Volkes Stimme: Direkte und repräsentative Demokratie
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Buchvorschau
Volkes Stimme - Frankfurter Allgemeine Archiv
Volkes Stimme: Direkte und
repräsentative Demokratie
Herausgegeben von Daniel Deckers
F.A.Z.-eBook 3
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung Hans Peter Trötscher
eBook-Produktion Rombach Druck- und Verlagshaus
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2012 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelbild: Hans Peter Trötscher. Grafik: Fotolia / rare.
Karikaturen: Greser & Lenz
ISBN: 978-3-89843-164-4
I.
Vorwort
Die Zukunft beginnt jeden Augenblick
An Heiligabend des Jahres 1945 erschien in Freiburg im Breisgau das erste Heft der Zeitschrift »Die Gegenwart«. Die Gründungsherausgeber, allesamt ehemalige Redakteure der 1943 verbotenen »Frankfurter Zeitung«, versprachen ihren Lesern, »das wahrhaftige Bild eines Zeitabschnitts erscheinen lassen, der immer zu den schmerzlichsten unseres Landes gezählt werden wird«. Unumstritten war dieses Projekt nicht. Es sei ihnen die Frage entgegengeklungen, ob es für eine vorwärtsweisende Bestandsaufnahme des Zusammenbruchs nicht zu früh sei, heißt es in den ersten Zeilen, die schon bald in einen Bericht über »Nürnberg« übergingen. Als Antwort riefen die Herren um Bernhard Guttmann, Robert Haerdter und Benno Reifenberg eine alte Weisheit in Erinnerung: »Die Zukunft beginnt jeden Augenblick – l’avenir commence à l’instant.«
Der Heiligabend 1945 ist längst Geschichte. Aber auch im Frühjahr 2012 beginnt die Zukunft noch immer in jedem Augenblick, auch für die Politische Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die seit 1958 die Zeitschrift als Ressort »Die Gegenwart« weiterführt. Wie die Betrachtungen und Analysen der Zeitschrift, so wollen auch Essays und Aufsätze, die in der Tageszeitung erscheinen, das wahrhaftige Bild eines Zeitabschnitts sein.
Mit diesem e-book betritt »Die Gegenwart« daher nur der Form, aber nicht dem Inhalt nach Neuland. Es macht Beiträge aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in elektronischer Form zugänglich, die sich mit einem Krisenphänomen der Demokratie beschäftigen: Der Frage nach Grund und Grenzen der repräsentativen Demokratie. Den Anlass zu dieser keineswegs neuen Frage gaben die Proteste gegen die Umgestaltung des Stuttgarter Hauptbahnhofs (»S 21«).
An die Stuttgarter »Wutbürger« und ihre Motive erinnert der erste Beitrag, der aus der Feder des ehemaligen Chefredakteurs der Stuttgarter Zeitung Thomas Löffelholz stammt. Über die Schweiz, das Mutter- und vermeintliche Musterland direktdemokratischer Verfahren, berichtet aus Zürich der FAZ-Korrespondent Jürgen Dunsch. Der Leiter des Ressorts »Innenpolitik«, Jasper von Altenbockum, hat sich auf die Spur der Veränderungen der Demokratie durch die Digitalisierung der Lebenswelt gemacht. Zum Abschluss des ersten Teils wägt Norbert Lammert (CDU), der Präsident des Deutschen Bundestags, im Gespräch mit FAZ-Herausgeber Günter Nonnenmacher neben vielem anderen die Gefahr einer Entparlamentarisierung der repräsentativen Demokratie.
Zum Auftakt des zweiten, eher analytischen Teils besteht der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler darauf, dass politisches Handeln auch im postideologischen Zeitalter der Einbettung in große Erzählungen bedarf. Diese müssen die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden können. Den Mainzer Juristen Uwe Volkmann, der sich als Rechtsphilosoph einen Namen gemacht hat, treibt die Sorge um, dass die Bürger sich von den öffentlichen Angelegenheiten abwenden könnten und nur noch fragten, was für sie persönlich herausspringt: Politik als Veranstaltung für Schnäppchenjäger? Nicht, wenn die Bürger gewiss sind, dass sie am demokratischen Leben hinreichend beteiligt seien und dass die Entscheidungen, die getroffen werden, gut und gerecht sind, schreibt der in Dresden lehrende Politikwissenschaftler Hans Vorländer. Doch: »Daran fehlt es zurzeit.« Nicht aber fehlt es den Deutschen an ihrer Seele, wie Bundesverfassungsrichter Huber im Gespräch mit Reinhard Müller, dem Ressortleiter »Zeitgeschehen«, feststellt – was die Politik nicht leichter macht, hat sie es doch mit einem Souverän zu tun, der grüblerischer ist, dazu mit einem Hang zum Grundsätzlichen ausgestattet und manchmal auch mit einer gewissen Neigung zur Rechthaberei.
Im Fall von »Stuttgart 21« Recht behalten hat indes die repräsentative Demokratie, meint Günter Nonnenmacher zum Auftakt des dritten und letzten Teils, der dem Ausblick gewidmet ist. Der Dresdner Politikwissenschaftler Günter Patzelt bricht eine Lanze für die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Elemente. Doch Vorsicht! Nicht jede Form der Bürgerbeteiligung macht eine gute und stabile Demokratie besser und stabiler. Volksentscheide, so meint auch der emeritierte Präsident der Frankfurter Goethe-Universität Rudolf Steinberg, seien der Komplexität großer Infrastrukturprojekte wohl kaum angemessen. Wer Bürger an der Planung und der Entscheidung beteiligen möchte, sollte erst daran denken, bestehende Möglichkeiten besser zu nutzen. Für stärkere Beteiligung plädiert auch der vormalige hessische Wirtschaftsminister Dieter Posch (FDP) – aber nicht nur der Bürger, sondern auch der Parlamente.
Daniel Deckers, verantwortlicher Redakteur für »Die Gegenwart«
II.
Was war?
Die wegdemonstrierte Zukunft
Sollen »Parkschützer« im Schlossgarten, Rentner vom Killesberg oder Lehrer aus Vaihingen über ein Projekt wie »Stuttgart 21« entscheiden? Hätten immer und überall die Anlieger und Betroffenen das letzte Wort, würde im Lande nichts mehr geschehen. Eine hysterische Diskussion wird besichtigt.
Von Dr. Thomas Löffelholz
Beginnen wir mit dem Wichtigsten an »Stuttgart 21«, wenn man die Gegner hört: nein, nicht mit dem Juchtenkäfer, sondern mit dem Geld! Mit den Milliarden, die da hinausgeschmissen oder genauer gesagt in der schwäbischen Erde verbuddelt werden sollen. Fünf, neun oder fast achtzehn Milliarden – wer weiß? Der Autor weiß es nicht. Ihm geht es, wie es, vorsichtig geschätzt, 99,99 Prozent der Bürger geht, die am Stuttgarter Hauptbahnhof demonstrieren. Auch sie wissen es nicht. Alles andere wäre gelogen. Es wird zehn Jahre lang gebaut – in nicht nur geologisch, sondern auch ökonomisch schwierigem Terrain. Vieles ist unsicher. Und die Kalkulation solcher Mammutprojekte ist für den normalen Bürger ohnehin kaum nachzuvollziehen.
Interessanter ist es, andersherum zu fragen: Warum regen sich die Bewohner vom Killesberg, der Weinsteige und aus Botnang über die Kosten dieses Milliardenprojektes so maßlos auf? Als Stuttgarter könnten sie, leicht zynisch, sagen: Je teurer, desto besser! Denn die Stadt Stuttgart zahlt für »Stuttgart 21« eher überschaubare Summen. Dafür aber fließen Milliarden aus den Kassen von Bahn, Bund und Land in die schwäbische Metropole und die Region. Von einem solchen Geschäft kann eine Stadt nur träumen. Es schafft Umsatz, Tausende neuer Arbeitsplätze, Steuern, nicht irgendwo, sondern in Stuttgart! Was will ein verantwortungsbewusster Stuttgarter mehr? Früher sagten die Schwaben in solchen Fällen bescheiden: »Ich bin so frei!«, und nahmen das Geld.
Heute sagen die Demonstranten: Egal! Was zu teuer ist, ist zu teuer, gleichgültig wer zahlt. Wirklich? Zum Schwaben gehört auch die Ehrlichkeit. Dass jene 50 000 in Stuttgart über Wochen hin auf die Straße gehen, um den Bahnchef Grube, den Finanzminister Schäuble und dessen Kollegen Stächele aus Baden-Württemberg sowie die Steuerzahler beispielsweise in Hamburg oder Bremen vor höheren Kosten zu bewahren, kann auch der lauteste Demonstrant einen ernsthaften Bürger nicht glauben machen. So nahe geht in der ganzen Republik herausgeworfene Staatsknete niemandem.
Noch nicht einmal, als man den Bankenrettungsschirm aufspannte oder den Griechenland-Kredit bewilligte, ist irgendjemand durch die Straßen marschiert. Da standen ganz andere Summen auf dem Spiel. Dass man um der Milliarden willen rebelliert, ist zu nett, um wahr zu sein. Denn die Milliarden zahlen eben zum geringsten Teil die Demonstranten. Es zahlen Bahn, Bund und Land. Und deshalb sollte man auch bedenken, dass sie die finanziellen Risiken weit besser beurteilen können als der wütende Bürger vom Kräherwald. Denn sie müssten – im Falle des Falles – finanziell dafür geradestehen.
Die gleiche Überlegung gilt auch für viele andere Sorgen, die sich die Demonstranten machen: Die Tunnel seien für den ICE zu eng, die Motoren zu schwach, um Züge auf die Alb zu schleppen, die Lößschichten würden dem Bau den Garaus machen. Unendliche Bedenken. Doch wer glaubt ernsthaft, dass der rebellierende Rentner vom Killesberg oder der Lehrer aus Vaihingen oder die Schüler im Schlossgarten hierzu wirklich