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Leben nach der DDR: Was die Wende dem Osten brachte
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Leben nach der DDR: Was die Wende dem Osten brachte
eBook504 Seiten5 Stunden

Leben nach der DDR: Was die Wende dem Osten brachte

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Über dieses E-Book

Wann endete die DDR? Warum entstand die Treuhand? Wie wuchs die "Mauer in den Köpfen"? Was war eine "Arbeitsbeschaffungsmaßnahme"? Wie erlebte die NVA ihren Zapfenstreich? Welches Erbe hinterließ der Fernsehfunk? Waren Ost- und Westbürger "Brüder und Schwestern"? Das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung sind Weltgeschichte. Bestsellerautor Klaus Behling erinnert fernab jeden Anspruchs auf Deutungshoheit oder Vollständigkeit an diese bewegten Jahre. In 66 Fragen und Antworten lotet er in einem umfangreich recherchierten und packend geschriebenen Streifzug durch die Wende- und Nachwendezeit die Historie aus, erzählt vom Abgesang und neuen Anfang, von Startschwierigkeiten und Enttäuschungen, von Stolpersteinen und dunklen Geschäften, aber auch vom Erbe und Wandel dieses geschichtsträchtigen Prozesses. Die interessanten, lehrreichen und neugierigen Fragen, die der Autor sich und seinen Lesern stellt, wirken bis heute und prägen das Stimmungsbild im vereinten Deutschland. Mit ihrer Beantwortung legt Klaus Behling ein kundiges und im besten Sinne populäres Sachbuch vor, das – reich bebildert – viele Erinnerungen in Ost und West wachruft und zeigt, dass die Wende bis heute kein abgeschlossener Prozess ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberBild und Heimat
Erscheinungsdatum2. März 2020
ISBN9783959587921
Leben nach der DDR: Was die Wende dem Osten brachte

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    Buchvorschau

    Leben nach der DDR - Klaus Behling

    Eine Frage vorab

    Warum ist die Mauer nicht vergessen?

    Die Berliner Mauer ist »gefallen«. Am 10. November 1989 – nach der Grenz­öffnung am Vortag – wird sie von den Menschenmassen bestürmt. (picture alliance/ dpa-Zentralbild / Mathias Brauner)

    Dreißig Jahre deutsche Einheit wird mit einer Besinnlichkeit gefeiert, die an die Weihnachtsfeste der Kindheit erinnert. Niemand glaubte mehr an den Weihnachtsmann, dennoch war er es, der angeblich die Geschenke brachte. Wer wollte es da riskieren, das anzuzweifeln? Positives wird gern als selbstverständlich genommen und dann nach dem Haar in der Suppe gesucht. Es ist der Katalysator, der das Gute besonders macht.

    Mit der Einheit ist es ähnlich. »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört«, hatte Willy Brandt mit der Autorität eines weisen alten Staatsmanns verkündet. Wie lange das dauern würde, sagte er nicht. Auch das war weise. Eigentlich lag es auf der Hand. Nach vierzig Jahren Trennung erkennen sich selbst Geschwister nicht so einfach wieder, und dass sie sich danach sehr schnell kennenlernen, erwartet niemand. Sie schaffen es aber, wenn sie miteinander reden.

    Genau das gehört heute zu den Forderungen der Einheitsbesinnlichkeit. Man müsse mehr miteinander reden, sich die Biografien anhören, und der Westen solle gefälligst endlich einmal anerkennen, dass der Osten eine »riesige Transformationsleistung« erbracht habe.

    Das ist eine reichlich verspätete Aufforderung. Wer das bis jetzt nicht getan hat, dürfte sich kaum dafür interessieren. Und es muss ja auch nicht sein. Kein ostfriesischer Fischer fährt ins Erzgebirge, um vom Bauern zu erfahren, ob das Fahren mit dem Traktor am Hang nicht ziemlich kompliziert ist. Nach Bayern zieht es ihn deshalb schon gar nicht, und der Almbauer interessiert sich auch nicht besonders dafür, ob man bei der Arbeit am Autofließband genügend frische Luft einatmet.

    Es ist eine etwas scheinheilige Debatte, in der »die Heimat« zum Kampfbegriff geworden ist. Ebenso erstaunt wird konstatiert, dass sie sich in Ost und West anders anfühlt, wie das Gleiche zwischen Nord und Süd übersehen wird. Das »Was wäre, wenn …« beherrscht den öffentlichen Diskurs, manches Sägemehl wird noch einmal gemahlen.

    Vielleicht hängt das alles mit offen gebliebenen Fragen zusammen. Über manches wollte schon damals, Anfang der 1990er Jahre, kaum jemand sprechen. Fragen tragen immer auch den Keim von Skepsis in sich. Manche verstehen sie als Jammern. Anderes brauchte eine Weile, um überhaupt erst erkannt zu werden, und einiges ließ sich schwer erklären und mit Schweigen scheinbar am leichtesten bewältigen. Letztlich klappte alles nicht, die Fragen blieben.

    Danach, was die Ostdeutschen in der wildesten Zeit ihres Lebens bewegte, wird hier gefragt. Das war für jeden ein sehr individueller Prozess, und mancher kam am besten damit klar, erst gar keine Fragen zu stellen. Andere wollten keine Antworten bekommen. Für jene, die sich zwischen diesen Polen bewegten, ist dieses Buch gedacht. Als Angebot und Hilfe beim Erinnern.

    Berlin, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 nach der Öffnung der DDR-­Grenzen nach Westen. Berliner aus beiden Teilen der Stadt »erobern« die Mauer am Brandenburger Tor. (picture alliance / akg-images)

    1 – Abgesang & Neuanfang

    (picture alliance / dpa – Bildarchiv / dpa)

    Wann endete die DDR?

    In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 hat sich vor dem Brandenburger Tor in Ost und West eine riesige Menschenmenge zusammengefunden, um die Deutsche Einheit feierlich zu begehen. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / dpa)

    Die Frage nach dem Ende der DDR zu stellen, provoziert den Vorwurf, nicht einmal den Kalender zu kennen. Ist doch klar: Der 3. Oktober ist dort vermerkt, Punkt 0.00 Uhr kam die sechzig Quadratmeter große schwarz-rot-goldene Fahne an der Spitze des 28,5 Meter hohen Mastes vor dem Westeingang des Reichstags an. Bis dahin brauchte sie genau zwei Minuten.

    Schon weniger bekannt ist, dass diese Fahne auf dem »Platz der Republik«, umrundet von der im Sockel eingelassenen Inschrift: »DEUTSCHE EINHEIT 3. OKTOBER 1990«, einen besonderen Charakter hat. Das Internetlexikon Wikipedia berichtet im Artikel »Fahne der Einheit«: »Die Fahne der Einheit, Flagge der Einheit bzw. Einheitsflagge ist ein nationales Denkmal zur Wiedervereinigung in Gestalt der Deutschen Bundesflagge.«

    Das ist nicht besonders exakt formuliert. Eine »Wiedervereinigung« hat es nicht gegeben, denn es existierte kein Staat, der aus der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bestand. Deshalb heißt der Nationalfeiertag auch »Tag der Deutschen Einheit«. Einen Feier-»Tag der deutschen Einheit« – mit kleinem »d« geschrieben – gab es von 1954 bis 1990 auch schon in der Bundesrepublik. Er sollte an den DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erinnern, was inzwischen jedoch viele vergessen hatten.

    Vor dem Berliner Reichstagsgebäude hissen junge Sportler in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 um 23.58 Uhr die deutsche Flagge als Zeichen der wiedergewonnenen Deutschen Einheit, die um 0.00 Uhr eine neue Zeit einläutet. (picture alliance / dpa –

    Fotoreport / Roland Holschneider)

    Wer heute ganz genau sein möchte, nennt das Ereignis von 1990 »Herstellung der Einheit Deutschlands«. Aber auch dreißig Jahre danach pflegen manche lieber ihren alten Klassenkämpferzorn und sprechen von der »Annexion« der DDR. Die hat es allerdings ebenso wenig gegeben wie die Wiedervereinigung, denn die Bundesrepublik marschierte nicht im Osten ein, sondern die DDR trat ihr bei. Dazu bedurfte es ihres Endes – doch wann war das nun eigentlich genau?

    17. Juni 1953, Volksaufstand in der DDR: An der Sektorengrenze in Berlin Friedrichstraße/Ecke Zimmerstraße sind auf der Ostberliner Seite sowjetische Panzer aufgefahren. Westberliner verfolgen die Vorgänge am Grenzübergang Checkpoint Charly. (picture alliance / akg-images)

    17. Juni 1990, »Tag der deutschen Einheit«: Schaulustige und Polizisten haben sich vor dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin versammelt. Wenige Wochen vor dem Beitritt der DDR zur BRD gedenken in einer Veranstaltung erstmals gemeinsam Politiker aus beiden deutschen Staaten dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. (picture alliance / dpa – Report / ZB / Peter Kroh)

    Über den faktischen Schlusspunkt informierten die Fernsehnachrichten am 1. Juli 1990: »Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzkontrollen ist die Einheit Deutschlands seit heute, null Uhr, praktisch vollzogen. Der Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Sozial- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist in Kraft getreten.«

    Das entsprach dem Willen der Mehrheit des DDR-Volkes, ausgedrückt bei den Wahlen am 18. März 1990. Nur die Herstellung der deutschen Einheit durch ein parlamentarisch geregeltes Ende der DDR stand noch aus. Sie war die Hauptaufgabe der neuen Regierung unter Führung des CDU-Politikers Lothar de Maizière.

    Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) am 20. Februar 1990 auf dem Erfurter Domplatz: Bei einer Wahlkampfveranstaltung der Allianz für Deutschland, bestehend aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA), jubeln 130.000 DDR-Bürger dem »Kanzler der Einheit« zu. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / Heinz Wieseler)

    Nach der am 1. Dezember 1989 vollzogenen Streichung des Führungsanspruchs der SED aus der Verfassung der DDR fanden am 18. März 1990 freie Wahlen zur Volkskammer der DDR statt. Der Vorsitzende der Ost-CDU, Lothar de Maizière, freut sich am Abend über den Wahlsieg der Allianz für Deutschland. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / Thomas Wattenberg)

    Der erste rechtlich verbindliche Schritt bestand jedoch im ersten Staatsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten über die Bildung einer »Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion«. Bundeskanzler Helmut Kohl sprach bei der Vertragsunterzeichnung am 18. Mai 1990 von der »Geburtsstunde des freien und einigen Deutschland«.

    Um das gemeinsame Wirtschaften ging es eher weniger. Dabei hatte die DDR nicht viel zu bieten. Das »richtige Geld« stand im Mittelpunkt, und schon am gleichen Tag drehte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière den Vertragstitel um: »Es beginnt die tatsächliche Verwirklichung der Einheit Deutschlands. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion macht den Einigungsprozess unumkehrbar.« Dass dafür das Geld das politische Fundament schuf, war auch dem für die DDR unterzeichnenden Finanzminister Walter Romberg (SPD) klar. Er erinnerte sich: »Mit der Einführung der DM hatten wir faktisch unsere Souveränität aufgegeben.«

    Ein souveräner Staat kann alle äußeren und inneren Angelegenheiten selbst entscheiden. Das war nun nicht mehr der Fall. Trotzdem gab es die DDR noch. Über den genauen Zeitpunkt ihres offiziellen Endes entschied die Volkskammer in den frühen Morgenstunden des 23. August 1990. Lothar de Maizière hatte dazu eine Sondersitzung einberufen: »Es ist verhandelt worden bis tief in die Nacht, um 2.57 Uhr oder so was war dann die Entscheidung gefällt: Wir treten dem Geltungsbereich des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober, null Uhr, bei. Und dann war der Beschluss falsch formuliert: ›Die Volkskammer beschließt den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit Datum vom 3. Oktober!‹ Und jetzt kommt der Witz: Gregor Gysi kam danach und sagte: ›Der Beschluss ist falsch und muss heißen: Die Volkskammer beschließt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, denn sonst wäre ja nur die Volkskammer beigetreten, nicht das Volk der DDR.‹«

    Reinhard Höppner (SPD), der als Vizepräsident der Volkskammer die damalige Sitzung leitete, bestätigte: »Wenn man jetzt die Protokolle liest, dort steht ordentlich drin, dass der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen worden ist. Wir haben das im Protokoll korrigiert, aber beschlossen haben wir es nicht.«

    Im Rückblick illustriert dies alles nur das 1990 herrschende politische Chaos. Doch auch dieser 23. August war einer der Schlussstrich-Termine für das Ende der DDR. Darauf machte ebenfalls Gregor Gysi, damals Vorsitzender der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), in der Volkskammer aufmerksam: »Das waren fünf oder sechs Sätze, mehr waren es wirklich nicht. Ist ja auch nicht gerade typisch für mich, aber damals war es so. Und dann fing ich mit dem Satz an: ›Sie haben soeben nicht mehr und nicht weniger beschlossen als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik …‹ Weiter kam ich nicht. Dann tobte die Union …«

    Die damalige CDU-Ministerin für Jugend und Sport, Cordula Schubert, und die Mehrzahl der Parlamentarier verstanden das als Endpunkt: »Nach der Abstimmung ist Gysi an das Mikrofon gegangen und hat gesagt: ›Wir haben soeben das Ende der DDR beschlossen.‹ (…) Es war eine unwahrscheinliche Erleichterung. Das, was man wollte, war nun greifbar nah.«

    Es ist durchaus üblich, einen Beschluss als Fixpunkt eines politischen Prozesses zu benennen. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz in Kraft gesetzt, es galt zunächst nur für die Westzonen. Dieses Datum bestimmt heute den Gründungstag der Bundesrepublik, blieb aber umstritten. Manche meinen, dass der Staat erst mit der Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages am 7. September 1949 oder gar mit dem Amtsantritt des ersten Kabinetts Konrad Adenauers am 20. September 1949 zu existieren begann.

    Auch in der späteren DDR stand ein Beschluss am Anfang. Am 7. Oktober 1949 erklärte sich der Zweite Deutsche Volksrat der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zur »Provisorischen Volkskammer« und setzte die Verfassung in Kraft. Damit war die Gründung der DDR vollzogen. Der Tag wurde mit einem Fackelzug gefeiert.

    Die einseitige Erklärung der Sowjetunion zur Souveränität der DDR vom 25. März 1954 und das Inkrafttreten der Pariser Verträge vom 5. Mai 1955 in der Bundesrepublik fand in beiden deutschen Staaten wenig öffentliche Aufmerksamkeit. Außerdem blieben Vorbehaltsrechte der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bestehen. Sie waren bei der Herstellung der deutschen Einheit 1990 zu beachten. Überdies stand Berlin unter der Kontrolle der früheren Alliierten. Deshalb reichte der Wille zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht aus. International geklärt werden musste die Bündnisfrage eines künftigen, einigen Deutschlands, die Endgültigkeit der deutschen Grenzen und der Interessenausgleich mit der Sowjetunion.

    Voraussetzung für das völkerrechtliche Inkrafttreten des Einigungsvertrags war deshalb der Abschluss des »Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland« (»Zwei-plus-Vier-Vertrag«), in dem die vier Siegermächte auf ihre Vorbehaltsrechte verzichteten. Damit ersetzte er den bislang ausstehenden Friedensvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Vertrag wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet.

    Dem studierten Juristen Lothar de Maizière fiel dabei ein heute völlig vergessenes Detail auf: »Ich habe nach der Unterzeichnung in Moskau Herrn Genscher gefragt, ob er wisse, was er da eben getan habe: ›Sie haben soeben die DDR völkerrechtlich anerkannt! Sie haben mit der DDR einen völkerrechtlichen Vertrag unterschrieben, und das können nur Vertragsvölkerrechtsobjekte.‹ Das fand er ganz merkwürdig, aber so war es. Insofern ist die DDR auf ihren letzten Metern doch noch völkerrechtlich von der Bundesrepublik anerkannt worden. Wenn auch indirekt.«

    Der »Zwei-plus-Vier-Vertrag« trat am 15. März 1991 mit der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an war das nun geeinte Deutschland frei von alliierten Vorbehaltsrechten. Eigentlich war dieser, heute völlig unbeachtete Tag das endgültige Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn eines souveränen Deutschlands. Er verband sich mit dem Ende der bisherigen Bundesrepublik ebenso wie mit dem der DDR.

    Moskau, 12. September 1990. Die Unterzeichnung des »Zwei-plus-Vier-Vertrags« durch die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR sowie des Außenministers der BRD: v. l. n. r.: James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnadse (UdSSR), Roland Dumas (Frankreich), Lothar de Maizière (DDR) und Hans-Dietrich Genscher (BRD). (picture alliance / dpa /Thomas Uhlemann)

    War Gorbatschow ein Verräter?

    Nach dem Sieg über den Faschismus am 8. Mai 1945 begann die Sowjetunion, ihren Machtbereich über ganz Osteuropa auszuweiten. Das ging nicht ohne Widerstände. Brachen sie aus, rollten sowjetische Panzer an und walzten sie nieder. Das war 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) der Fall. Danach nannte man diese Politik im Westen »Breschnew-Doktrin«: Lief es irgendwo im Ostblock nicht nach den Moskauer Vorstellungen, wurde Gewalt eingesetzt. Als Michail Gorbatschow im März 1985 an die Macht kam, verkündete er an seinem ersten Amtstag, damit Schluss machen zu wollen. Das nahm niemand sonderlich ernst. Dennoch hatte die Entwicklung freier Gewerkschaften in Polen bereits gezeigt, dass es genau so gemeint war. Als 1989 dann die DDR-Bürger auf die Straße gingen, blieben die sowjetischen Panzer ebenfalls in den Kasernen.

    Der letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz, der vom 18. Oktober bis zum 6. Dezember 1989 als Nachfolger Erich Honeckers das Amt übernahm, erinnerte sich dreißig Jahre später an den Mauerfall: Auf der Grundlage der geltenden Verträge zwischen der DDR und der Sowjetunion hätte er die Truppen zur Hilfe rufen können. Im Oberkommando gab es durchaus Kräfte, die der Politik Michail Gorbatschows skeptisch gegenüberstanden. Aber Egon Krenz wollte keine Gewalt gegen das DDR-Volk: »Eine falsche Entscheidung in jener Nacht hätte Blutvergießen bedeutet … Für mich ist das Allerwichtigste, dass am 9. November abends nicht Blut, sondern Sekt floss.«

    Dass es tatsächlich die Gefahr eines unkontrollierten Eingreifens der Sowjets gab, bestätigte ihm am 10. November 1989 deren Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow. Er erklärte: »Beachten Sie, Genosse Krenz, dass nicht alle Genossen des Politbüros, denen Sie vertrauen, auch Ihnen vertrauen. Ich versuche, einige Hitzköpfe zu beruhigen. Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.«

    Für Egon Krenz stellte sich damit die Frage, ob die DDR durch die Politik Michail Gorbatschows nicht einem Verrat »an der Sache des Sozialismus« zum Opfer gefallen sei. Klar war ihm: »Die Sowjetunion stand an der Wiege der DDR, aber auch an ihrem Sterbebett.« Nach dem Fall der Mauer und ohne sowjetische Bajonette war sie nicht mehr zu halten. Trotzdem folgte Egon Krenz Anfang der 1990er Jahre nicht dem Vorwurf, Gorbatschow habe die DDR verraten. Das begründete er politisch: »Würde der Verratsvorwurf dominieren, würde uns das behindern, die objektiven Ursachen des Versagens des Sozialismus in Europa aufzudecken.«

    Berlin, Hauptstadt der DDR, 7. Oktober 1989: Trotz der Unruhen im Land feiert die Führung der DDR mit einer Militärparade die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vor vierzig Jahren. Zu Besuch ist der sowjetische Staats- und Parteichef, Michail Gorbatschow (2. v. l.), rechts neben ihm grüßt der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär Erich Honecker die an der Ehrentribüne Vorbeimarschierenden. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / ADN Zentralbild)

    Seine Meinung änderte sich im Laufe der Jahre. 2019 bekannte Egon Krenz: »Es hat gedauert, bis ich Weggefährten verstand, die ihn einen Verräter nennen. Ich habe ihm vertraut. Heute weiß ich: viel zu lange.« Und: »Verrat gibt es ja nicht nur aus Berechnung. Es gibt ihn auch aus Eitelkeit, aus Missgunst, Unwissen, aus Schwäche, Unentschlossenheit, Selbstüberschätzung, Eigenliebe und manch anderem. Doch objektiv bleibt es Verrat.«

    So sah es auch Valentin Falin, über Jahrzehnte einer der führenden Deutschlandpolitiker in Moskau. Er bemängelte, dass sich Gorbatschow »mit Kleingeld begnügt« und nicht einmal durchgesetzt habe, »dass die NATO auf eine Osterweiterung verzichtet«. Sein Urteil: »Das war eine Variante des Münchner Abkommens, wir haben über den Kopf der DDR hinweg alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten.« Den Grund dafür sah er in Gorbatschows persönlichen Ambitionen: »Er hat nicht das Land gerettet, sondern nur seine eigene Position.«

    Im Gegensatz zu Egon Krenz und Valentin Falin sah Gorbatschows Berater Georgi Schachnasarow die deutsche Einheit bereits damals vor dem Hintergrund der »Perestroika«-Politik der Sowjetunion. Er beantwortete die Frage nach Verrat und Bündnistreue so: »Wenn man vom Standpunkt des früheren Systems ausgeht, als es zwei Machtblöcke gab und jeder für seinen Teil verantwortlich und verpflichtet war, seine Verbündeten zu unterstützen, dann ja, selbstverständlich. Im Rahmen dieses Ganzheitssystems hatte die Sowjetunion ihre Pflicht nicht erfüllt. Aber im Zusammenhang mit dem Begriff des Neuen Denkens und vor dem Hintergrund der veränderten Welt galt es, sich neuen Realitäten zu stellen. Und in diesem Zusammenhang war es unsere Pflicht, so zu handeln, wie Gorbatschow es tat. Wenn das deutsche Volk beschlossen hatte, dass es in einem Staat leben wollte, dann war es sein eigenes Recht, und deswegen durften wir uns nicht einmischen.«

    Ein letzter Bruderkuss, 6. Oktober 1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (links) wird nach seiner Ankunft zu den Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Staatsjubiläum der DDR in traditioneller Weise vom Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker willkommen geheißen. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)

    In den Geschichtsbüchern steht heute, dass Michail Gorbatschow bei seinem Besuch zum vierzigsten Jahrestag der DDR seinen SED-Genossen ausdrücklich längst überfällige Reformen ans Herz gelegt und ansonsten ihr baldiges Ende vorausgesagt habe. Dies zeige sich in dem Satz: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«

    Diese Wiedergabe stammt vom Dolmetscher Helmut Ettinger, die genauen Worte Gorbatschows gelten heute als nicht nachvollziehbar.

    Genau belegt ist hingegen, was der KPdSU-Generalsekretär dem SED-Politbüro am 7. Oktober 1989 im Schloss Niederschönhausen wortwörtlich sagte. Es klang bei weitem nicht so dramatisch.

    Zunächst lobte Gorbatschow Erich Honecker und die anderen Anwesenden: »Ihr ganzes Leben und alle Ihre Taten waren nicht umsonst. Das, was die DDR heute ist, ist eine hervorragende Krönung des langen Weges bis zur Gründung des Arbeiter-und-Bauern-Staates auf deutschem Boden.« Dann folgte das Freundschaftsbekenntnis: »Die Deutsche Demokratische Republik ist für uns der vorrangigste Partner und Verbündete. Davon lassen wir uns in unserer Politik leiten.« »Völlige Übereinstimmung« kon­statierte Gorbatschow auch »in Bezug auf die Einschätzung der Prozesse …, die sich in unseren Ländern und in der sozialistischen Welt im Ganzen vollziehen.«

    Der erste zaghaft kritische Satz lautete: »Wir kommen zu der Schlussfolgerung, dass wir die Impulse des sich entwickelnden Lebens unbedingt aufnehmen müssen.« Dann stellte Gorbatschow die Frage »Was weiter?« und nörgelte vorsichtig: »Was Genosse Erich Honecker in seiner Rede als Antwort auf diese Frage sagte, konnte natürlich nicht vollständig sein. Es war ja nur eine Jubiläumsansprache …« Wie der »Notwendigkeit der weiteren gründlichen und tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft« zu genügen sei, müsse der kommende SED-Parteitag bestimmen, »der eine Wende in der Entwicklung des Landes sein und die Perspektiven für die weitere Entwicklung der Gesellschaft bestimmen muss«. Mit Blick auf das Vorbild von Glasnost und Perestroika hieß es nur: »Ich glaube, dass auch unsere Umgestaltung eine Antwort auf die Erfordernisse der Zeit ist.« Gleichzeitig machte Gorbatschow der SED-Führung Mut, denn er meinte, »dass es Ihnen leichter wird, Umgestaltungen durchzuführen, weil Sie keine solchen Spannungen im sozialökonomischen Bereich haben«. Der KPdSU-Chef verwies auf seine Erfahrung, »dass viel Wurst und viel Brot noch nicht alles sind. Die Leute verlangen dann eine neue Atmosphäre, mehr Sauerstoff, einen neuen Atem, insbesondere für die sozialistische Ordnung«. Sie wollten eine den materiellen Bedingungen »entsprechende geistige Atmosphäre in der Gesellschaft«. Dass es die in der DDR nicht gab, sagte Gorbatschow nicht. Stattdessen referierte er ausführlich die Probleme im Sowjetland. Vorher kam jedoch noch einmal – in etwas abgewandelter Form – der berühmte Satz: »Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Die Partei muss ihre eigene Auffassung haben, ihr eigenes Herantreten vorschlagen. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.«

    Damit war die große Kritik-Bombe geplatzt, und Gorbatschow versicherte versöhnlich: »Ich bin voller Zuversicht, dass Sie richtig handeln. Man muss weitergehen und die Impulse der Zeit erfassen.« Und noch einmal: »Wir haben nur eine Wahl: entschieden voranzugehen, sonst werden wir vom Leben selbst geschlagen.«

    Montagsdemonstration in Leipzig, 23. Oktober 1989: 250.000 Menschen haben sich versammelt. Manche tragen Plakate mit dem Bild Michail Gorbatschows. Der sowjetische Staats- und Parteichef ist durch seine Reformbestrebungen für viele DDR-Bürger zum Hoffnungsträger und zur Leitfigur avanciert. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / dpa)

    Trotz des vermeintlichen »Verrats« Gorbatschows an der DDR widerspricht sich Egon Krenz, denn er sieht heute einen wesentlichen Grund für die Einheit Deutschlands in der SED-Politik gegenüber der Bundesrepublik. Sechsmal hatte Moskau eine Reise Erich Honeckers nach Bonn mit Macht verhindert, bis er 1987 dann doch fuhr. Krenz: »Den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik haben wir alle gefeiert … Aber im Nachhinein erfahren wir nun, dass das für Gorbatschow Anlass war, seine Deutschland-Politik zu verändern.«

    Dem letzten KPdSU-Generalsekretär war das Hemd näher als der Rock. Er gab 1989/90 die DDR für den Versuch preis, mit westlicher Hilfe die Sowjetunion zu retten. Das blieb erfolglos. Ob es ein Verrat oder die unter dem Druck der Verhältnisse einzig mögliche Politik war, hat der künftige Lauf der Geschichte zu bewerten.

    Moskau, 1. November 1989: Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbat­schow (rechts) empfängt den neuen Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz (Mitte) zum offiziellen Antrittsbesuch unter den Augen zahlreicher Journalisten. (picture alliance / dpa – Report /ADN Zentralbild)

    Warum löste sich die SED nicht auf?

    Als der am 8. Dezember 1989 begonnene Parteitag der SED nach einer Woche Unterbrechung beendet wurde, bekam der Vorsitzende der sich nun SED-PDS nennenden Partei, Gregor Gysi, einen großen Besen überreicht. PDS stand für »Partei des Demokratischen Sozialismus« und wurde bald der einzige Name der gewandelten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Der Besen sollte die Absicht illustrieren, erst einmal gründlich sauberzumachen. Der seit knapp einem Monat regierende neue Ministerpräsident, Hans Modrow, hatte gefordert: »… lasst diese Partei nicht zerbrechen, nicht untergehen, sondern macht sie sauber und stark!« Auf dem Parteitag meinten viele, das ginge nur mit einer neuen Partei.

    Auch das Symbol des Besens war nicht besonders klug gewählt. Der amerikanische Kommunistenjäger McCarthy nutzte es schon in den 1950er Jahren, und DDR-Dissident Wolf Biermann wies Anfang der 1960er Jahre nicht ohne Grund auf dessen Missbrauch hin: »So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen / Dass rot verschrammt der Hintern ist / Der vorher braun gewesen.«

    Statt Neuanfang gab es nun also nur eine Umwandlung der Partei. Den Grund dafür erklärte der gerade gewählte Vorsitzende Gregor Gysi in seiner Antrittsrede: »Die Auflösung der Partei und ihre Neugründung wäre meines Erachtens eine Katastrophe für die Partei … Das Eigentum der Partei wäre zunächst herrenlos, anschließend würden sich sicherlich mehrere Parteien gründen, die in einen juristischen Streit um die Rechtsnachfolge träten … Kurzum: Ich verstehe sehr gut, wie es zu solch einer Idee kommen kann, aber bei Abwägung aller Folgen wäre eine solche Entscheidung in hohem Maße verantwortungslos.«

    Das überraschte manche. Eigentlich sollte es beim Parteitag um eine neue Politik gehen. Ans Geld – vom Baren bis zu einem umfänglichen Firmenimperium – dachte bislang niemand. Der neue Chef gab dann auch eine Information darüber, wer eigentlich die Besitzer des riesigen Vermögens waren: »Zum Parteieigentum und zu

    Ostberlin, Außerordentlicher Parteitag der SED im Dezember 1989: Der mit 95 Prozent der Stimmen zum neuen Vorsitzenden der SED gewählte Gregor Gysi bekommt als Zeichen des Umgestaltungswillens der Partei symbolisch einen Besen zum großen »Saubermachen« überreicht. Die Partei benennt sich zunächst in SED-PDS um. (picture alliance / dpa – Bildarchiv / ADN Zentralbild)

    Parteibetrieben ist zu sagen, dass wir auch dies überprüfen. Gehört uns etwas nicht, geben wir es zurück. Ist es aber unser Eigentum, dann gehört es allen Mitgliedern der Partei, und wir haben kein Recht, das Eigentum daran aufzugeben, wohl aber die Pflicht, eine sinnvolle Nutzung zu sichern.«

    Dass der Schatz der Arbeiterklasse den noch verbliebenen Genossinnen und Genossen gehörte, unterstrich Gregor Gysi erneut auf der Tagung des Parteivorstands am 6. Januar 1990: »Niemand von uns hat aber zu sich selbst eine so anmaßende Grundeinstellung, dass er sich legitimiert fühlt, über das Eigentum von etwa 1,5 Millionen Mitgliedern selbstherrlich durch Verzicht zu entscheiden.«

    Wie groß dieses Eigentum war, wusste kein Mensch. Bereits am 3. Dezember 1989 hatten Hunderttausende mit einer Menschenkette auf den vier Fernverkehrsstraßen der DDR unter anderem auch das Offenlegen der Parteifinanzen und des Vermögens der SED gefordert.

    Wenig später war Bewegung in die Sache gekommen. Am 5. Januar 1990 berichtete die Berliner Zeitung unter Berufung auf den Pressesprecher der SED-PDS über ein Treffen des Parteivorstands mit den Chefs der parteieigenen Betriebe: »Im Ergebnis der Diskussion sei Übereinstimmung festgestellt worden, dass rechtmäßiges Parteieigentum als solches anerkannt bleiben müsse … Die SED-PDS, so ihr Pressesprecher, haftet mit ihrem gemeinsamen Eigentum und Vermögen für die soziale Sicherheit in den Parteibetrieben. Er verwies darauf, dass auf dem kommenden Parteitag, wie angekündigt, Rechenschaft über die bisherige Verwendung von finanziellen Mitteln gelegt und Pläne zur künftigen Verwendung zur Diskussion gestellt werden.«

    Am 5. Februar 1990 berichtete das einstige Organ des Zentralkomitees der SED, Neues Deutschland, erstmals in seiner Geschichte über die »Finanzrechnung 1989 der SED«. Sie war in »Mark der DDR« und »Valuta« unterteilt. Konkrete Einnahmen wies sie nur bei DDR-Mark aus. Danach zahlten die SED-Mitglieder 710,4

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