Pilatus und Jesus
Von Giorgio Agamben und Andreas Hiepko
4/5
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Buchvorschau
Pilatus und Jesus - Giorgio Agamben
Literaturverzeichnis
1
Das symbolon, das »Credo«, das den christlichen Glauben zusammenfasst, enthält neben den Namen des »Herrn Jesus Christus« und der »Jungfrau Maria« lediglich einen weiteren Eigennamen, der – zumindest dem Anschein nach – nicht in den theologischen Zusammenhang passt. Zumal es sich um den Namen eines Heiden handelt: staurothenta te hyper hemon epi Pontiou Pilatou, »für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus«. Im »Credo«, das die Kirchenväter im Jahr 325 in Nicäa verfassten, kam dieser Name nicht vor. Er wurde erst 381 vom Konzil von Konstantinopel hinzugefügt, aller Wahrscheinlichkeit nach, um die Leiden Jesu zu datieren. Wie einmal bemerkt worden ist, »spricht das christliche Credo von geschichtlichen Vorgängen. Pontius Pilatus ist dort wesentlich am Platze und nicht etwa nur ein seltsamerweise dorthin verirrter Pechvogel«.¹
Dass das Christentum eine geschichtliche Religion ist, dass die »Geheimnisse«, von denen es spricht, auch und vor allem historische Begebenheiten sind, ist unbestritten. Ist aber die Inkarnation Christi »ein geschichtliches Ereignis von unendlicher, unbesitzbarer, unokkupierbarer Einmaligkeit«², dann ist der Prozess Jesu ein Schlüsselmoment der Menschheitsgeschichte, in dem sich die Ewigkeit in einem entscheidenden Augenblick mit der Geschichte verschränkt. Umso dringlicher stellt sich die Frage, wie und warum diese Verschränkung von Zeitlichem und Ewigem, Göttlichem und Menschlichem die Form einer krisis, eines Gerichtsverfahrens angenommen hat.
2
Weshalb aber Pilatus? Eine Formel des Typs Tiberiou kaesaros – die die Münzen ziert, die Pilatus prägen ließ, und von Lukas verwendet wird, um die Predigten Johannes des Täufers zu datieren (Lk 3,1) – oder sub Tiberio (wie Vergil bei Dante sagt: »nacqui sub Iulio [ich wurde sub Iulio geboren]«, Inf. 1,70) hätte den damaligen Gepflogenheiten besser entsprochen. Wenn sich die in Konstantinopel versammelten Kirchenväter für Pilatus entschieden haben und nicht für Tiberius, für den Präfekten – oder den »Procurator« Judäas, wie ihn Tacitus in einer der wenigen außerbiblischen Zeugnisse, die seinen Namen erwähnen (Ann. XV,44), nennt – und nicht für den Kaiser, mag das weniger der unzweifelhaften Absicht, die Ereignisse zu datieren, geschuldet sein, als vielmehr dem Gewicht, das die Figur des Pilatus in der Erzählung der Evangelien hat. Die gewissenhafte Genauigkeit, mit der vor allem Johannes, aber auch Markus, Lukas und Matthäus seine Unschlüssigkeit, seine Ausflüchte und seine Meinungsumschwünge beschreiben und seine bisweilen rätselhaften Worte wiedergeben, legt die Vermutung nahe, dass die Evangelisten hier erstmals eine Figur zu schaffen versuchten, die über eine eigene Psychologie und entsprechende Eigenheiten verfügt. Das Porträt ist von solcher Lebendigkeit, dass noch 1781 Lavater in einem Brief an Goethe ausrufen wird: »Ich finde alles, Himmel und Erde und Hölle, Tugend, Laster, Weisheit, Thorheit, Schicksal, Freyheit – in Ihm –, Symbol von allem an alles.« Pilatus ist gleichsam die einzig wahre »Figur« der Evangelien (im Antichrist bezeichnet Nietzsche ihn als »einzige Figur im ganzen Neuen Testament, die man ehren muss«): Wir kennen seine Gefühlsregungen (»er verwunderte sich sehr«, Mt 27,14; Mk 15,5; »er fürchtete sich noch