Rangen nur los waren und Berufenere ihnen die Mühe abnahmen, ihnen zu allen standesgemäßen Vorurteilen noch etwas Manieren beizubringen.

    Aber auch die Schule bleibt Intermezzo. Wieder muss Charles zurück in den Kampf ums tägliche Brot. Nun ist er Bürojunge eines Rechtsanwaltes. Neuerdings lernt er eine Fülle menschlicher Gestalten kennen, die später als stereotype Figuren durch seine Romane wandern werden.

    Was er dabei von Recht und Rechtsprechung zu hören bekommt, genügt, ihn mit lebenslänglichem Misstrauen zu erfüllen und er lässt bald keinen Zweifel darüber, dass er seine Zukunft auf diesem Gebiet nicht suchen wird.

    In jene Zeit – er mag etwa 17 gewesen sein – fällt seine beginnende Leidenschaft für Maria Beadnell Es ist seine erste Liebe und sie hat vier Jahre lang gedauert. Überflüssig zu sagen, dass es eine ganz und gar unglückliche Zuneigung war, denn seine Geliebte dachte nicht daran, sich einem jungen Habenichts zu versprechen. Diese Ausdauer im Neinsagen hat ihr wie vielen ihres Geschlechtes die Unsterblichkeit eingetragen, denn Dickens hat sie später in seinen Romanen „David Copperfield und „Little Dorrit äußerst dankbar verewigt.

    Mit 19 findet er endlich Gelegenheit, einen passen Beruf zu ergreifen. Er wird Parlaments-Berichterstatter – aber erst, nachdem ihn eine rechtzeitig dazwischen tretende Krankheit vor der Versuchung gerettet hat, zur Bühne zu gehen.

    Denn Dickens hatte nicht nur den väterlichen Darstellungstrieb in ausgiebigem Maße geerbt, sondern überhaupt einen ausgeprägten Hang zum bunten Dasein der Komödianten. Die erforderliche Eitelkeit jedenfalls hätte er gehabt, um Schauspieler zu werden. Nun aber stürzt ihn der Zufall in das Getriebe der Politik.

    Eben tobt der Kampf um die Parlamentsreform. Dickens fährt von Versammlung zu Versammlung, schreibt nachts in der Postkutsche seine Berichte und geißelt mit aufrichtiger Erbitterung jene Missstände, die das damalige England zu einem so fragwürdigen Aufenthalt für unbemittelte Menschenkinder gemacht haben.

    Manches, was er sieht, gerät später in seine Erzählungen und trägt dazu bei, das hinter puritanischen Formeln verschanzte Gewissen seiner Landsleute und Mitbürger auf die sehr unheiligen Zustände in Schulen, Fabriken und Armenhäusern aufmerksam zu machen.

    Allerdings, um ein erfolgreicher Politiker zu werden, dazu hat Dickens viel zu viel gesehen und viel zu wenig verschwiegen. Und niemand hat sich später gewundert, dass dieser ebenso aufrichtige wie geschwätzige Mann sich lieber der Literatur zugewandt hat.

    Das begann nach einigen kleineren Skizzen mit den sogenannten „Hinterlassenen Papieren des Pickwick-Clubs, und diese selben „Pickwickier machen Dickens mit einem Schlage zum meistgelesenen Schriftsteller Englands. Dabei war es gar nicht sein Kopf, dem diese „Pickwickier" entsprungen waren, sondern der seines Verlegers. Mister Soundso, eben der Verleger, verfügte über eine Reihe namhafter Spottkarikaturen, und was er dazu haben wollte, das waren ein paar verbindende Worte. Was Dickens aus ihnen gemacht hat, wurde sein eigenes Meisterstück.

    Nicht umsonst hatte er 20 Jahre lang alle Typen des damaligen England mit äußerster Sorgfalt beobachtet. Nun ergießt er den zurückgestauten Reichtum seiner Eindrücke über seine Leser, und nicht die gezeichneten Karikaturen seines Künstlerkollegen, sondern seine geschriebenen werden zum eigentlichen Zugstück dieser Veröffentlichung.

    Und es kommt ihm gar nicht darauf an, nur Wirkliches oder wenigstens doch nur Wahrscheinliches zu schildern. Im Gegenteil, obgleich er sich oft recht bedenklich an bewährte Vorbilder hält, ist er doch viel zu sehr Humorist, um nicht gerade das Unwahrscheinliche zu lieben.

    So bringt er seinen Mister Pickwick nebst all dessen liebenswürdigen Schwächen mit solcher Meisterschaft, dass niemand bemerkt, wie unglaubhaft der ganze Mann samt seiner Geschichte eigentlich ist. Und auch später, in seinen an dramatischen Szenen so reichen Romanen, lässt er den Leser über dem verblüffenden Realismus der Einzelheiten oft völlig übersehen, wie phantastisch zuweilen ihre Erlebnisse und wie grotesk stilisiert ihre Charaktere sind.

    Durch den Erfolg der Pickwickier ist Dickens mit 24 Jahren ein gemachter Mann. Nun unternimmt er, was sich später nicht mehr gutmachen lässt: er heiratete, und das – um bereits im ersten Ehejahr festzustellen, dass er in seiner Frau Catherine die falsche Schwester gewählt hat, und dass eigentlich seine jüngere Schwägerin Mary diejenige ist, die er vernünftigerweise hätte wählen sollen.

    Später dann, als Mary längst nicht mehr lebt, überträgt sich diese Zuneigung auf seine zweite, noch jüngere Schwägerin Georgine. Aber auch sie wird ihm, wie Mary, nur geistige Gefährtin und trägt keine Schuld an Dickens schließlicher Scheidung.

    Mit dieser Geschichte von den drei Schwestern Hogarth sind seine Liebesabenteuer erschöpft. Wäre es anders, wäre er nie der Repräsentant jenes viktorianischen England geworden, das das Vorhandensein erotischer Bedürfnisse entweder hinweggeschmachtet oder hinweggeschwiegen hat. So kennen auch seine Romane nur die Liebe von Engeln oder die Zärtlichkeit von Kindern. Doch hat solche Enthaltsamkeit die Volkstümlichkeit seiner Werke – zumindest in den germanischen Ländern – wenig beeinträchtigt. Was Dickens an Pikantem verweigert, gewährt er umso freigiebiger im Sentimentalen. Und niemals lässt die scharfe Scheidung von lichten und dunklen Gestalten den Leser im Zweifel, auf wessen Seite seine Sympathien anständigerweise zu liegen haben.

    Dass er altmodisch genug war, seine Leser am Gängelband dieser Sympathien nicht nur zu unterhalten, sondern auch erziehen zu wollen, hat ihm das Missfallen mancher späteren Generationen eingetragen. Dass diese Spätgeborenen an seine durchaus sinnbildhaft aufzufassenden kindlichen Helden die Maßstäbe psychoanalytischer Kritik angelegt haben, beweist andererseits, dass sie in ihrem zeitgemäßen Kinderglauben nicht weniger befangen waren, wie er in dem seinen.

    Bald nach den Pickwickiern und den ihnen nachfolgenden Romanen („Oliver Twist, „Nicholas Nickleby und „Barnaby Rudge") beginnt sein Ruf über England hinauszudringen. Schon werden seine Werke ins Deutsche übersetzt und im Jahre 1842 folgt Dickens einer längeren Einladung nach Amerika.

    Zurückgekehrt, setzt er sich unverzüglich hin und schreibt – als ob es dazu einer Fahrt über den Ozean bedurft hätte – seine berühmte Biographie des Egoismus: „Martin Chuzzlewit". Indessen – nicht Martin ist die Hauptfigur dieses Buches, sondern der puritanische Erzheuchler Pecksniff.

    Befremdend für kontinentale Gemüter – nicht für insulare – ist, dass jener Pecksniff nicht einmal im Augenblick seines Todes zum Bewusstsein seiner lebenslänglichen Heuchelei gelangt, und dass er in der unerschütterten Überzeugung stirbt, ein Muster an Sitte und Gerechtigkeit gewesen zu sein.

    Dem allerdings kann von jenseits des Meeres mit Recht entgegengehalten werden, dass Dickens auch hier wieder einmal maßlos übertrieben hat, und Übertreibung – geschickt stilisierte Übertreibung – ist tatsächlich das eigentliche Merkmal seiner Kunst.

    Und Dickens hat diese Kunst mit feingespitzter Feder weitergeübt – lächelnd manchmal und manchmal stirnrunzelnd – aber immer mit der gleichen Unternehmungslust, mit dem gleichen sprichwörtlichen Geschäftssinn und der gleichen etwas lauten Selbstzufriedenheit des hochgekommenen Bürgers, bis im Jahre 1870 ein Schlaganfall seinem Leben ein Ende setzte.

    Heute ist Dickens mehr ein Stück Kulturgeschichte, als ein Stück lebendiger Literatur. Das heutige England ist gedämpfter als das robust-fröhliche, das ihn geboren, und kritischer als das viktorianische, für das er geschrieben hat.

    Dass seine Epoche seinem Zauber so rückhaltlos erlegen ist, beweist, dass er nicht bloß ihrem Humor, sondern auch ihren Sehnsüchten und Wunschbildern vollendet Ausdruck verliehen hat. Denn das, was wir heute die „Traumfabrik" nennen, das, - auch das – war Dickens den Engländern seiner Zeit.

    ===========

    Lord Byron

    „Ich hasse, was nur erdichtet ist, Poesie ist Leidenschaft", das heißt, sie ist erlitten – oder sie ist nicht.

    Wer das sagt, dem ist Dichten nur Überwurf, nur Gewandung rund um sein Leben, dieses aber das eigentlich Faszinierende. Und Byrons Leben hatte alles, um zu faszinieren und Anderen zum Traum zu werden, sodass, als der große Traum „Napoleon ausgeträumt war, eine neu heranwachsende Jugend, für die es nun keine Schlachtfelder und keine Barrikaden mehr gab und damit kein Leben in Gefahr, den Traum „Byron erfand, weil seine Einzigkeit für sie Wagnis, Schlachtfeld und Barrikaden in einem verhieß und sein Vorbild einen Ausweg zu weisen schien aus einer hoffnungslos eingeheckten und umfriedeten Welt, wenn auch nur den Ausweg eines rücksichtslosen Individualismus abseits jeder Politik.

    Dazu kam alles, was anzieht: Schönheit, Melancholie, Laster und das Umwittertsein von Geheimnissen. Er war lahm, aber von bestrickendem Wesen. Man dachte ihn einsam, obgleich er ein bezwingender Gesellschafter war und sah ihn nicht anders als unter dunklen Segeln einem dunklen Geschick entgegenfahrend. So schien nur ein Hintergrund denkbar: die graue Weite des Atlantiks. Er aber lebte seit seiner schottischen Kindheit, wenn nicht in London oder nahe davon, so in Italien oder Griechenland und das Meer, das ihn umgab, war das mittelländische und die Sprache, die er sprach: italienisch.

    Das alles und manches andere – im Ganzen eine Summe von Widersprüchen wie die verschiedenfarbigen Pinselstriche eines Porträts – bleibt doch immer nur „Bild", äußeres Abbild eines Schicksals, in das der Knabe Byron hineingeboren wurde und dessen er sich irgendwie entledigen musste, wie ein Schauspieler sich seiner Rolle entledigt.

    Wir selbst sind nicht unser Leben und kaum je gerät ein Leben so, dass einer sagen könnte: dieses Leben bin ich. Es ist unser Weg durch den Strom. Aber wir sind nicht der Strom, wir sind nur der Kahn, der ihn quert oder entlang treibt und bloß zwischen den Sandbänken der Kindheit scheinen beide manchmal wie eins (darum so oft die rückerinnernde Sehnsucht nach ihr, wie nach einem verlorenen Land).

    Byrons Kindheit jedoch war kalt und unfreundlich. Sein Vater nahm sich das Leben so leichtsinnig und ohne Bedenken, wie er zuvor die Mitgift zweier Frauen verspielt hatte. Mit der ersten, die nicht seine eigene war, ging er nach Frankreich. Und vor seiner zweiten floh er. Der Knabe jedoch, den er zurückließ, konnte nicht fliehen. Er musste eine Mutter erdulden, die launisch, geizig und ungerecht war. Fassungslos steht der Siebenjährige vor ihrem Unverständnis, als er eines Tages mit Entsetzen entdeckt, dass er nicht gerade gewachsen ist wie alle anderen Kinder, sondern hinkt. Fassungslos hört er statt Mitgefühl Vorwürfe, sodass er sich zitternd und stammelnd verteidigen muss: „Aber Mutter, ich bin so geboren!" So trägt der kleine Lord niemals das Bild eines ihm ganz zugehörenden Menschen vor Augen wie andere Kinder, sondern trägt es verschlossen in sich. Und er verteilt seine Zärtlichkeit an Tiere und Freunde und seine Aufopferung für sie und für alle, die ihm anhängen – wie später für seinen Kammerdiener Fletcher und den Gondoliere Tita Falcier – ist sprichwörtlich.

    Aber alles das ist Stückwerk für einen Menschen, der jung ist und, weil er jung ist, einen Partner will – einen für alle. Dem Achtjährigen spielte diese Rolle eine kleine Cousine, dem Zwölfjährigen die schon vom Tode gezeichnete Margaret Parker. Aber das waren Träume, keine Wirklichkeiten. Auch die seligen Ritte des Halberwachsenen mit der ebenso jungen Ann Chaworth waren es nicht. Sie endeten bloß in jäher Enttäuschung, als er aus dem Nebenzimmer unerwartet herüberhörte, mit welchen Worten sie die Neckerei ihrer Zofe abfertigte: „Glaubst du, ich mache mir etwas aus dem lahmen Jungen?".

    Sie trafen ihn so tief, dass er mitten in der Nacht davonging ohne Abschied, ohne Wagen, ohne Pferd, ohne Ziel – nur fort.

    Noch wusste er nichts von dem bestrickenden Zauber seiner äußeren Erscheinung, die später Frauen wie Männer in gleicher Weise gefangen nahm. Damals lernte er nur Schmerzen zu verbeißen und seinen Körper unbarmherzig zu stählen, um auszugleichen, was die Natur ihm versagte. Und schließlich erlebte er die Genugtuung, ausdauernder und schneller zu schwimmen als andere und besser zu schießen als sie und im Sattel von keinem geschlagen zu werden. Und noch als Mann wird er allein und ohne Hilfe den Tajo und die Dardanellen durchqueren und das Bewusstsein dieser Leistung wird ihm mehr sein, als jeder gesellschaftliche und jeder dichterische Erfolg. Auch Byron war zuerst Mann und dann Lord und dann erst Dichter. Und neben dem Lord stand der Empörer, der auf eingeborenen Menschenrechten bestand und das überall und gegen jedermann selbst gegen Götter. Und gegen diese vor allem. Daher sein „Korsar, der sich das Recht nimmt, das ihm die Gesellschaft verweigert, daher sein „Kain, der den langweiligen, ewig fügsamen, statt fühlloser Früchte lebende Tiere opfernden Abel in einem Anfall von Zorn erschlägt, weil dieser Abel selbst noch ein Tier ist – und duldet nicht ein Mensch, der prüft und aufbegehrt: „Warum soll ich mich mühen? Weil mein Vater das Paradies verwirkt hat? Was tat denn ich? Ich war noch ungeboren. Ich suchte nicht Geburt, noch liebe ich, wozu mich die Geburt gebracht….Sein Wille wars und es heißt, Er sei gut? Wer weiß denn das? Weil Er allmächtig ist, muss Er deshalb auch gütig sein? Ich schließe nach den Früchten und die sind bitter."

    Als solch bittere Frucht sah sich auch Ann Chaworth zurückgewiesen, als sie später als Mrs.Musters versuchte sich dem mittlerweile berühmt gewordenen Lord Byron zu nähern.

    Als Byron von Ann Chaworth fortlief, war er noch Schüler in Harrow. Dann kam er 17-jährig nach Cambridge. Er hat später die Jahre dort die romantischste Zeit seines Lebens genannt – „years of passion", Jahre der Leidenschaft, die ihn den Quellen des Lebens am nächsten gebracht haben und die zugleich seine unbekanntesten sind. Man weiß nur, dass er wiederholt mit einem sehr hübschen Knaben gesehen wurde, der ihm auffallend ähnlich schien, und dass er frech genug war, einer verwandten älteren Dame, der er am Strand von Brighton nicht ausweichen konnte, als seinen jüngeren Bruder vorzustellen, was offenkundig weder sein Bruder, noch überhaupt ein Mann, sondern ein Mädchen war.

    Wir kennen alle Namen aus seinem Leben, ausgenommen den ihren. Und auch der unvermeidlich nachfolgende Familienskandal konnte das Geheimnis nicht lüften. Doch die Zukunft bewies, dass diese Episode mehr als bloß Übermut, dass sie die eigentlich entscheidende war und den Schlüssel zu vielem liefert, was später beharrlich missdeutet wurde. Und manches lässt vermuten, dass ihr Ende den großen, nie mehr verheilten Riss in seinem Leben hervorrief.

    Ihr folgte seine plötzliche Abreise aus England im Juli 1809 und ein zweijähriger Aufenthalt in dem damals noch türkischen Griechenland. Dann Rückkehr nach London, aufsehenerregende Rede im Oberhaus zugunsten der aufständischen Weber, erste Veröffentlichungen und erster, unwahrscheinlich plötzlicher Ruhm.

    Mit einem Schlag war der nunmehr 25-jährige Lord einer der interessantesten Männer Englands und sein Privatleben Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. Sein „Privatleben, das hieß nicht seine sportlichen Neigungen, nicht Aquarelle und Gedichte, und nicht seine Ideen und auch nicht seine Tiere, sondern hieß in den Augen der „society Frauen, und da diese zunächst Damen des englischen Hochadels waren, wusste man ziemlich alles über sie, auch dass die meisten sich ihm an den Hals geworfen haben und nicht umgekehrt er ihnen. Was jedoch nicht auf Lady Milbanks, seine spätere Gattin zutrifft, so wenig wie auf die Italienerinnen seiner venezianischen Zeit, jedenfalls nicht auf die 16-jährige Contessa Guicciolo, die – obwohl anfangs noch dem Namen nach mit dem Grafen Guicciolo verheiratet – als Letzte unter vielen und am längsten seine Gefährtin gewesen ist.

    Wir kennen Byrons eine Bemerkung, er sei zeitlebens nicht in die Verlegenheit geraten, ein Mädchen noch erst verführen zu müssen, und ebenso die zweite, Frauen liebten nur ihren ersten Liebhaber, nach ihm nur noch die Liebe. Das klingt – im Falle Byrons – wohl viel mehr nach Enttäuschung und frühverwundeter Zärtlichkeit, als nach jugendlicher Großsprecherei, wie auch seine Ausschweifungen in Italien mehr den Charakter der Betäubung tragen und des Vergeudens einer Lebenskraft, deren Aufsparen sinnlos geworden war.

    Wir kennen auch den gehässigen Ausspruch Mary Lambs über ihn: „Eine Tugend und tausend Sünden". Wir wissen, dass es Themen gab, über die niemand vor ihm zu sprechen wagte; und wissen weiter, dass Byron gelegentlich seiner Trauung mit Lady Milbanks – die er im Übrigen zärtlich liebte – am ganzen Körper zitterte wie Espenlaub und dass seine Scheidung unter ungewöhnlichen Umständen erfolgte; und hören, dass noch Goethe für wahr hielt, Byron leide an Gewissensbissen wegen eines begangenen Mords.

    Wir erinnern uns seiner todtraurigen Lieder an Thyrza und des immer wiederkehrenden Motivs einer geschwisterlichen Ähnlichkeit von Held und Heldin, was wiederum manchen seiner Verleumder als Bestätigung einer blutschänderischen Neigung zu seiner Halbschwester Augusta erschien. Augusta jedoch glich ihrem Bruder gar nicht und Lady Byron entkräftete durch ihre ununterbrochene Freundschaft mit ihrer Schwägerin alle derartigen Behauptungen.

    Ihr Scheidungsantrag lief unter dem Vorwand seelischer Depressionen ihres Gatten. Als ihr eigener Anwalt daraufhin zur Versöhnung mahnte, teilte sie ihm mit, was bis heute geheim geblieben ist, aber genügt hat, ihn nun mit allem Nachdruck betreiben zu lassen, was er bisher verhindern wollte und was darüber hinaus und auf seine Veranlassung auch den gegnerischen Anwalt bewog, sein Amt als Rechtsbeistand Lord Byrons unverzüglich niederzulegen. Das war ungewöhnlich genug, und als schließlich Byron selbst in jäher Änderung seiner Haltung widerstandslos allen Forderungen seiner Gattin nachgab, lag der Schluss nahe, dass diese Scheidung einem dringenden Interesse beider Beteiligten entsprach und dass ein ebenso dringendes Interesse vorliegen musste, den wahren Scheidungsgrund geheim zu halten. Der

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