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Eines Hundes Portrait: Novellistische Szenarien
Eines Hundes Portrait: Novellistische Szenarien
Eines Hundes Portrait: Novellistische Szenarien
eBook348 Seiten5 Stunden

Eines Hundes Portrait: Novellistische Szenarien

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Über dieses E-Book

Geschichten zwischen Gut und Böse. Sie entstanden, novellistisch nacherzählt, in den neunziger Jahren als Szenarien.

Das meiste von dem, wovon wir uns eine Theorie erhoffen, lässt sich in Wirklichkeit nur inszenieren. Indem wir uns das Szenario am Ende selbst erzählen, haben wir mehr als eine Theorie, wir haben den Knochen, der sich partout nicht vom Fleisch trennen lassen will. Zu dieser Besonderheit gesellt sich eine weitere, dass nämlich der Gegenstand unserer Neugier ebenso sehr das Ereignis selbst, als auch dessen logische, philosophische oder psychologische Analyse ist.

Szenarien in novellistischer Ausgestaltung fordern ihrem Rezipienten einiges ab. Sie sind voller Expression, und sie sind rasant. Sie sind mehr als vielschichtig. Sie sind totalitär.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Apr. 2018
ISBN9783746020877
Eines Hundes Portrait: Novellistische Szenarien
Autor

Adrian W. Fröhlich

Der Autor ist Philosoph, Arzt und Psychiater, geboren 1953. Er geht in diesem Buch seiner eigenen Verwandlung nach. Dabei zeigt es sich, dass seine Geschichte nicht nur eine solche des Lebens, sondern noch entschiedener eine solche des Denkens ist.

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    Buchvorschau

    Eines Hundes Portrait - Adrian W. Fröhlich

    War es möglich, dass ich bisher drei gesehen hatte, wo schon immer vier gewesen waren?

    Dann sagte der König zu mir: „Ich habe gehört, dass sich Hunde zu Tode grämen können, wenn ihr Herr sie verlässt. Mein Hund mag mich, jedenfalls sieht es so aus. Meinen Sie, er würde sich zu Tode grämen, wenn ich fortginge? Ich sagte, das sei sehr wahrscheinlich. Nach einer kurzen Weile fragte er: „Sie malen, nicht wahr? - „Nein. - „Aber Sie sollten malen lernen und dann einen Hund portraitieren, nachdem dessen Herr fortgegangen ist.

    Dame Edith Sitwell, Mein exzentrisches Leben

    INHALT

    GLÜCK

    UNGLÜCK

    MAULER

    MAHLSTROEM

    RAHEL

    RAMON

    ENNIO

    GLÜCK

    Capri, das war das Felseneiland, das er damals im Regen besuchte. Grau und neblig war es gewesen, überhaupt nicht schön. Er war hinaufgestiegen ins Dorfzentrum und hatte eine Pizza gegessen. Vor seinem inneren Auge hatte er sie Revue passieren lassen, deren Namen ihm einfielen, wenn er an Capri dachte: Tiberius, Gorki, Lenin, Rilke, Scheffel, Weber, Neruda, Munthe, die Krupps. Von den meisten wusste er nur, dass sie da gewesen waren. Später entschloss er sich doch noch, nach Ana Capri hinaufzufahren, um Munthes Villa zu sehen. Schade, dass das Wetter nicht mitspielte. Die Villa erwies sich als erstaunlich verwinkelt, irgendwie fehlte ihr das Großzügige, das überraschte ihn. Doch gab es auch eine Pergola, und von da musste an glücklicheren Tagen der Blick wunderbar hinausgehen, hinüber nach Neapel und zum Vesuv, wie er sich das vorstellte. Auch die Kapelle des Heiligen Michael, vorne überm Abgrund - er wusste nicht so recht. Er schrieb es dem Wetter zu. Auf der Piazzetta war die Beiz dann auch nicht gerade das, was er gesucht hatte. Teuer und von der Qualität her, na ja. Abzocken schien hier Trumpf zu sein. Er verstand es, denn irgendwer hatte ihm beigebracht, solche Dinge zu verstehen. Er wanderte zu Fuß nach Capri hinunter. Winkte den Taxis freundlich durch den Regen zu. Kein Zweifel, der Verrückte will zu Fuß gehen.

    Gerade noch erwischt er das letzte Boot nach Sorrent. Sozusagen mit einem Spagat bringt er sich an Bord. Kurz darauf geht die Kotzerei los. Das Boot stampft, die Wogen schäumen, und Sorrent ist weit. Neben ihm erbrechen die Leute im Akkord. Er starrt an die Küste, gibt seinem Blick einen Halt, das hilft. Nicht immer gelingt es den Leuten, die Reling noch rechtzeitig zu erreichen.

    Capri im Sturm! Hinter ihm ragen wilde Felsen aus dem schäumenden Meer, dort oben hatte einst Tiberius seinen Palast.

    Als das Boot in Sorrent ankommt, nimmt der Regen orkanartige Ausmaße an. Wie aufgescheuchte Hühner rennen die Fahrgäste unter ihren Schirmen und wehenden Pelerinen auf die wartenden Taxis zu. Er sieht sie wegfahren, schön eines nach dem anderen. Bis auf die Knochen nass, wandert er zur Stadt hinauf. Es war unmöglich, noch nasser zu werden, also beeilte er sich nicht.

    Die Hoteldiener kümmerten sich eifrig um die eintrudelnden Gäste und halfen, die vielen tropfnassen Regenschirme und Überwürfe von den Wassermassen zu befreien, die an ihnen zu haften schienen. Der Direktor verteilte Handtücher. Auch unser Mann profitierte von dieser humanitären Geste und war dankbar. Rührend kümmerte sich männiglich um die Damenwelt, man hätte meinen können, eine Tragödie von nicht geringen Ausmaßen sei im Gang. Fehlte bloß noch, dass das Hotelpersonal mit Küssen nachgeholfen hätte und mit zärtlichen Umarmungen.

    Er amüsierte sich. Er liebte diese Szenen erhabener Lächerlichkeit, die professionelle Fürsorge mit dem entschieden veralteten Touch der Courtoisie von einst. Und dazwischen die nicht ganz so selbstlosen Handreichungen, die verstohlenen und wie zufälligen Berührungen, die kurz aufglühenden Blicke.

    Er geht auf sein Zimmer, wirft die Kleider von sich und tritt auf das Balkönchen hinaus. Nackt genießt er den warmen Regenguss in vollen Zügen über dem Abgrund des Golfs von Neapel. Irgendetwas ließ ihn dann nach rechts blicken. Auf dem Nachbarbalkon steht eine junge Frau, ebenso nackt wie er. Seine Drehung nach ihr provozierte bei ihr eine zu ihm hin. Für eine Sekunde stehen sie sich splitternackt gegenüber. Sie beißt sich auf die Unterlippe und verschwindet. Natürlich würde sie nicht wiederkehren, nie im Leben!

    Nun, er hatte sich getäuscht, da stand sie wieder, eingewickelt in ein schneeweißes Frotteetuch und ruft ihm zu: Ist es nicht wunderschön? Märchenhaft! erwidert er. Herrlich! schwärmt sie und schnappt nach den prasselnden Tropfen. Waren Sie auch auf Capri? will er wissen. Sie etwa auch? ruft sie erstaunt. Dabei war er noch immer genauso splitternackt wie vorher, aber sie schien es nicht mehr zu bemerken.

    Drei Monate später waren sie verheiratet, und nach vier Jahren hatten sie drei Kinder, einen Hund und zwei Katzen. Und immer, wenn sie gemeinsam unter der Dusche standen, erinnerten sie sich an den Regen in Sorrent und küssten sich vor Glück.

    UNGLÜCK

    Sie füttert im Stall die Tiere, drei junge, prächtige Hereford Bullen, vier gierige schmale Katzen und zwei junge, rotbraune Islandpferde, ein scheues Fohlen und ein keckes Füllen. Wo es kann, beginnt es zu knabbern.

    Der Stall wirkt riesengroß. Er ist hundert Jahre alt, ein luftiges Fachwerkgebäude mit einem acht Meter hohen First, gedeckt mit Reet. Daneben der Neubau, noch größer, mit einem mächtigen freien Raum in der Mitte.

    Sie weiß, was zu tun ist. Die Tiere müssen Wasser trinken. Zu diesem Zweck holt sie aus einer Nebenkammer das Ende eines langen Schlauches und füllt nacheinander die Wassertonnen auf, die bei den Tieren stehen. Dann holt sie Kraftfuttergranulat, pflanzlicher Herkunft, wie ihr Viggo versichert hatte, da sie es genau wissen wollte, und schüttet den Bullen einen ganzen Eimer davon in den Trog, den Pferden einen knappen halben. Schließlich trägt sie mit ihren bloßen Händen das Heu von einem der riesigen Ballen, die in der Nähe des Scheunentores auf dem Boden stehen zu den Stieren und vermischt es mit dem Granulat. Den Pferden reicht sie es, indem sie es auf die Brücke eines alten Leiterwagens legt.

    In der Weite des Fachwerkbaus flirren die Schwalben. Ein Zwitschern überall. Das Heu duftet, die Luft in der Halle ist warm. Es riecht anders, als in unseren engen, niederen Ställen, wo es eigentlich bloß stinkt. Hier dringt der Sommer in den Stall, das Licht funkelt in den Löchern im Dach.

    Dann steigt sie mit einer Schale voll Milch, Wasser und mit dänischem Roggenbrot, vermischt mit Essensresten vom Vortag über eine Leiter auf den Heuboden hinauf zu den Katzen. Sie fallen wie ausgehungerte Löwen über das Fressen her. Würgend fauchen und knurren sie einander an. In einer Ecke im Stroh liegen drei neugeborene Kätzchen.

    Sie liebt die Tiere über alles. Sie hätte alles gegeben und alles getan, um es ihnen rechtzumachen. Wenn sie auf die Tiere blickte, bekamen ihre Augen einen samtenen Glanz und wurde ihr Gemüt weich und lieb. Als sich vor ein paar Tagen die Möglichkeit abzeichnete, dass sie sie füttern darf, hatte sie sofort ja gesagt und sich, anstellig, wie sie ist, alles im Detail zeigen lassen. Sie wollte es genau so machen, wie es Viggo immer machte. Sie waren zusammen herumgegangen, sie hatte ihm zugeschaut, und er hatte ihr das Nötige erklärt. Der alte Bauer hatte Vertrauen zu ihr.

    Die drei Bullen standen im Stall, weil sie auf die Tierausstellung vorbereitet wurden. Große, starke, hornlose Tiere, Polled Hereford. Schnurgerade Rücken über satten und muskulösen Leibern, schöne, breite Köpfe mit weißen Stirnkrausen und riesigen, starrenden Augen. Ruhig standen sie auf dem Stroh. Sie hatte mit Genugtuung festgestellt, dass es in diesem Land keine Kuhglocken gab. Dass die Tiere dieser unbegreiflichen Folter hier nicht unterworfen waren, erfüllte sie mit Dankbarkeit.

    Am nächsten Morgen, in aller Herrgottsfrühe, als sie vors Haus tritt, wird sie gerade noch Zeuge, wie ein großer Lastwagen einen der Bullen fortbringt.

    Wohin der mit dem Tier fahre, wollte sie wissen, aber sie wusste es bereits. Viggo, der seine Tiere noch weit mehr liebte als sie, wusste auch, dass er es ihr nicht zu sagen brauchte. Schließlich sagte er es doch, und seine Stimme hatte einen singenden Ton, wie immer, wenn er bewegt war. Ja - er geht zum Schlachter.

    Sie könnte losheulen, aber sie heult nicht.

    Ja, sagt sie und blickt in die Weite der leeren Landschaft.

    Ja, sagt auch Viggo und blickt in die Ferne.

    Es war klar, dass nur der schönste der drei Bullen auf der Ausstellung die Chance hatte, als Zuchtbulle verkauft zu werden. Beim zweitschönsten wollte es sich der Bauer selbst noch nicht eingestehen, dass er auch ihn würde zum Schlachter bringen müssen, und so behielt er ihn noch. Er wollte es mit ihm in Skjern versuchen, auf der kleineren der beiden Ausstellungen, auf die er die Tiere vorbereitete.

    Sie ging hinüber ans Meer und spazierte durch die verlorene Szenerie. Immer wieder schluckte sie. Nun war der junge Bulle tot. Gestern, als er fraß, friedlich neben seinen beiden Brüdern am Trog, hatte noch alles nach Ewigkeit ausgesehen. Sie hatte die drei betrachtet wie ein kostbares Gut, als Geschenk der Natur. Es war ihr erlaubt gewesen, die göttlichen Stiere zu füttern.

    Sie weinte. Ausweglos war alles.

    MAULER

    Die Agentur

    Was damals begann, war rätselhaft.

    Ein Lippenwulst, der die nach vorne stürmenden Pferdezähne überhaupt nicht im Griff hat. Brüste, die sich einen Dreck drum scheren, wo sie gerade herumliegen. Um wirbelt von rot getöntem Haar, das erschreckend verwohnte Gesicht, ein Arrangement aus hängendem Fleisch, gekrönt von einer Hornbrille mit Flaschenböden. Dana Seuch war vom ersten Moment an eine Zumutung.

    Oh, und wie sie schwitzt!

    Der ockerfarbene, geschmacklose Rock, hochgerutscht, entbirgt zwei aggressiv-fette Beine kaum zu bestimmenden Gebrauchtheitsgrades. Der weisse Rollkragen öffnet sich trichterartig um ein Etagenkinn.

    Die Frau muss, schwer zu sagen, um die Fünfzig sein.

    Neben der wissenden Intelligenz ihres Blicks geht von der ganzen Gestalt eine schwüle Animalität aus, die infantil-exhibitionistische Tendenzen in mir weckt. Dana ist mir vom ersten Moment an eine grässliche, verzweifelt erotische Tatsache. Ich konnte ihr in der Folge nie gegenübersitzen, ohne mir Schweinereien vorzustellen. Ich war absolut sicher, sie wusste von ihrer Ausstrahlung, ja geradezu Ausdünstung auf mich und genoss sie.

    An Dana Seuch würde ich nicht vorbeikommen. Das war mir sofort klar. Von der ersten Sekunde an lag ihr Fleisch mitten auf meinem Weg, wo der auch durchging und wohin er auch führen mochte.

    Dass ich mich bei ihr vorstellte, schien sie erst gar nicht zu berühren. Sie las in Unterlagen, die sie übers Knie gezogen hatte, und musterte mich ab und zu wie beiläufig, um sich zu vergewissern, dass meine Benommenheit wuchs.

    Zwischen uns befand sich ein niedriges, zerkratztes Plastiktischchen. Ich trank Wasser aus einem Glas, das sie mir zugeschoben hatte. Es war ihres.

    Ich wollte Mauler treffen, Tony Mauler, meinen Stiefvater. Und nun saß ich vor dieser Antithese.

    Der Tempel, in den ich hineingeraten war, war mir von Anfang an unangenehm. Aussen heruntergekommenes, niedriges Haus vor der imposantesten Skyline der Welt, innen Mausoleum aus Mahagoni, Marmor und Gold.

    Ich konnte mir Tony hier nicht vorstellen. Der joviale, quirlige Winzling! Der rundschädlige Glatzkopf mit seiner gedrungenen, breitschultrigen Gestalt und den Fußballerbeinen. In seiner abgewetzten, braunschwarzen Bomberjacke. Ein erwachsenes Kind, das beim Lachen noch richtig gluckst und bisweilen in schlampig artikulierter Manier einfach so daher plappert. Der Gassenganove, der den Tag in Bars vertrödelt und an Straßenecken verbotene Deals macht.

    Als ich (sehr kurz) beruflich mit ihm zu tun hatte, war er Rechtsanwalt. Vor ein paar Jahren, in Europa, stieg er in die Werbebranche um, in der seine besten Freunde tätig waren. Wegen seines Talents und dieser genialen Dreistigkeit, dass allen garantiert die Spucke wegbleibt, wenn er erst mal loslegt.

    Sie wollen also bei uns arbeiten, Vadim? fragte Dana beim Herumrascheln in ihren Papieren, die ihr ständig von den Beinen auf den Boden fielen. Es sah aus, als rupfe sie ein Huhn.

    So ist’s abgemacht, gebe ich trocken zur Antwort.

    Abgemacht mit wem? Mit Tony? Die Flaschenböden in ihrer mächtigen Brille reflektierten die untergehende Sonne.

    Mit Tony Mauler.

    Von diesem Moment an deckte sie mich mit einem Dauerlächeln ein. Die Front ihrer fliehenden Zähne glänzte speichelfeucht. Die Farbe spielte ins Uringelbe.

    Darf ich fragen, was Sie von ihm wollen?

    Ihre Herablassung trifft. Tony ist immerhin mein Stiefvater - und Freund.

    Er meinte, sage ich wohl etwas zu leise, ich solle rüberkommen. Er brauche mich. Wir werden sehen, schloss ich und hüstelte.

    Aha, Sie kennen sich gut? Dann zweifle ich nicht daran, dass Sie grosse Fähigkeiten haben, Mr. Vadim. Tony nimmt nur die Allerbesten.

    Ich lächle sie frontal an.

    Wenn Sie so gut sind, Mr. Vadim, könnten Sie auch für mich arbeiten. Was könnte es denn sein? Hm? Machen Sie einen Vorschlag! Wer sind Sie?

    Ich war bestürzt. Ich wollte keineswegs für jemand anderen arbeiten als für Tony. Doch dann höre ich mich etwas sagen, das mich bereits während ich es ausspreche, zutiefst beschämt.

    Ich kenne Sie zu wenig, Mam, um Ihnen frei heraus das vorschlagen zu dürfen, was Sie von mir wohl am meisten gebrauchen könnten.

    O God! flüsterte sie. Was für ein dreister Kerl! Sagen Sie, sind Sie etwa mit Tony verwandt?

    Wann kommt er denn? fragte ich.

    Mein Gott, was denkt sich ein Junge wie Sie, wenn er sowas sagt? Oder haben Sie gar nicht gemerkt, was Sie gerade gesagt haben?

    Ihr Hals war feuerrot.

    Ich denke es ist besser, wenn Sie jetzt einen Stock höher in Tonys Büro gehen, die 301. Sonst riskieren Sie, dass ich Sie beim Wort nehme und Ihnen befehle, Ihre unverschämte Andeutung auf der Stelle wahrzumachen. Sollten Sie tatsächlich künftig für uns arbeiten, werden Sie sehr bald feststellen, dass ich niemals scherze. Ich habe absolut keinen Humor.

    Dann werde ich jetzt wohl besser gehen, erwiderte ich und erhob mich. Mrs. Seuch blieb inmitten ihrer Papiere sitzen.

    Vadim! rief sie mir nach, Vadim?

    Das Büro 301 war leer. In seiner Mitte befand sich ein Tisch, darauf ruhte ein altes Bakelit-Telefon. Sonst war da nichts. Nicht einmal ein Stuhl.

    Aussen über dem Fenster hingen kaputte Sonnenstoren und wippten auf und ab.

    Wirklich Tonys Büro? Es sah eher aus, als könnte es das meine werden. Auf dem Tisch lag Staub, ich zeichnete unwillkürlich mit dem Zeigefinger einen Kreis hinein.

    In einer Ecke dann doch ein winziges Brünnchen. Zum Händewaschen? Aber keine Seife, kein Handtuch.

    Es fehlen der Computer, der Korpus für die Akten und der Bürosessel. Und auf den Tisch gehörte eine Schreibunterlage, eine Schachtel für die Stifte und eine drehbare Adresskartei. Und Telefonbücher, zerfleddert, aber aktuell. Und neben dem Tisch sollte man einen Korb finden, der von einer grauen Maus, die unscheinbare Bewegungen ausführt und dünn herauflächelt, täglich zweimal geleert wird. Doch wo kein Papier ist, da ist auch kein Korb.

    Draussen der Fluss und die Schiffe und ein fallender Abend. Gleißendes Licht in den Fassaden der Wolkenkratzer, Licht einer verquollenen Sonne.

    Das Zimmer riecht abgestanden.

    Mrs. Seuch taucht wieder auf, diesmal vor dem inneren Auge. Im Geist fasse ich sie an und lasse sie wieder los. Dieses Gefühl, von etwas Abscheulichem angezogen zu werden wie von einem Magneten, gedemütigt zu werden von einer kranken, brennenden Lust, die mit dem Wunsch zu überleben im Clinch liegt.

    Der jetzt den Raum betritt, stellt sich mir als Klau vor. Verblüffend jung und schneidig. Ein ebenmäßiges, schönes Gesicht mit seraphischem Lächeln. Unverblümt tritt er auf mich zu, gibt mir die Hand (unauffälliger Druck) und begrüßt mich, als habe gerade er mich schon lange erwartet.

    Hi! Du suchst Tony? Er ist auf dem Dach und spielt Trompete. Tony, der verrückte Kerl. Und wie geht es dir?

    Tony spielt Trompete?

    Du wirst es gleich hören! Hat er nicht im Opernhausorchester gespielt? Tony, der Alleskönner! Und wer bist du?

    Das hatte mich vor ein paar Minuten bereits Dana Seuch gefragt. Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. So wie die hier das fragen, gibt es darauf keine Antwort. Sagtest du Opernhausorchester?

    Ein Virtuose, erwiderte Klau, unberührt von meinem Spott.

    Und da stand er schliesslich, auf der nackten, schmutzigen Dachterrasse der Agentur, die Trompete schräg nach oben gereckt, und blies in Richtung auf die Skyline. Die versinkende Sonne badete seinen breiten, kurzen Rücken in öligem Ocker, das Metall des Instruments blitzte. Tony blies etwas, das dem Radetzkymarsch glich, ihn aber nicht sein konnte. Mit Inbrunst. Einsam stand er da, in der Kulisse, und versuchte mit aller Macht, sie umzublasen.

    Tony Mauler! rief ich überwältigt.

    Vadim! brüllt er und strahlt wie ein Schuljunge, der auf dem Pausenplatz ein Tor geschossen hat. Vadim, mein Sohn! Willkommen vor den Mauern von Jericho!

    Ich gehe mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Bevor ich ihn erreiche, fängt er jedoch wieder an zu blasen und dreht sich dabei im Kreis.

    Deine Mauern werden fallen, Old Jericho, denn hier steht Josh Mauler! Vadim! Ich habe Trompete gelernt!

    Und wie, erwidere ich anerkennend. Im Opernhausorchester?

    Vadim, schön, dass du hier bist. Du weißt gar nicht, in was für eine Situation du hineingerätst. Du hast soeben das ungewöhnlichste Haus in der ganzen City betreten und stehst vor einem ziemlich abgehobenen Kerl, vor einem Gründer. Tony Josh Mauler wird schon bald zum Religionsstifter!

    Wie bitte? Sagt Bakunin Religion?

    Wir beginnen diesmal ganz, ganz neu. Du stehst vor dem Mann, der die genialste Idee haben wird, die einer in diesem gottverdammten Zeitalter haben kann. Willkommen in der Schmiede der Zukunft, mein Sohn! Mein Eisen ist flüssig. Die Zukunft der Menschheit beginnt morgen in diesem Laden.

    Tony, hast du sie noch alle?

    Und wie! Vadim, ich muss dich aufklären. Du bist der Einzige, der mich verstehen kann, denn du bist mein Sohn. Na ja, Stiefsohn, aber wen interessiert’s. Norman Klau ist zwar ein intelligenter Bursche, aber er lebt auf einem anderen Planeten. Und die schreckliche Dana, so fruchtbar ihre Fantasie auch sein mag, so wenig findet sie, was nur du und ich finden können: the Message.

    Die Botschaft? Welche Botschaft, Tony?

    Nach einer sehr ungemütlichen Nacht in einem sehr heissen Zimmer in sehr großer Höhe über dem Mutterboden, in der ich meine Ankunft in New York unablässig verdammte, machte ich mich sehr früh am Morgen in Richtung Agentur auf den sehr langen Weg dorthin.

    Mahagoni, Marmor und Gold hatten mich wieder.

    Das Mädchen hinter dem Empfangstresen schickte mich auf Büro 301. Dieses war ebenso leer wie tags zuvor und noch etwas staubiger. Die Wahrscheinlichkeit stieg, dass es mein Büro werden würde. Doch ich hatte mich getäuscht, es war Tonys Büro.

    Tony stand am Fenster, als ich eintrat. Sieben Uhr in der Früh. Er betrachtete gerade den Fluss und die Schiffe.

    Das Büro der Zukunft, klärte er mich auf, ist leer. Es verfügt über keine Sitzgelegenheiten. Sitzen ist out. Im Sitzen kann man nicht denken. Das Büro der Zukunft ist Raum. Aber da ist auch ein Tisch. Allerdings nicht zum Brauchen. Er ist bloss Symbol. Er versinnbildlicht die Tragfähigkeit dessen, was du durch Denken in den Raum stellst.

    Als er sieht, dass ich auf das Telefon schiele, meint er, es wäre zwar angeschlossen, aber niemand kenne die Nummer.

    Die Telefongesellschaft, werfe ich ein, kennt sie.

    Eine technische Randbedingung, grinst er. Der Staub, der hier fingerdick liegt, ist der Fußabdruck der Zeit. Wie du siehst, gibt es in diesem Büro kein Kunstlicht. Wenn es dunkel wird, wird es dunkel. Das Denken steht mit der Sonne auf und geht mit ihr unter. Die Nacht gehört den Trieben und den Dieben. Die Nacht ist Bedrohung und Gewalt.

    Und Schlaf, meinte ich nicht unbescheiden.

    Dass man in der Nacht schläft, ist ein blödes, überkommenes Vorurteil. Die Nacht ist eine Zeit höchster Wachsamkeit. Stell dir vor: in grauer Urzeit! Die Nacht war tödlich für den, der nicht wachte. Nutze die Nacht dazu, ganz Ohr, ganz Auge, ganz Aufnahme zu sein. Oder sei gewalttätig in der Nacht, stiehl etwas oder dringe irgendwo ein. Verstehst du? Die Nacht gehört dem Tier im Menschen.

    Und du brauchst keinen Computer, kein Handy, nichts, um deine Arbeit zu verrichten, Tony?

    Alle Arbeit, Vadim, die ich verrichte, findet hier drin statt. Er tippt an seine Schläfe. Was nicht jederzeit hier drin rekonstruiert werden kann, existiert nicht. Tagsüber alles ständig im Geist präsent zu haben, das ist die ultimative Herausforderung. Am Morgen fährst du den Geist hoch, stellst all die Dinge in ihn hinein, an denen du während des Tages arbeiten willst und lässt niemals etwas wieder herausfallen, bis die Nacht den Laden schliesst. Wenn es draussen zu dämmern anfängt, beginnst du die Dinge, die in deinem Geist herumschwirren, zweckmäßig zu verstauen, damit du sie am nächsten Tag wiederfindest. Findest du während des Tages eine Lösung, kommst du zu uns und trägst sie uns vor, damit wir sie mittragen. Dabei wirst du die Erfahrung machen, dass der Geist niemals überlaufen kann, denn egal, wie viel du am Tag in ihn hineinstellst, im Gespräch wird es stets auf dasselbe, bequeme Mass reduziert, am Ende wird immer nur genau die richtige Idee übrigbleiben und das Falsche wird verschwunden sein. Du bleibst frei von Gerümpel und Unfertigem, die der Vergangenheit unserer überfüllten, verblasenen, hochtechnisierten Büros angehören, in denen wir bloss ramponierte Chips waren. Dein Bewusstsein wird hier eine Klarheit erreichen, die du ihm nicht mehr zugetraut hast. Nichts kann dich mehr besiegen, denn deine Ideen, deine Bilder setzen sich überall durch.

    Mann, seufze ich verwirrt, du willst mir doch nicht weismachen, dass ihr das hier alle so macht?

    Die Büros meiner Kolleginnen und Kollegen sehen genauso aus wie meines.

    Aber unten ist doch alles voll Mahagoni, Marmor und Gold! Sieht aus wie in einer Bank!

    Wir sind eine Bank, Vadim! Eine Ideen- und Samenbank.

    Und der Kunde dringt nie bis in eines dieser Büros vor?

    Der Kunde ist gut beraten, Panzerschränke Panzerschränke sein zu lassen und nicht überall seine gottverdammte, verpopelte Nase reinzustecken. Unser Sicherheitskonzept garantiert, dass kein Kunde jemals eines unserer Büros betreten wird. Man kommt hier schlicht nicht rein, wenn man keiner von uns ist.

    Ich meine, man hat mich ja auch ohne weiteres in diesen Raum gewiesen.

    Unser Personal ist geschult. Es sieht, wer Ideen hat und wer nicht. Kunden haben nie irgendwelche Ideen. Sie sind dicht. Gerade wenn sie mit ihren Konzepten kommen, wirst du darin nie irgendetwas finden, das einer Idee gleicht. Der Kunde hat hier nichts zu sagen, er hat nur sich selbst zu sein. Den ganzen Rest erledigen wir.

    Irgendwie, Tony, habe ich dich schon als Junge immer für genial gehalten. Und seit ich dich gestern Trompete spielen hörte, weiss ich, dass du immer noch das durchgeknallte Arschloch bist, das ich so liebe. Und weißt du was? Du hast ja so recht!

    Arschlöcher, Vadim, haben immer recht. Das ist das esoterische Geheimnis des Arschlochs. Darum wird es gehasst, verachtet, missachtet und doch von jedem gebraucht. Auch du, Vadim, bist und hast ein Arschloch.

    Wie bitte?

    Vadim, flüsterte er, und streckt seinen Arm nach oben, als wolle er mich an der Schulter packen, Vadim, was wollen wir mehr? Du stehst in der besten Agentur der Welt. Hier stinkts nach Erfolg. Was du bei mir damals, drüben, erlebt hast, das musst du vergessen. War alles ein Riesenscheissfehler.

    Aber wie bist du denn draufgekommen? Bist du selbst draufgekommen, Tony?

    Dana! Dana, fing er an zu schwärmen, ist nicht nur eine durch und durch junge, sondern auch eine bildschöne Frau. Und sie ist nicht nur gescheit, sie ist abgründig fantasiebegabt.

    Er sah mir an, dass ich ihm nicht ganz folgen mochte.

    Ja, die alte Vettel, die dich total bezirzt hat, Vadim. Sie ist eine Offenbarung. Wenn du je Gelegenheit hast, Dana zu erleben, so genieße es. Ich gönne es jedem, vor allem den Jüngeren. Sie ist die ultimative Schlange. Die kann mit dir machen, was sie will. Dana hat mir die Augen geöffnet.

    Geöffnet wofür?

    Sie hat alles aus meinem Büro rausgeworfen. Was übrig blieb, ist das hier. Dann ist sie vor mich hingetreten und hat gesagt: Tony, jetzt stell dir mal vor, das wäre dein Büro und müsste es bis ans Ende deiner Tage bleiben, und da ist kein Kunde, niemand, der dich hier jemals aufsucht. Du bist drauf und dran, lebendig zu verstauben.

    Und dann hat’s bei dir Klick gemacht?

    Weißt du, was das hier ist? Das Grab. Und weißt du, was ich bin, in meinem Grab? Die Leiche. Aber will ich denn verrecken? In meinem eigenen Körper, in diesem Raum, in diesem Gefängnis? Hier gibt es nichts einzurichten. Kein Feng-Shui, keine Designermöbel, keine Kunstwerke an den Wänden, keine Kaffeemaschine, kein TV. Das ist der Sarg, Mann, und ich liege heute schon voll drin. Aber nun fängt alles an. Jetzt musst du nämlich wieder das Kind werden, das du gewesen bist. Denken, Fühlen, Träumen, sofort sagen, sofort reagieren, sofort alles. Da gibt’s keine Ablage, kein Archiv, keine Festplatte, keine Werkzeuge. Nur du. Alles flutscht durch den Geist, schwirrt davon, versurft im Beliebigen. Als alter Sack schaffst du es nicht, etwas vor das innere Auge zu zerren und dort festzuhalten, um es zu sezieren. Vadim, es steht verdammt schlecht um dich, wenn du es nicht schaffst. Du gierst nach einem Bildschirm, der dir was zeigt. Aber da ist keiner. Du willst was lesen, aber da ist nichts zum Lesen. Da ist nur die Optik deines Geistes mit ihrem ramponierten Gewinde. Verdammt, Vadim, deine Optik ist bereits im Eimer! Doch nach einem halben Tag fängt sie wieder an zu funktionieren. Du beginnst, vor deinem inneren Auge einen Gedanken scharf einzustellen, und es gelingt dir, das Bild für eine Minute zu halten. Da ist plötzlich dieses Nadelöhr, durch das hindurch das ganze Riesenkamel geht. Du wirst nach scharf eingestellten, inneren Bildern süchtig. Sie gleißen wie Sonnen, während der Bildschirm nur eine Funzel ist. Ein Bildschirm zeigt überhaupt nichts. Er steht der Sicht bloss im Weg.

    Ich verstehe, sagte ich zögernd.

    Ich wiederhole: du stehst in der besten Agentur der Welt.

    Aber sie heisst wie eine Krankheit: Mauler, Klau & Seuch!

    Vadim, Werbung ist Krankheit. Und wir haben zufällig den besten Namen dafür. Werbung ist Infektion.

    Großartig, klingt aber ein bisschen zu klischiert jüdisch, ich meine, im Zeitalter des grassierenden Antisemitismus: Mauler, Klau & Seuch –-??

    Wir sind alle Juden.

    Seit wann denn, Tony?

    Seit Menschengedenken.

    Ich war allein in meinem neuen Büro, der Nr. 305, das genau gleich aussah wie die 301. Es dämmerte mir, dass

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