Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Sind wir uns wirklich einig?: Geschichten einer deutsch-deutschen Beziehung
Sind wir uns wirklich einig?: Geschichten einer deutsch-deutschen Beziehung
Sind wir uns wirklich einig?: Geschichten einer deutsch-deutschen Beziehung
eBook252 Seiten5 Stunden

Sind wir uns wirklich einig?: Geschichten einer deutsch-deutschen Beziehung

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

30 Jahre Wiedervereinigung – was uns Deutsche eint, was uns trennt

Eigentlich scheint die deutsche Einheit eine Erfolgsgeschichte zu sein. Doch wie weit sind die beiden Teile Deutschlands drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wirklich zusammengewachsen? Warum wird immer noch auf OST oder WEST abgestellt, als handle es sich um schwerwiegende Vorerkrankungen, auf die Rücksicht zu nehmen ist? Das (ost-)deutsch-(west-)deutsche Autorinnenduo Ilka Wild und Carolin Wilms spürt den alltäglichen Herausforderungen der Wiedervereinigung in ebenso unterhaltsamen wie informativen Texten nach. Durch fundiertes Faktenwissen und die persönlichen Beobachtungen der beiden Journalistinnen ist ein sachliches und dennoch empathisches Zwischenfazit entstanden – beide sind durch langjährige Lebens- und Arbeitserfahrung jeweils in Ost und West geprägt. Anhand von Themenkreisen wie Mauerfall, Alltag bis Berufswahl, Karrieremöglichkeiten und – ganz aktuell – COVID-19-Pandemie zeigen die Autorinnen die regionalen Unterschiede auf, die aufgrund der verschiedenen Sozialisationen bis heute nachwirken oder allmählich verschwimmen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Mai 2021
ISBN9783963115219
Sind wir uns wirklich einig?: Geschichten einer deutsch-deutschen Beziehung

Ähnlich wie Sind wir uns wirklich einig?

Ähnliche E-Books

Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Sind wir uns wirklich einig?

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Sind wir uns wirklich einig? - Ilka Wild

    Autorinnen

    Wie soll es weitergehen?

    Von Carolin Wilms

    Einige Zeit bevor wir nach Leipzig zogen, hatten wir im USBundesstaat Michigan gewohnt. Meine zweite Tochter kam dort zur Welt. In Amerika fühlte ich mich nicht ansatzweise so fremd wie später in Leipzig: Außer der Sprache, der Zeitverschiebung und der Notwendigkeit, von Celsius in Fahrenheit und von Metern in Yard umzurechnen, war eigentlich in Michigan alles wie zu Hause: leben und leben lassen. Die Menschen waren offen, es schlug uns kein Neid oder keine Missgunst entgegen, sondern eher freundliche Gleichgültigkeit.

    In Leipzig hingegen, in meinem eigenen Land, fühlte ich mich zeitweise wie eine Außerirdische, die irgendwo im All falsch abgebogen war. Während mich in den USA die Leute nett fragten, woher ich kam und was mich an diesen Ort verschlagen hatte, erlebte ich in Leipzig zunächst eisige Ablehnung. Offenkundig war klar, dass ich aus dem Westen kam und irgendwie sollte ich dafür büßen. Besonders offensichtlich wurde das beim Autofahren. Wir hatten damals zwei Fahrzeuge mit Leipziger Kennzeichen zur Verfügung: einen verkratzten Toyota und einen Firmenwagen von einer deutschen Premiummarke. Ich fuhr jeden Tag dieselbe Strecke, je nach Umstand mit dem einen oder dem anderen Fahrzeug. Fuhr ich mit dem Toyota, geschah Folgendes: Die anderen Verkehrsteilnehmer ließen mich vor; als ich mich einmal verfahren hatte, klopfte sogar eine Frau an die Scheibe und fragte, ob sie mir helfen könne; ein Mann machte mich an der Ampel stehend darauf aufmerksam, dass meine TÜV-Plakette abgelaufen war. Alle waren freundlich. Ich war mit meinem Auto offenbar ein automobiler Underdog und damit eine von ihnen. Fuhr ich aber mit der vermeintlichen „Bonzen-Karre", hatte ich keine Freunde mehr auf der Straße: Keiner ließ mich vor, man schnitt mich, wo immer es ging, und helfen wollte mir schon gar keiner. Die Wahl des Autos fiel somit nicht schwer, aber der schale Beigeschmack des mehr als offenkundigen Sozialneids meiner neuen Mitmenschen machte mich nachdenklich.

    Diese Befindlichkeit konnte ich auch bei einer Autorenlesung von Holger Witzel in einer Leipziger Buchhandlung erleben, bei der dieser aus seinem Buch „Schnauze Wessi" vorlas. Die Veranstaltung war bis auf den letzten Platz ausverkauft, und die intendierten Schenkelklopfer entfalteten ihre volle Wirkung: Der Wessi wurde angepasster dargestellt als es alle Ossis im Kollektiv jemals waren. Ich fand seine Sicht der Dinge teils erfrischend, andererseits fragte ich mich nach mehreren Kapiteln und beim Betrachten der Anwesenden, warum etwa die Frauen in Hamburg nicht zum Friseur gehen sollten? Ist ein gepflegtes Äußeres wirklich von Nachteil, über das er sich glossierend äußerte? Mulmig wurde mir zumute, als sich die innere Dynamik der zumeist älteren Zuhörer dahingehend entwickelte, dass sie den Autor baten, ihre Lieblingskapitel vorzulesen, in denen es polemisch um die Selbstgerechtigkeit und den Egoismus des Wessis ging. Der Autor schien den Leipziger Zuhörern aus der Seele zu sprechen.

    Nun ist Satire eine Kunstform, deren Grenzen Jan Böhmermann mit seiner Klage gegen Angela Merkel ausgetestet hat und gleichzeitig müssen wir alle unser Geld mit irgendwas verdienen. Das scheint Herrn Witzel mit diesem Genre als nettes Zubrot zu gelingen und es ist Teil unserer demokratischen Rechte. Wenig hilfreich finde ich, dass beim historisch einmaligen Unterfangen, dem Zusammenwachsen der beiden ehemaligen Teile Deutschlands, absichtlich Salz in die Wunden gerieben wird. Wie ein Schmiss, der statt still und leise zu verheilen, absichtlich entzündet wird, um prominenter zu wirken, als er bei Licht betrachtet ist. Aus meiner Sicht hatte die Lesung dem Prozess der inneren Vereinigung einen Bärendienst erwiesen und zu einer lang unterdrückten Eruption von Gefühlen bei den „Unterdrückten und Missverstandenen" geführt. Ironischerweise erinnerte sich in diesem emotionalen Überschwang keiner der Zuhörer an die alte Weisheit aller Gebrauchtwagenverkäufer: Jeden Morgen steht ein Blöder auf! Der Verkäufer will nicht recht haben, sondern Geld verdienen.

    Als Journalistin, die von eigenem Augenschein und O-Tönen lebt und inkognito in den Reihen saß, brachte ich am Ende nicht mehr die nötige Neutralität auf und ging, während tosender Applaus den Autor bedachte. Ich kam mir vor wie im falschen Film.

    Wie soll das weitergehen, fragte ich mich. Wie revanchistisch soll das noch werden?

    In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert. Fahrzeuge von Premiummarken sind mittlerweile in Leipzig allgegenwärtig. Die Porschedichte nimmt es mit Stuttgart-Zuffenhausen locker auf. Obwohl mir die eigene Erfahrung mit einem solchen Fahrzeug fehlt, stelle ich mir vor, dass die Fahrer nicht mehr in der Weise ausgegrenzt werden, wie ich es vor über zehn Jahren noch erlebt hatte. Schließlich gibt es zwei große Automobilhersteller im Norden Leipzigs, die viele gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen haben, und so die Menschen in der Region an der Prosperität dieser Industrie teilhaben.

    Es geht auch in anderen Wirtschaftszweigen voran. Wissenschaftler, Gründer und Künstler sind in Leipzig dicht auf dicht beieinander. Das macht den besonderen Reiz dieser Stadt aus, die trotz der über 600.000 Einwohner wie ein Dorf wirkt, dabei aber jung und dynamisch ist: Die Stadt ist im Kommen, strahlt auf die Region aus und zieht magnetisch neue Menschen an. Sie ist noch eine zarte Pflanze, mit der man behutsam umgehen muss, damit sie weder niedergetrampelt wird, noch beim ersten Sturm umknickt. Die Arbeitslosigkeit hat mit knapp 6,5 Prozent im März 2019 den niedrigsten Stand seit 1991 erreicht. Das ist sicher kein Grund, um die Hände in den Schoß zu legen und alles schön zu reden: Nicht alle partizipieren von dem Boom, der Leipzig zu „Hypzig" werden ließ. Die große Zahl der Hartz-IV-Empfänger, die über 58 Jahre alt sind, taucht in der Arbeitslosenstatistik nicht auf.

    Viele Menschen finden heute noch die von der Treuhand veranlasste Deindustrialisierung Ostdeutschlands unverhältnismäßig, finden, dass ihr dadurch verursachter Arbeitsplatzverlust ungerechtfertigt sei und ihre Lebensleistung nicht ausreichend gewürdigt werde. Einige sehen in der Wiedervereinigung ein „unfriendly take over", wie es im Investmentbanking üblich ist: Filetstück rausschneiden und der Rest kommt in die Wurst. Sie verstehen nicht, warum außer den minimalen Relikten von grünem Pfeil und Ampelmännchen, keine einzige ostdeutsche Einrichtung übernommen wurde. Sie fragen sich, warum haben die Westdeutschen den Sinn von Polikliniken nicht erkannt. So falsch kann es nicht gewesen sein, stellen sie heute teils mit Genugtuung fest, da genau dieses Konzept wieder diskutiert wird. Warum hat es keine neue Hymne gegeben, die Ausdruck von Neuem für alle Deutschen gewesen wäre? Warum wurde ein x-beliebiges Datum für den Feiertag der Deutschen Einheit gewählt, das in keinem Bezug zu den historischen Vorgängen steht? Einzig die Hauptstadt änderte sich für die Westdeutschen.

    Das bewegt trotz des ökonomischen Aufschwungs die Gemüter und wird manchmal laut gefordert, manchmal hinter vorgehaltener Hand gesagt. Mitunter werden diese Befindlichkeiten befeuert durch Plattitüden, die die meisten zwar als solche erkennen, während bei anderen die Saat aufgeht. Zur Leipziger Buchmesse 2019 erschien ein Buch von einer Politikerin, die zwischenzeitlich als Lobbyistin scheinbar weniger Erfolg gehabt hatte und die Partei wechselte – Antje Hermenau. Die als Frau der ersten Stunde an den damaligen Runden Tischen und als späteres Mitglied des Bundestages in vieles Einblick nehmen konnte, das anderen verborgen blieb. Sachsentümelnd und polemisch bedient sie in ihrem Buch Gedanken, dass etwa die Wessis auch „keinen Plan haben" und dass mit dem Geld, das für die Integration der Migranten ausgegeben wird, hervorragende Internetverbindungen bis zur letzten sächsischen Milchkanne verlegt werden könnten; erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt.

    Es lese sich wie eine Abrechnung, schrieb ein Leser der Leipziger Volkszeitung in einem Leserbrief zu diesem Buch, ohne Optionen aufzuzeigen, wie ein Miteinander gelingen könne. Ein anderer nannte es gar eine primitiv und diskriminierend formulierte Lektüre.

    Anders als über die berufssächsische Verfasserin habe ich im Podcast der Wochenzeitung Die Zeit vom 14. Februar 2019 in einem Gespräch mit der Leipziger Autorin und Journalistin Jana Hensel gestaunt, als sie auf die Frage, was sie beruflich gemacht hätte, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, antwortete, dass sie genau dasselbe machen würde wie heute. Dass kritische Berichterstattung in der gleichgeschalteten DDR-Staats-propaganda nicht möglich war und zu Berufsverboten und Zuchthausstrafen geführt hat, ist bekannt. Eine solche Aussage verklärt die Situation, in der sich Andersdenkende in der DDR befunden haben.

    Und wieder frage ich mich, wie das weitergehen soll? Die eine peitscht auf, die andere spielt die mangelnde Meinungsfreiheit in der DDR runter.

    Bei allen Ungerechtigkeiten, die die Kommission zur Aufarbeitung der Tätigkeit der Treuhand aufdecken soll, darf nicht aus dem Blick verloren werden, was alles erreicht wurde.

    Für beide Teile Deutschlands war es die erste Wiedervereinigung, beim nächsten Mal wäre man schlauer, könnte einer einwenden, aber Gift entsteht erst durch seine Dosis: Daher wäre es für das Zusammenwachsen wichtig – allen Befindlichkeiten zum Trotz – das Positive zu sehen, was bisher erreicht wurde und den Blick nach vorn zu richten. Welches andere Land hat in diesem Hinblick etwas Vergleichbares vorzuweisen? Dieser Prozess war und ist nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge möglich. Wenn sich die Menschen eher auf das Verbindende als auf das Trennende konzentrieren und nicht mit „Besatzer"-Begriffen die Glut schüren, wird das Gemeinsame in den Vordergrund gerückt.

    Während früher die Unterschiede zwischen Bayern und Hamburg mit zahl- und achtlosen Witzen bedacht wurden, wird heute gern auf den Klischees des Ostens rumgeritten: Alle Ossis sind arbeitslos und rechts. Der Gag-Schreiber ist mit diesen Themen auf der sicheren Seite, die Lacher sind garantiert. Aber der Vergleich zu den alten BRD-Witzen hinkt.

    Als ich in Nürnberg studierte, fragte mich mein oberbayrischer WG-Bewohner, wie das eigentlich sein könne, dass ich als Bremer Nutznießerin des Länderfinanzausgleichs, überhaupt ein Stimmrecht bei der Bundestagswahl haben könne. Wie sich zeigte, hatte nicht nur ich den Eindruck, dass er dämlich war, denn er fiel durch seine letzte Prüfung, aber befremdlich fand ich diese Denke schon. Der Spruch „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing mag vielleicht in einigen Familien funktionieren, innerhalb eines Landes aber sicher nicht. Den Ostdeutschen vorzuhalten, dass man so viel Geld in ihre Bundesländer gepumpt hat und sie mit ihren neuen Bürgersteigen endlich zufrieden und dankbar sein sollen, ist nicht nur unsensibel, sondern nicht zielführend. Wie bei Montessori ist Hilfe zur Selbsthilfe, eins der besten Konzepte überhaupt. Der Aufbau Ost war eine Selbstertüchtigung und sollte keine endlose Alimentierung werden. Die finanzielle Unterstützung läuft bald aus und das ist auch gut so. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle kam im März 2019 in seiner Studie „Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall etwa zu dem Schluss, dass die Produktivität des Ostens, der im Westen um 20 Prozent nachhängt, und zwar deswegen, weil der Arbeitsplatzerhalt staatlich subventioniert ist.

    Und die Studie der Bertelsmann Stiftung „Monitor Nachhaltige Kommune aus dem Jahr 2018 ergab, dass die Armutsquote in Ludwigshafen und im Ruhrgebiet zugenommen, dafür aber in Städten wie Erfurt, Chemnitz und Rostock merklich abgenommen hat. Vielleicht verschiebt sich die Fokussierung für Wirtschafts- und Sozialhilfe nun auf diese Regionen im Westen und der Osten kann jetzt, auf eigenen Füßen stehend, den Westen unterstützen. Dann hören Neid, Bezichtigungen und Unterstellungen vielleicht von ganz allein auf und „Schnauze-Bücher haben ausgedient.

    Wo geht die Reise hin?

    Von Ilka Wild

    Ich habe große Teile meines Studiums auf Taiwan verbracht und dort einige Jahre gearbeitet. Die Insel im südchinesischen Meer nennt sich offiziell „Republik China" und ist der Gegenentwurf zum großen kommunistischen Festland. Hier herrscht offiziell Marktwirtschaft, die kommunistische Propaganda ist weit weg. Durch die Seestraße von Taiwan geht noch immer eine Trennlinie, ähnlich wie eine solche durch die beiden deutschen Staaten ging. Das wird, je nach politischer Ausrichtung, von Taiwanern verflucht oder begrüßt. Sollte es jemals zu einer faktischen Wiedervereinigung kommen (offiziell gibt es keine zwei chinesischen Staaten, nur zwei unterschiedliche Interpretationen davon), wird das überlegene System eines sein, das sich selbst kommunistisch nennt. Für die Taiwaner heute ist das ein nicht ganz unwahrscheinliches Szenario.

    1989 wäre ein solcher Ausgang für das vereinte Deutschland undenkbar gewesen. Ich stelle mir vor, wir hätten die Möglichkeit des Siegs des Kommunismus über ganz Deutschland 1989 einmal diskutiert: Kaum ein Ostdeutscher hätte das für realistisch oder gar erstrebenswert gehalten. Hätte es so viele Anhänger des alten Systems im Osten Deutschlands gegeben, wie es in manchen Diskussionsrunden heute scheint, hätte es im Osten einen Bürgerkrieg gegeben und keine Friedliche Revolution. Der Konsens unter den damaligen DDR-Bürgern, dass das alte System wegmusste, war so groß, dass es glücklicherweise ohne große Gegenwehr in sich zusammenfiel.

    Das SED-Regime hatte nicht nur das Land heruntergewirtschaftet, es hatte seine Bürger systematisch überwacht und bevormundet – das waren die eigentlichen Gründe für den System-Kollaps. Auch wenn es in den Monaten, die auf den Mauerfall folgten, anders erschien: Die DDR-Bürger kämpften nicht dafür, Bananen einkaufen zu können oder Levis-Jeans, sie gingen für Bürger- und Menschenrechte auf die Straße. Gingen das Risiko ein, von der Stasi in Visier genommen zu werden oder im Betrieb Ärger zu bekommen, falls sie beim Demonstrieren gesehen wurden.

    Man hat sich die Freiheit und das neue System mehr oder weniger hart erkämpft. Die Friedliche Revolution von 1989 ist eine Leistung, die man würdigen muss – in Ost und West. Das geschieht, meiner Meinung nach, heute viel zu wenig. Die erkämpften Rechte nimmt man gern als selbstverständlich hin. Ich glaube, dass viele es verschmerzen könnten, wenn es von heute auf morgen keine Bananen mehr zu kaufen gäbe. Aber ich stelle mir den Aufschrei vor, wenn man von heute auf morgen seine fünf neuen Bundesländer nicht mehr verlassen dürfte. Und einen Antrag stellen müsste, um nach Polen in den Urlaub zu fahren. Dass man Übernachtungsgäste in der eigenen Wohnung in ein Hausbuch bei einem ‚Hausvertrauensmann‘ eintragen müsste. Oder wenn die Kinder nicht studieren dürften, weil diese oder man selbst nicht in eine bestimmte Partei eintreten will. All diese Erniedrigungen waren Normalität in einem Unrechtsstaat, der von manchen heute verklärt wird.

    Diese neuen Rechte und Freiheiten haben natürlich eine Kehrseite. So wie sich die Ostdeutschen ein Westdeutschland vorstellten, wie sie es aus dem Westfernsehen kannten, und wie sie sich dementsprechend das vereinte Deutschland gewünscht hatten, wurde es meist nicht. Besonders in den ersten Jahren gingen viele wirtschaftlich durch ein Tal der Tränen. Und einige haben den Systemwechsel, materiell gesehen, nie für sich nutzen können. Besonders tragisch ist das für diejenigen, denen es ohne eigene Schuld nie gelungen ist, nach der Wende wirtschaftlich auf die Füße zu kommen: Wenn man im Osten einen Beruf gelernt hatte, der von heute auf morgen nicht mehr gebraucht wurde oder wenn ganze Industrielandschaften plötzlich brach lagen – wie sollte es dann weitergehen, besonders für Leute, die den Großteil ihres Berufslebens schon hinter sich hatten. Sollten nun alle den Arbeitsplätzen hinterherziehen und den Osten verlassen? Von den 14.000 DDR-Betrieben unter Treuhand-Verwaltung wurden 4.000 geschlossen, Hunderttausende Jobs im Osten gingen verloren.

    Doch die allermeisten haben den Systemwechsel genutzt, das Beste daraus gemacht und sich eine neue Existenz aufgebaut. Zwar ist vieles im Osten noch nicht mit dem Westen vergleichbar, das Lohnniveau hinkt noch immer hinterher und die Vermögen und Bankguthaben sind deutlich kleiner. Doch in der DDR wäre der Wohlstand immer sehr viel kleiner gewesen. Das sieht man daran, wie bescheiden der Luxus selbst in der Wandlitz- Siedlung war – die SED-Führung lebte auf dem miefigen Niveau der westdeutschen Mittelklasse.

    So gibt es heute einige Ostdeutsche, die finanziell sehr erfolgreich sind und viele, die ein gutes oder mittleres Einkommen haben.

    Trotzdem höre ich immer wieder eine gewisse Unzufriedenheit über die Situation im vereinigten Deutschland, selbst bei erfolgreichen Ostdeutschen wie Beamten, Ärzten, Unternehmern: Viele stimmen in einen fast larmoyanten Kanon ein. Sie empfinden, dass ihre Lebensleistung in der ehemaligen DDR nicht wertgeschätzt wird und über die DDR nur abfällig gesprochen wird. Dass Ost-Themen immer nur angesprochen werden, wenn es um rechtsradikale Auswüchse geht oder um sonstige Klischees, die man dem Osten so schön zuordnen kann. So mancher denkt manchmal wehmütig zurück an die späten 1980er Jahre, an die belebten Städte und die vielen jungen Menschen dort. Heute sind zahlreiche Regionen des Ostens überaltert, oft ist die Bevölkerung um 20 Prozent und mehr geschrumpft, weil die Jungen keine Perspektive in Gera, Rostock oder Finsterwalde sahen. Viele Ostdeutsche fragen sich, wer die Schuld dafür trägt, dass es nicht geklappt hat mit den „blühenden Landschaften". Vielen fällt in diesem Zusammenhang nur die Treuhand ein.

    Wie meine Co-Autorin Carolin Wilms sehe ich eine von einigen Ostdeutschen, oft aus dem linken Lager, geforderte Wahrheitskommission, die die Aktivitäten der Treuhand ‚aufarbeiten‘ soll, sehr kritisch. Ich bin nicht davon überzeugt, dass diese Kommission einen großen Beitrag zur Zufriedenheit der Ostdeutschen mit ihrer Rolle im vereinigten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1