Hunde und Andere
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Hunde und Andere - Biljana Jovanović
Biljana Jovanović
HUNDE UND ANDERE
Aus dem Serbischen von
Marie Alpermann und Tijana Matijević
1. Auflage 2023
© eta Verlag
Alle Rechte vorbehalten
eta Verlag | Petya Lund
Schönhauser Allee 26
10435 Berlin
www.eta-verlag.de
kontakt @ eta-verlag.de
Lektorat: Anne Grunwald
Gestaltung & Satz: Stefan Müssigbrodt
Titelfoto: Nndemidchick / Dreamstime.com
Originaltitel: Psi i Ostali;
erschienen bei: Prosveta, Beograd 1980
ISBN 978-3-949249-17-4
Lidija und ihr Bruder Danilo sind beide in die fatale Milena verliebt, Oma Jaglika sitzt in ihrem Schaukelstuhl, von dem aus sie alles sieht, die Mutter tritt nur in der Erinnerung und in kurzen Telegrammen in Erscheinung … In Hunde und Andere zeichnet Biljana Jovanović ein schonungsloses Bild von Familie und Gesellschaft. Sie stellt die Normalität auf den Kopf und fragt, wie Zusammenleben, Liebe, die Wahrnehmung von psychischer Krankheit und letztlich auch das Schreiben selbst anders aussehen können. Nicht zu vergessen: Es ist der erste jugoslawische Roman über lesbische Sexualität – er begeistert und provoziert bis heute.
Jovanović ist für mich die wichtigste jugoslawische Autorin der 80er Jahre. Mit unvergesslich rotziger Stimme erzählt sie von einer jungen Belgraderin, die ihre dysfunktionale Familie und die heuchlerische Gesellschaft gleichzeitig trägt und nicht packt. – Barbi Marković, Autorin
Biljana Jovanović (1953–1996) war eine jugoslawische Schriftstellerin, Bürgerrechtlerin und Friedensaktivistin. Anfang der 90er Jahre organisierte sie mehrere große Antikriegskampagnen und -demonstrationen. Sie veröffentlichte Gedichte, drei Romane, vier Theaterstücke, Kurzprosa, Briefe und Appelle. Jovanović hat einen großen Einfluss auf die postjugoslawischen Feministinnen der Gegenwart. Ihr zu Ehren wurde ein bedeutender Literaturpreis in Serbien benannt.
Biljana Jovanović |
Hunde
und Andere
Die Arbeit der Übersetzerinnen am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms „NEUSTART KULTUR" der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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111546.pngStatt einer Einleitung:
Diese Geschichte besteht nicht aus tag-nächtlichen Phantasmagorien, sondern aus Hunden und Anderen. Ganz ohne Witz: Anderen und Hunden. Der Standpunkt, die Wahrheit sei relativ, ist gegenüber dem Standpunkt, die Wahrheit sei absolut, psychologisch gerechtfertigter, dabei ist nicht auszuschließen, dass sie auch epistemologisch verlässlicher ist, und deshalb stimmt (als stünde es in Kirchen- und sonstigen Büchern – Gott sei dafür Dank!): Hunde denken immer, sie würden zu den Anderen gehören (welche aus unerfindlichen Gründen – bis zum heutigen Tage – als besser angesehen werden). Die Anderen sind nicht immer überzeugt, keine Hunde zu sein. Und dennoch, Hunde sind trotzdem die Anderen und die Anderen sind trotzdem Hunde. Das Einzige, worin sie sich ab und zu wirklich unterscheiden (Grund genug, sie in dieser Geschichte getrennt voneinander mitwirken zu lassen), ist das Niveau ihrer, wie viele – selbstverständlich gelehrte – Persönlichkeiten es nennen würden, sozialen Angepasstheit.
Das ist doch echt nicht zu fassen! Warum sollten Hunde so etwas tun? Und erst recht die Anderen?!
Wie dem auch sei, letztendlich ersticken beide im typischen Mief des Lebens:
I
Eine längere und abgerundete Zeit (gleich einer Lüge auf Jaglikas Lippen) hielt ich mit der Sicherheit einer Idiotin Jaglikas und Marinas Geschichten für meine eigenen Bilder aus der Kindheit. Und ich glaubte felsenfest, versteht sich, selbst über diese Bilder zu verfügen. Keine Ahnung, wann das alles geplatzt ist! Bis dato waren meine Anstrengungen kaum wahrnehmbar (erfolglos) gewesen, wie wenn man mit trockenen, ungeschnittenen Nägeln schnippt oder mit einer Stecknadel beschämt an der Tischkante kratzt; wann immer ich versuchte, mich an irgendwas zu erinnern, und das bei meinem unangebrachten Ehrgeiz, mich ganz genau erinnern zu wollen, war in meinem Kopf ein riesiges Wirrwarr; sobald ich mich zu einem Teilchen durchgewühlt hatte, verlor ich es gleich wieder im konzentrischen Geflecht der anderen Bilder, bis ich gar keinen Anfang und kein Ende mehr finden konnte. Und irgendwann platzte alles wie eine Bombe; nein, wie 120 Gläser, die aus dem zehnten Stock geworfen werden; es blieb nichts übrig, nicht mal ein Fetzen wie bei einem geplatzten Luftballon oder einer aufgeblasenen Plastiktüte.
Ich war frei! Mir wurde klar, dass ich mich selbst an nichts erinnerte, dass sich vielmehr Jaglika und Marina an meiner Stelle erinnerten; dass ich mich selbst nie an irgendwas erinnert hatte; dass die beiden mir etwas untergeschoben und mich hintenrum und heimlich (Küsse und Babysprache) in das gemeinsame Familiengedächtnis hineingezogen hatten. Ich dachte mir: Wie dankbar doch die Leere ist! Dorthinein (in diese Leere, in das breiteste Loch der Welt) konnte ich alles stopfen: Lügengeschichten, von wem auch immer; jede noch so blöde, unverschämte Erfindung. Ich fing also an, mir meine eigene Kindheit auszudenken; ohne Boshaftigkeit, ohne Eitelkeit – nur der leere Raum in mir, vor mir, neben mir, ringsum, überall …
Was ich mir ausgedacht hatte, erzählte ich mir selbst zunächst flüsternd; einmal oder zweimal, je nach Länge der Geschichte. Dann wiederholte ich die Geschichte laut, immer wieder, vor dem Schlafengehen, die Augen weit aufgerissen, im Dunkeln, und die Geschichte (das Bild aus meiner Kindheit, das nur dem Anschein nach nicht existiert hatte) prägte sich meinem Gedächtnis ein.
Für gewöhnlich überprüfte ich das Ganze am nächsten Tag: Ich pirschte mich an Jaglika heran und begann zuerst ein Gespräch über ihre Brille, ihr Rheuma, ihre Prothese, das Wetter, Blutdruck, unsittliche Frauen und betrogene Männer, um dann mitten im Gespräch wie nebenbei zu fragen: »Sag mal, Oma … erinnerst du dich eigentlich an …« oder »Ach, und Oma, wie war das noch mal, du weißt schon …« Jaglika fragte dann, worum es gehe, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her vor lauter Freude darüber, dass ich mich auf ihr Gedächtnis verließ, und tappte in die Falle. Ich erzählte ihr nur die Rahmenhandlung einer Geschichte (eines Bildes), die ich mir in der Nacht zuvor ausgedacht hatte, ließ Zeitangaben und gewisse Details weg, und Jaglika, die den Betrug normalerweise aufgedeckt hätte, setzte die Geschichte einfach fort, der Reihe nach bis zum Ende.
Ein paar Tage in Folge trug ich jede ausgedachte Geschichte so (auf meinen Armen, Lippen) zur halb tauben, halb blinden Jaglika. Dass Jaglika in alles, in jede ihr angebotene Geschichte, voller Eifer einstieg, zeigt: Es ist eine realistische Annahme, dass die ganzen nachts erschaffenen und ausgedachten Bilder (Geschichten) – von jetzt an bis in alle Ewigkeit – schon einmal passiert waren, oder regelmäßig passiert waren, oder aber erst passieren sollten, egal wann, egal wem, ja sogar mir selbst!
Danach brauchte ich wieder lange Zeit, bis mir irgendwann klar wurde, dass ich einige von diesen Dingen verwechselt hatte mit: Einbildungsfreiheit, das heißt Erinnerungsfreiheit. Man könnte auch sagen, dass ich an ganz gewöhnlichen Krankheiten litt und ihnen nur gern eine besondere Bedeutung gab. Ich hatte gedacht, mich aus dem Familiengedächtnis ausstanzen zu können (Jaglika – der Schöpfer, der sich am längsten erinnert; Marina – der große Magier; Danilo und ich – ihre Gehilfen; die Verwandten – Gehilfen mit Kandidatenstatus), einfach, weil ich mich wirklich an rein gar nichts erinnerte! Ich hatte gedacht, dass das dehnbare Loch (unbegrenzt) in meinem Gehirn der Grund wäre, warum ich glaubte, aus eigenem Willen und Verdienst zur Ausgestoßenen geworden zu sein. Tatsächlich aber war jede Erfindung von Anfang an vorbelastet; erfinden ließ sich alles nur so, wie es auch passiert war, keinesfalls anders. Und das lief folgendermaßen ab: Ich dachte mir eine Geschichte aus; dann tat ich alles dafür (wie anstrengend, du meine Güte!), dass sie exakt gleich blieb; ich schob sie (die Geschichte) nur vorläufig beiseite, verrückte sie gerade so viel als nötig, um in meinem ansonsten mickrigen Hirn Platz zu machen, wenigstens ein kleines Eckchen, für das nächste Bild (die nächste Geschichte) und so immer weiter: Ich legte eins hinein, und wenn das nächste kam, schob ich das erste beiseite, und sobald das dritte kam, musste ich das zweite sogar quetschen; vor dem Quetschen stupste ich es vorsichtig, höflich in den Rücken, wie im Bus: »Entschuldigung, einen Moment bitte, ich müsste hier mal kurz meine Tasche, pardon, mein kleines Gehirn mit den Bildern abstellen, machen Sie mir bitte ein bisschen Platz!« Und die Leute (im Bus): »Oh Mann, die tut echt so, als wären ihre Bilder, ihr Gehirn was ganz Besonderes? … Nicht zu fassen!«
Ehrlich gesagt gibt es bei der erfundenen Kindheit eine kleine Sache, die gegenüber der nicht-erfundenen, sogenannten wirklichen Kindheit doch einen gewissen Vorteil hat: kein Unterbewusstsein und ähnlich Untergründiges, keine Deutungen, kein blödsinniges Herumpsychoanalysieren. Mögliche Einwände aus diesen Breiten (psychoanalytischen und anderen) würden meine erdachte Kindheit völlig in Frage stellen (und das Nicht-Erinnern ebenso) – die Sache an sich (also meine Sache) sei einfach nicht möglich, sie könne nicht ohne jeglichen Grund vom Himmel gefallen sein; doch da die Psychoanalyse den Ursprung der Dinge trotz allem nicht erkennt, das ist nun mal ihre Position, liegt sie, zumindest was mich betrifft, tief unter Wasser mit einem Stein plus Strick um den Hals, und für andere ist sie, okay, vielleicht nicht gerade ertrunken, aber doch: »Dunkel war's, der Mond schien helle.«
Jaglika erzählte ich es so: Ich war schrecklich lang in einem dunklen Flur; an den Wänden hingen Schwarz-weiß-Bildchen von Tieren, wie die Bilder in den blau eingewickelten Schokoladentäfelchen; ständig kamen sehr große Leute vorbei, wirklich ständig; ich glaube, immer um die Mittagszeit (wie konnte ich das denn wissen ohne Fenster!); immer wieder prüften sie meine Stirn, schrieben etwas auf Zettel, schüttelten im Gehen den Kopf; sie machten das alle auf die gleiche Art und Weise (als wären sie Duplikate, also Doppelgänger) und sagten immer, wirklich immer das Gleiche: »Ihr Gesicht ist länglich und mürrisch. Mal sehen, wie’s morgen aussieht, auf Wiedersehen.«
Und Jaglika erzählte es mir so: »Der dunkle Flur ist das Souterrain, wo wir gewohnt haben; dort war’s immer dunkel; du hast mit Scharlach im Bett gelegen. Jeden verfluchten Tag ist Doktor Vlada zu uns gekommen … erinnerste dich an Vlada … er hat dich untersucht … dir ging’s richtig dreckig, wir dachten alle, du stirbst …«
Jaglikas Version zufolge waren die Bildchen an der Wand also Fliegenfänger und die Zettel Rezepte; dass es mir im Dunkeln vorkam wie mitten am Tag, lag angeblich an einer großen »Lampe mit zweihundert Lichtern«, die Doktor Vlada über meinem Kopf anknipste, und so weiter …
Fantastisch! Jaglika hatte sich alles ausgedacht; Jaglika hatte sich wirklich alles ausgedacht – wie ich im Übrigen auch! Wir haben, das kann ich mit Sicherheit sagen, nie im Souterrain gewohnt; wir hatten nie klebrige Fliegenfänger an den Wänden; schon gar nicht eine große Lampe mit zweihundert Lichtern; ich hatte nie Scharlach und so weiter … Nach mehreren solchen Versuchen (Jaglika hört eine Geschichte und spinnt sie einfach anders weiter) war ich nicht mehr imstande zu unterscheiden, was Jaglikas und was meins und was das Dritte war, an das sich Jaglika als Demiurg wahrhaftig erinnerte (das Recht des Schöpfers ist unantastbar, selbst wenn er lügt). Mir schien, ich war wieder dabei, in die Falle fremder Erinnerungen zu tappen (welch dummes Tier!), ob echte oder ausgedachte, völlig egal; mir schien, die eingebildete Freiheit, die von der Leere kommt, hatte die bröcklige Form einer Lüge, einer Lüge auf Jaglikas schmollenden, hundert Jahre alten Lippen. Ich erzählte niemandem mehr Geschichten, abgesehen von mir selbst, abends, im Dunkeln, die Augen offen. Außerdem hatte ich ein neues Hirngespinst: Ich glaubte, jede Geschichte wäre unumstößlich wahr.
Doch Jaglika hörte nicht auf; es gefiel ihr, zu erzählen und dabei in mein gutgläubiges Gesicht zu blicken (auch der Schöpfer ist auf Schmeicheleien angewiesen). Stück um Stück zog sie die glatten Lügen (wobei man nie wissen kann!) aus ihrem Kopf, ganz vorsichtig, als würde sie Strähne um Strähne ihrer ansonsten nicht existenten Haare kämmen. Ich hatte nicht viele Möglichkeiten; genauer gesagt, hatte ich nur eine einzige: »Komm, Oma, ich les dir aus der Zeitung vor, komm, Oma ... Lass mal die Geschichten jetzt!« Doch Jaglika schüttelte unwillig den Kopf, führte ihren morgendlichen (eingestaubten – es war schon Mittag) Kamillentee (die Erzählerin erfrischt sich) an die Lippen und quasselte weiter; sie stopfte mir einfach die Ohren voll mit ihren Stückchen, ihren Lügen, die kein bisschen schlechter waren als meine, doch gerade deswegen ein unerträgliches Kuddelmuddel in meinem Kopf anrichteten. »Oma, lass gut sein … Ist doch nicht mehr wichtig, vorbei ist vorbei«, versuchte ich es immer wieder; wenn das nichts nützte, bombardierte ich sie mit Schlagzeilen aus ihrer Lieblingszeitung – Die Frau hält das Haus zusammen; Fabrikarbeiterin ermordet Kind, damit ihr Liebhaber sie heiratet; Kleine und große Gobelins: Anleitung zum Sticken; Verschönern Sie ihre Umgebung – und machte damit so lange weiter, bis ich ganz sicher war, dass Jaglika das, woran sie sich erinnerte, wieder vergessen hatte; so lange, bis sie aufhörte zu brummen: »Mach nur, mach nur, morgen brauchste deine alte Oma wieder.« Meistens dauerte es eine halbe Stunde, manchmal auch weniger, bis Jaglikas Gesicht zu strahlen begann; dann suchte ich ihr Zimmer nach der Brille ab – sie vergaß ständig, wo sie die eben hingelegt hatte – und jedes Mal war sie entweder auf dem Fensterbrett oder unter dem Kopfkissen.
II
Eine berühmte jugoslawische Dichterin