Der Fall der Mauer: Fünf Monate, die die Welt bewegten
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Über dieses E-Book
Die Autoren: Stefen Locke, Rainer Blasius, Günther Nonnenmacher, Berthold Kohler, Frank Pergande u.a.
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Der Fall der Mauer - Frankfurter Allgemeine Archiv
Der Fall der Mauer
Fünf Monate, die die Welt bewegten
F.A.Z.-eBook 35
Frankfurter Allgemeine Archiv
Herausgeber: Dr. Jasper von Altenbockum
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
Key Account Management Archivpublikationen:
Christine Pfeiffer-Piechotta c.pfeiffer-piechotta@faz.de
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2014 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelfoto: Barbara Klemm
ISBN: 978-3-89843-380-8
Vorwort
Auferstanden aus Ruinen
Die Mauer war eine Bankrotterklärung. Ihre Reste künden vom Triumph der Freiheit.
Von Berthold Kohler
Seit den Römern hatte auf diesem Kontinent niemand mehr eine Mauer von solcher Länge gebaut, nicht einmal Hitler. Der »Arbeiter-und-Bauern-Staat« aber richtete sie auf, zwei Monate nur nachdem Ulbricht die Absicht dazu noch bestritten hatte. Der »antifaschistische Schutzwall«, wie er später getauft wurde, sollte der Ost-Berliner Propaganda zufolge die friedliebende DDR vor den Horden des Revanchismus und Imperialismus aus dem Westen schützen, so wie früher der Limes das Römische Reich vor den Barbaren des Nordens. Jeder, der das Sperrwerk in Augenschein nehmen konnte, wusste jedoch, dass es gegen eine Bedrohung von innen gerichtet war. Zweck dieses wahrhaft eisernen Vorhangs war es nicht, die Panzer der Nato aufzuhalten, sondern Flüchtlinge aus der DDR, auch um den Preis ihres Lebens: »Grenzverletzer«, die die »Diktatur des Proletariats« im real existierenden Sozialismus nicht mehr ertrugen. In keinem anderen Bauwerk der DDR spiegelten sich ihre Lebenslügen so offen und brutal wider wie an dem Gefängniszaun an ihrer Westgrenze.
Mit dem Bau der Mauer leistete die Einparteiendiktatur der SED schon zwölf Jahre nach Gründung der DDR ihren Offenbarungseid. Segment für Segment, Wachturm für Wachturm setzten die ostdeutschen Kommunisten sich selbst ein 1378 Kilometer langes Monument des moralischen, politischen und ökonomischen Bankrotts. Sie mussten einen Todesstreifen von der Ostsee bis zum Vogtland ziehen, um ihre Bürger daran zu hindern, aus einem Staat zu fliehen, der angeblich schon das Vorzimmer zum kommunistischen Paradies darstellte. Weil dem Sozialismus mit deutschem Antlitz die Menschen in Scharen davonliefen, blieb ihm keine andere Wahl, als sich selbst als das zu entlarven, was er wirklich war: ein Volksgefängnis. Die Palisade aus Beton und Stahl, die das Regime errichtete, konnte zwar nicht den Traum von der Freiheit aufhalten, aber doch jene, die ihn träumten.
Weg damit! Jubelnde Westberliner beobachten, wie Lücken in die Mauer gerissen werden. F.A.Z.-Foto: Barbara Klemm.
Die Ulbricht-Honecker-Linie war noch aus dem Weltall zu erkennen. Doch in der Bundesrepublik gab es nicht wenige, die dieses Symbol des Scheiterns und der Perversion einer politischen Idee geflissentlich übersahen. Das lag auch daran, dass im Westen bis in die Volkspartei SPD hinein viele noch vom Sozialismus als Gegenentwurf zur eigenen »kapitalistischen« Gesellschaftsordnung schwärmten, der in der DDR höchstens hier und da ein wenig aus dem Ruder gelaufen sei, in den Minenfeldern an der Grenze zum Beispiel. Unter Ostalgie litt der Westen lange vor dem Osten. Auch in der »BRD« lernte man mit der Monstrosität der Mauer zu leben. Am Schluss war man schon zufrieden damit, dass die SED die Selbstschussanlagen wieder abbaute. Diese Verstümmlungs- und Tötungsautomaten gingen selbst deutschen Pazifisten zu weit, die im Zweifel zwar lieber rot sein wollten, aber eben auch nicht tot.
So fiel die Mauer zur Überraschung des Westens. Was hätte man vorher auch tun sollen? Den Friedhofsfrieden gefährden? Die Bundesrepublik und ihre Verbündeten hatten sich mit der Spaltung Deutschlands und Europas arrangiert, manche mehr als das. Nicht selten war hierzulande die Meinung zu hören, Teilung und Mauer seien die gerechte Strafe für den Krieg. Ausnahme waren dagegen Schilder, die noch gesamtdeutsch denkende, also verdächtige Gestalten an der oberfränkischen »Grenze« zur DDR aufgestellt hatten: dass man sich hier, am angeblichen Ende der westlichen Welt, nicht am Rande Deutschlands befinde, sondern in seiner Mitte.
Das alles ist seit mehr als zwanzig Jahren Vergangenheit. Die Mauer verschwand bis auf wenige Reste. Niemand war wild darauf, das Monstrum, das nach Honecker noch in hundert Jahren, 2089, stehen sollte, vor Abriss und Verfall zu schützen. Die Mauer war nicht nur ein Schandmal für jene, die sie errichtet hatten, sondern auch eine unangenehme Erinnerung für diejenigen im Westen, die es in ihrem Schatten politisch ganz gut ausgehalten haben.
Auch ihre Nachfolgerin, die »Mauer in den Köpfen«, ist kaum noch zu erkennen, jedenfalls nicht bei den jungen Deutschen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden. Für die Generation Facebook spielt es so gut wie keine Rolle, ob einer aus Leipzig oder aus Lübeck kommt. Die »innere« Einheit ist für sie kein Thema mehr. Leider gilt das aber auch oft für Schießbefehl und Mauertote. Hitler lässt in den Lehrplänen nach wie vor nicht viel Platz für Honecker. Auch die Linkspartei, die es am besten wissen müsste, singt gern das Lied, dass der Nationalsozialismus an allem schuld gewesen sei, bis hin zur Mauer. Noch immer verklären ehemalige Diener des Regimes den Stasi-Staat, der sich einmauerte.
Doch endete die deutsche Unterdrückungsgeschichte nicht 1945. Das, was von der Mauer geblieben ist, kündet von vier Jahrzehnten weiterer Diktatur, aber auch von ihrem Untergang in einer friedlichen Revolution. Die erhaltenen Mauersegmente in Berlin und die Überreste, die entlang der ehemaligen Zonengrenze nun auch noch den Kampf gegen die Natur verlieren, gehören zu den schrecklichsten und zugleich zu den stolzesten Zeugnissen deutscher Geschichte. Auferstanden aus diesen Ruinen ist die Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.08.2011
1989 – Der Weg zum Fall der Mauer
Schauplatz Sopron: Es war ein heißer Sommer
Am 19. August vor 25 Jahren fand bei Sopron das Paneuropäische Picknick statt. Ungarn öffnete damals seine Grenze zu Österreich, anschließend gab es kein Halten mehr für die DDR-Bürger. Der erste Stein aus der Berliner Mauer war damit herausgebrochen.
Von Stefan Locke
Beinahe andächtig stehen Anja und Axel Hering im Juli vor der Zugliget-Kirche im 12. Bezirk, einem Villenviertel Budapests. Sie machen Urlaub am Balaton und sind für einen Tag in die ungarische Hauptstadt gekommen. Axel Hering hat diesen Besuch lange geplant, er hat Dokumente und Zeitungsausschnitte mitgebracht, aber jetzt sind die Erinnerungen sofort wieder da: Dort standen die Zelte, hier die Rezeption, von da drüben guckte die Stasi. Zum ersten Mal sind beide zurück an dem Ort, an dem im Sommer vor 25 Jahren der Westen zum Greifen nah war.
Die großen Ferien in der DDR haben 1989 am 1. Juli, einem Samstag, begonnen. Es ist ein heißer Sommer; in den acht schulfreien Wochen brechen wieder Zehntausende DDR-Bürger auch nach Ungarn auf. Die meisten zuckeln in Trabant und Lada über Land oder fahren mit dem Zug, um für zwei, drei Wochen südliche Wärme und ein wenig westliches Flair zu genießen. In Ungarn aber gibt es diesmal nicht nur Pfirsiche, Melonen und Pepsi-Cola, sondern auch Gerüchte über Fluchtmöglichkeiten nach Österreich.
Dass Ungarn seine Sperranlagen abbaut, hatten viele DDR-Bürger im Frühjahr 1989 staunend im Westfernsehen gesehen. Der Zaun war marode, die Erneuerung zu teuer, also demontierten Soldaten mit Bolzenschneidern Stachel- und Signaldrähte. Am 27. Juni nehmen auch die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, das Gerät zur Hand und durchschneiden bei Siegendorf zwischen Eisenstadt (Österreich) und Sopron (Ungarn) fröhlich den Zaun. Die Bilder gehen um die Welt. In der DDR beantragen nun noch mehr Leute Visa für Ungarn.
Die Öffnung des Zauns an dieser Stelle ist jedoch nur symbolisch. Tatsächlich hat Ungarn mit dem Abbau der knapp 300 Kilometer langen Sperranlagen zuerst im Süden, an der Grenze zu Jugoslawien, begonnen. Im Nordwesten stehen sie nach wie vor. Auch deshalb wundert sich Stefan Biricz, als sich am 9. Juli drei DDR-Bürger am Gendarmerieposten im österreichischen St. Margarethen melden und berichten, aus Ungarn geflohen zu sein, und um Asyl bitten. »Das waren die Allerersten«, sagt Biricz, damals Bezirksgendarmerie-Kommandant für den Bereich Eisenstadt und zuständig für das »Flüchtlingswesen«.
Biricz läuft gelegentlich Patrouille an der Grenze; Flüchtlinge aber wurden hier zum letzten Mal 1956 gesehen, als sich 200 000 meist deutschsprachige Ungarn während des Aufstands in ihrem Land in den Westen absetzten. Dass sich in Ungarn etwas verändert, weiß Biricz. Welche Folgen das für den Ostblock und insbesondere die DDR haben wird, ahnt er erst, als im Juli 1989 täglich DDR-Bürger vor seinem Posten stehen: am 11. Juli ein Ehepaar mit Kind, am 12. Juli ein Mann, zwei Frauen, ein Kind, am 13. Juli zwei Männer und zwei Frauen, am 19. Juli ein Ehepaar mit zwei Kindern. Sie alle sind durch den Stacheldraht gekrochen, über Wiesen und durch Wald nach Österreich gerannt.
Die meisten von ihnen landen in Mörbisch, einer Gemeinde auf halbem Berg direkt an der Grenze. Unterhalb liegt der Neusiedler See, oberhalb wächst Wein in bester Südlage. Stefan Biricz hat alle Flucht- und Vorfälle des Sommers 1989 säuberlich notiert. Einige der Flüchtlinge werden von Verwandten aus Westdeutschland abgeholt, die anderen lässt er nach Aufnahme der Personalien mit Taxis oder Kleinbussen nach Wien zur westdeutschen Botschaft fahren, von wo sie in die Bundesrepublik weiterreisen; je Transfer zahlt die Botschaft 2000 Schilling in bar.
Zur gleichen Zeit hat Barbara Balázs im Budapester Konsulat der Botschaft der Bundesrepublik in der Nogradi-Straße 8 im 12. Bezirk alle Hände voll zu tun. Sie stammt selbst aus Sachsen, ist 1988 zu ihrem ungarischen Mann gezogen und hat in der Botschaft einen Job bekommen. Balázs bearbeitet Visa-Anträge ungarischer Bürger, die Urlaub in Deutschland machen wollen. Im Juli sind es bis zu 3000 Anträge am Tag; viele Ungarn kampieren vor dem kleinen Gebäude, um morgens die Ersten zu sein.
Unter sie mischen sich nun immer mehr DDR-Bürger, die ausreisen wollen, bald ist die Straße vor dem Konsulat dicht. »Wenn ich morgens zur Arbeit kam, sah ich, wie sich Leute in den umliegenden Vorgärten die Zähne putzten«, berichtet Balázs. Das kleine Konsulat kann den Ansturm nicht mehr bewältigen und wird für Besucher geschlossen. Für die Residenz des DDR-Botschafters, die um die Ecke liegt, interessiert sich kein Mensch. Im Gegenteil: Nun melden sich täglich DDR-Bürger im Hauptgebäude der bundesdeutschen Botschaft, das zwanzig Autominuten entfernt im Stadtteil Pest am anderen Donauufer liegt.
Vor dem Eingang stehen ungarische Polizisten, die Anweisung haben, DDR-Bürger wegzuschicken. Die Pförtner aber lassen jeden herein. Drinnen wird es eng; die Diplomaten räumen ihre Büros im hinteren Teil des Hauses, Feldbetten werden aufgestellt, im Garten Zelte. »Wir haben diesen Teil der Botschaft komplett den Flüchtlingen übergeben«, erzählt Zoltan Sipos. Er ist Fahrer und hat im Sommer 1989 lange Einkaufslisten abzuarbeiten. Anfang August kampieren 170 Fluchtwillige im Botschaftsgelände. Es fehlt an Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung, aber es gibt keine Supermärkte. »Ich bin den ganzen Tag durch die Stadt gefahren, um das Nötigste zu besorgen«, sagt Sipos. Doch die Solidarität ist groß: Budapester Bürger bringen Obst und Gemüse vorbei, werfen nachts Geldspenden durch den Zaun und nehmen Flüchtlinge bei sich auf.
In Leipzig erfahren Axel Hering und seine Freundin Anja über ARD und ZDF von den Vorgängen in Ungarn. Beide haben im Juni ihre Lehre abgeschlossen, er als Schlosser, sie als Finanzkauffrau. Sie sind 18 und 19 Jahre alt und haben längst vor, abzuhauen. Im September wollen sie noch heiraten, dann die Hochzeitsreise nach Rumänien zur Flucht nutzen; die Visa für Ungarn und Rumänien sind schon da. Beide fürchten, dass sich die DDR bald