Denken 3.0: Von der künstlichen Intelligenz zum digitalen Denken
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Über dieses E-Book
Berichten über die Künstliche-Intelligenz-Forschung und Speicherchips mit kognitiven Fähigkeiten folgen im Kapitel "Das digitale Gedächtnis" Beiträge über Digitalisierung, Daten- und Wissensspeicherung, Gedächtnis und Vergessen. Der nächste Abschnitt widmet sich sozialen Netzwerken und der Frage, wie sie unser Leben und Kommunikationsverhalten beeinflussen. Das Kapitel über das virtuelle Leben behandelt die Fragen: Sind Jugendliche besonders gefährdet, sich mit der virtuellen Welt zu identifizieren und eine Internetsucht zu entwickeln? Oder sind Internet und Multimedia-Anwendungen vielleicht sogar nützlich für unser Gehirn? Das letzte und entscheidende Kapitel diskutiert schließlich die Bereicherung und Bedrohung des menschlichen Gehirns durch das Internet und die Auswirkungen der digitalen Revolution auf unser Denken. Eine Autorenliste, Buchempfehlungen und Internetlinks zum Thema schließen das eBook.
Unter den Autoren dieses eBooks sind F.A.Z.-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, der amerikanische Computerwissenschaftler David Gelernter, der amerikanische Publizist Stephen Baker, der Psychologieprofessor und Leiter der Psychiatrischen Uniklinik in Ulm, Manfred Spitzer, der Professor für Medizinische Psychologie Ernst Pöppel, der Neurobiologe Martin Korte, der Philosophie-Professor Dr. Jürgen Mittelstraß und viele andere.
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Buchvorschau
Denken 3.0 - Frankfurter Allgemeine Archiv
Denken 3.0
Von der künstlichen Intelligenz zum digitalen Denken
Herausgegeben von Frank Schirrmacher
F.A.Z.-eBook 23
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher, Birgitta Fella
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2013 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher.
Titelbild: © Vasabii / Fotolia; Sashkinw /istockphoto
ISBN: 978-3-89843-260-3
Einführung
Die Revolution der Zeit
Es ist, als kämen Buchdruck, mechanische Uhr und Kalenderreform in ein und demselben Moment. In der total vernetzten und digitalisierten Welt gibt es kein Jetzt mehr – und jeder Mensch muss sich in allen Zeitzonen zugleich zurechtfinden.
Von Frank Schirrmacher
Rätselhaftes »Ja« der Bundeskanzlerin. Man hätte es nicht entschlüsseln können, wenn nicht soeben amerikanische Wissenschaftler die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht hätten, die die Auswirkungen von Google auf das menschliche Gedächtnis belegen. Sie sind beträchtlich. Das Papier, das in der Zeitschrift »Science« veröffentlicht wurde, bestätigt andere Forschungen, die belegen, dass die Menschheit damit begonnen hat, ihr Gedächtnis nach außen zu verlagern, und dafür den Preis der Vergesslichkeit zahlt.
Nüchtern und nicht pessimistisch beschreiben die Autoren dieses Phänomen: die digitale Demenz. Wir vergessen Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie online finden können; und wir behalten solche, die wir nicht im Netz sammeln können. Es ist eine symbiotische und höchst ökonomische Operation. Unsere Spezies wird künftig eben das Internet brauchen, um sich erinnern zu können. Das haben übrigens auch schon frühere Studien gezeigt. Neu in seiner wissenschaftlichen und gar nicht mehr infrage zu stellenden Sachlichkeit ist die Schlussfolgerung der Autoren: »Die Erfahrung, unseren Internetzugang zu verlieren, wird mehr und mehr zur Erfahrung, einen Freund zu verlieren.«
Darum dieses rätselhafte »Ja«. Vor kurzem wurde Angela Merkel im ersten Stock eines schmucken Gründerzeitkastens irgendwo in Berlin von einem Journalisten gefragt, ob sie, als Handelnde, nicht auch unter dem Druck moderner Echtzeitkommunikation leide. Ja, sagte sie. Und dann fügte sie hinzu: Sie habe sich schon bei Dirk Kurbjuweit darüber beschwert, dass »Spiegel Online« ab 19 Uhr seine Inhalte so selten aktualisiere.
Das war es nicht, was der Journalist zu hören hoffte. Und vielleicht auch nicht Dirk Kurbjuweit. Denn der ist als Chef des Berliner »Spiegel«-Büros für Print zuständig, nicht für online. »Ja«, sagte sie – und dann das Gegenteil von dem, was man erwartet hätte. So ist es mit der Ambivalenz von Freunden, die einen manchmal nerven, einem die Zeit stehlen und die man trotzdem vermisst. Ohne die man sogar nicht mehr leben kann, so die Wissenschaftler der »Science«-Studie.
Jeder der Teilnehmer dieser Berliner Runde verfügte über eine Erweiterung seines Körpers: Jeder hatte ein iPhone in der Tasche, einer war auf Facebook, einer twitterte die Regierungspolitik, und irgendwann rief einer, nach kurzem Check auf dem Handy: »Eben wird gemeldet . . .« Das war der Zeitungsmann, der vorher von den Qualen der Echtzeitkommunikation geredet hatte. Nichts stimmte hier. Das Gespräch fand statt im ersten Stock des Turms von Babel.
Jeder baut fleißig mit an seinem Turm. Jeder lebt in diesem Widerspruch. Dass er immer weniger von dem versteht, was der Neben-Bauarbeiter plant, ausführt und hochzieht, ist längst signifikant. Man lese nur die sich oft in nichts mehr aufeinander oder gar auf den Leittext beziehenden Kommentare unter Blogs oder Artikeln. Man schaue auf die von der modernen Nachrichtenökonomie sichtbar gewordenen Kommunikationskrisen der europäischen Politik. Je unverbindlicher die Kommunikationsliturgien der Vergangenheit – von der »Tagesschau« bis zur Boulevard-Schlagzeile –, desto stärker keimt eine Hoffnung, die nicht nur religiös wirkt, sondern sich auch religiöser Metaphern bedient: Verleger warten auf den großen Architekten, der dem Bau irgendwann Sinn und Funktion gibt, Blogger und die digitale Avantgarde auf den großen Programmierer, der durch Vernetzung Sinn aus dem Zufälligen schafft, und Social-Media-Gläubige, zusammen mit der Werbeindustrie, warten auf den großen Psychologen, der das Unterbewusste des Netzes ummünzt in Erkenntnis oder Konsum.
Weißt du noch?
Vielleicht ist es an der Zeit, die Debatte der digitalen Bauarbeiter über das, was das Netz aus unserer Gesellschaft, aus den Zeitungen, dem Fernsehen, aus der Politik macht, mit ein paar Absperrungen zu versehen. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass niemand, wirklich niemand glaubt, dass das Internet wieder verschwindet oder auch nur verschwinden sollte. Vielleicht kann man diese öde Maschinenstürmer-Debatte beenden, mit der es sich gerade Teile der selbst ernannten digitalen Avantgarde so leicht machen; oder Politiker und neuerdings auch der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung schnellen Applaus bekommen. Niemand wird mit dem digitalen Freund oder der digitalen Freundin namens Internet je brechen, auch wenn eine wachsende Gruppe die Verbindung nur unter Qualen und Fluchen und Zwang herstellt.
Die Forschungsergebnisse der Amerikaner zeigen, dass jetzt eingetreten ist, was schon vor vierzig Jahren Jeremy Rifkin in Anlehnung an die modernen Informationstheorien staunenswert vorausgesagt hat: »In der neuen Computerzeitwelt werden Entwicklung von Information und Entwicklung von Bewusstsein austauschbar und tautologisch.« Wir wissen, was wir jetzt wissen. Es geschieht, was wir jetzt wissen. Vergangenheit entsteht ständig neu und anders. Um Vergangenheit abrufbar zu machen, reichen immer seltener Bildungsinhalte, Feier- und Gedenktage oder ein fiktiver Kanon. Wie die Konsensherstellung bei Freunden mit dem »Weißt du noch?« ist es jetzt der Link, der im sozialen Netzwerk oder in einem Artikel diese spezifische Form von Vergangenheit heraufruft.
Denn das alles hat nichts mehr mit dem Ende der Gutenberg-Galaxie zu tun, mit »Print versus Digital« – und wer einen Großteil der steilen und größtenteils sich stets wiederholenden Thesen über die Zukunft des Journalismus liest, erkennt, dass dies nicht die Manifestation einer Überschätzung oder gar Hysterie ist. Es ist eine Unterschätzung dessen, was sich abspielt. Dazu gehören auch jene Netzintellektuellen, die nichts anderes tun, als die Technologiegeschichte der Vergangenheit in die Zukunft zu verlängern, sich über einfallslose Verleger oder Unternehmer zu mokieren und alte Paradigmen technologischer Revolution nachzuerzählen, von der Dampfmaschine bis zur Eisenbahn, von der Pferdedroschke bis zum Auto. Wo Zeitung war, wird Onlineportal sein, wo Politik war, kommt Partizipation. Kann sein, dass es so einfach war, als das Netz mehrheitlich aus »early adopters« bestand, also im letzten Jahrzehnt.
Heute ist das ungefähr so, als würde man sagen, dass die menschliche Kontrolle über Elektrizität ein Ereignis war, das den Menschen Licht, Kühlschränke und Waschmaschinen gebracht habe.
Warum ist der Anwendungsfall für die Größe der Revolution der Kosmos von Zeitschriften und Zeitungen? Warum redet im Augenblick niemand mehr über »liquid democracy«, warum ändern sich politische Strukturen nicht in der Weise, wie es die Theorie vorhersagte? Warum gibt es keinen nennenswerten Kulturkampf zwischen Amazon und dem deutschen Buchhandel, wohl aber zwischen Zeitungsverlegern (auch dem Verlag dieser Zeitung) und der »Tagesschau«? Gewiss, das ist Gutenberg, aber Gutenberg ist längst der kleine Bruder der großen Veränderung. Die Antwort liegt in den vier Buchstaben, die die Printmedien stolz in ihrem Titel führen: Zeit. Und in dem virtuellen Zifferblatt, das die hier überhaupt nur relevanten Fernsehformate betrifft: »Tagesschau« und »Heute«. Zwei der bislang mächtigsten Organisatoren von Chronologie kämpfen gegeneinander und mit dem Internet; aber in Wahrheit geht es nicht um Apps und auch nicht um Inhalte, sondern um die Definition von Zeit und den Zugang zur Zeit selbst. Das kann man bis in die trivialste Mikroebene hinein verfolgen: Die Absurdität des Dreistufentests, in dessen Konsequenz groteskerweise Bewegtbildinhalte des Fernsehers nur begrenzt gezeigt werden dürfen, ist keine Reglementierung von Inhalten, sondern eine Reglementierung von Zeit. In der Freundschaftsmetapher: Es ist, als würde man einen Freund mit den Worten einladen: »Komm für drei Wochen, aber dann nie wieder!«
Uhrwerk Universum.
Unsere Gesellschaft erlebt zwei technologische Revolutionen in atemberaubender Geschwindigkeit: Es ist, als würden Kalenderreform, Buchdruck und die Uhr, deren Erfindung (was die Räderuhr angeht) faktisch mehr als hundert Jahre auseinanderliegen und die erst im neunzehnten Jahrhundert wirklich zusammenfanden, in der gleichen Minute entwickelt und innerhalb eines einzigen Jahres das vollenden, wozu ihre Vorgängertechnologien Jahrhunderte brauchten. In seinem sehr hellsichtigen, lange vor dem Internet, Ende der achtziger Jahre erschienenen Buch »Uhrwerk Universum« hat Jeremy Rifkin erzählt, wie die ersten Turmuhren nichts anderes waren als soziale Netzwerke. »Sie wurden in der Mitte des Stadtplatzes aufgestellt und ersetzten bald die Kirchenglocken als Treffpunkt und Bezugspunkt für die Koordination der komplexen Interaktionen des Stadtlebens.«
Der Computer reproduziert diese Evolution, so wie er es immer tut: ungefähr tausend Mal schneller als sein Vorgängermodell. Von der Turmuhr über die Standuhr bis zur Taschenuhr vergehen Jahrhunderte; vom begehbaren Computermonstrum der sechziger Jahre, in dessen Zentraleinheit noch der junge Charles Simonyi rumspazierte, über die Rechenzentren, den Desktop, den Laptop und das Handy vergehen weniger als vierzig Jahre.
Das ist aber nur die materielle Ansicht des Sachverhalts. Es ist eines, ob man theoretisch im Physikunterricht lernt, dass die mechanische Zeit nicht alles und Greenwich nur ein Standard und die Raumzeit etwas ganz anderes ist. Solange man zum vierzigjährigen Betriebsjubiläum immer noch eine goldene Taschenuhr geschenkt bekam – ein Ritual, das mit dem Aufkommen der ersten Computer in der Arbeitswelt endet – und die Welt nach ihr tickte, ist die theoretische Erkenntnis ein purer Bildungsinhalt. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn Leben und Arbeitswelt plötzlich im Takt des elektronischen Zeitgebers des Computers pulsieren. Das hat in der Arbeitswelt in einigen Branchen schon in den siebziger Jahren begonnen und wurde unter dem Stichwort »Rationalisierung« in das Kapitel »Arbeitsoptimierung« eingereiht, weil man nicht ahnte, dass das Konzept materieller Zeit im Begriff war, sich auch auf die soziale Zeit zu übertragen.
Erst jetzt sieht man, wie viel mehr es war. Die wegrationalisierten technischen Zeichner oder Setzer und Metteure der achtziger Jahre sind nur eine winzige Avantgarde gewesen. Für viele ist es heute schon selbstverständlich, dass es zwischen der E-Mail während der Arbeitszeit und der nach Feierabend keinen Unterschied gibt. Nicht die Zeit organisiert die Informationen, die Informationen organisieren die Zeit.
Selbst als der Prozess schon in Gang war, hat keiner aus der traditionellen Medien- und Kommunikationsindustrie geahnt, dass wir eine Zeitrevolution erleben werden, die ihm nicht etwa die Herrschaft über die Meinungen, sondern die über die Zeit entreißen würde. Der große Marshall McLuhan hat dies – lange vor den Veränderungen – folgendermaßen erklärt: »Wenn der Zauber eines Spielzeugs oder einer Erweiterung unseres Körpers neu ist, entsteht zuerst eine Narkose oder Betäubung angesichts der neuen Amplifikationen. Die Klagen über Uhren begannen erst, als im neunzehnten Jahrhundert das elektrische Zeitalter zur Unstimmigkeit mit der mechanischen Zeitmessung führte.«
Es spricht einiges dafür, dass künftige private, intellektuelle und soziale Konflikte an dieser neuen Unstimmigkeit von Internet-Zeit und Realzeit ausbrechen werden – die Zeitungen und das Fernsehen sind auch hier nur die Vorreiter. Es ist eine inhaltliche Aussage, wenn die ARD einen Film um 0.30 Uhr ausstrahlt. Für Facebook oder Google und übrigens auch für staatliche Überwachungsorgane ist es eine inhaltliche Aussage, wenn jemand um 0.30 Uhr diesen Film sieht. Oder permanent um vier Uhr morgens kommuniziert.
Vor Sonnenaufgang.
Jeder Mensch wird künftig in seinem persönlichen Leben mindestens so viele verschiedene Zeitzonen haben, wie es sie heute auf dem Erdball gibt. Irgendwo in seinem Leben wird es sechs Stunden früher sein – nämlich dort, wo er die Facebook News der letzten Stunden liest; irgendwo sechs Stunden später, dort, wo er sich mit Googles »predictive search« die Gegenwart berechnen lässt (wie wird das Konzert, wann muss ich losfahren, was will ich suchen?), die zum Zeitpunkt der Suche noch Zukunft ist.
Die Greenwich-Zeit entstand, weil die Eisenbahngesellschaften ihre Fahrpläne aufgrund der Vielzahl von Zeitzonen nicht mehr umsetzen konnten. Jetzt erleben wir im Bereich der sozialen Kommunikation die vollständige Revision dieser Normierungen. »Wir suchen«, schreibt McLuhan, »nicht mehr die Wiederholbarkeit, sondern die Mannigfaltigkeit von Rhythmen. Das ist der Unterschied zwischen marschierenden Soldaten und einem Ballett.«
Jetzt, wo öffentlich-rechtliches Fernsehen trotz berechtigter Kritik immer noch eine Errungenschaft unserer Gesellschaft ist und Verlage wie Soldaten aufeinander losmarschieren, ist selbst das Wesen dieses Konflikts fast schon anachronistisch. Man lädt sich ja auch nicht gerne Freunde ein, die sich am festlichen Tisch um das Bier prügeln. Man lädt sie sich ein, weil sie Zeit verändern. Die Überforderung durch digitale Technologien ist im Wesentlichen der Konflikt zwischen verschiedenen, in Konflikt stehenden Zeitebenen.
Das beginnt schon bei den Schulen, die im Wesentlichen die Zeitvorstellung der ersten industriellen Revolution verkörpern. Die Konsequenz daraus ist eben nicht, noch schneller, kürzer, atemloser zu werden. Das führt, das haben die letzten Monate gezeigt, nur zur Erfahrung zyklischer oder verschwendeter Zeit. Was wissen wir über Strauss-Kahn? So viel wie vorher. Wie viel Zeit haben wir verschwendet, weil wir Lügen und Erfindungen lasen?
Es könnte sein, dass Zeitungen und Zeitschriften und die seriösen Nachrichtensendungen eine ganz andere Zukunft haben. Sie wären das letzte verbliebene Kommunikationsmittel, die in einer elektronischen Welt die Zeit biologisch organisieren: gleichsam mit Aufgang und Untergang der Sonne. Oder mit den Mondphasen – wenn es um Wochenpublikationen geht –, die wir uns in den Begriff der »Woche« übersetzt haben. Der Markt für diese Exklusivität von Zeit wird wachsen, nicht schrumpfen, wenn die Zeit der Narkose vorbei ist.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17.7.2011
Künstliche Intelligenz
Statistik siegt über Hermeneutik: Die Vorstellung, Computer müssten dem Geist ähneln, ist obsolet geworden.
Man muss es nicht verstehen, schnell genug sein reicht
Von Manuela Lenzen
Als das Philosophieren noch geholfen hat, erdachte der Philosoph John Searle ein Gedankenexperiment: In einem Zimmer sitzt ein Mensch, der Fragen zu chinesischen Geschichten beantworten soll, ohne Chinesisch zu verstehen. Er bekommt Zeichenrollen hereingereicht und soll anhand von rein formalen Instruktionen die richtigen Zeichen herausreichen.
Das kann nicht gehen, meinte Searle, und ebenso könne kein Computerprogramm menschliche Intelligenz erlangen. Inzwischen hat die Künstliche-Intelligenz-Forschung das Gedankenexperiment durch ein reales ersetzt: die Übersetzungscomputer. Und siehe da, es geht. Zwar nicht perfekt, aber immer besser. Dabei braucht nicht nur der Computer kein Wort von dem zu verstehen, was er übersetzt, nicht einmal die Entwickler der Übersetzungsprogramme benötigen Sprachkenntnisse. Heute stehen so viel Rechenkapazität und so große Datenmengen zur Verfügung, dass Quantität in Qualität umschlägt. Neue Programme übersetzen Wort für Wort und nutzen bei Mehrdeutigkeiten den Kontext, um sich für die beste Variante zu entscheiden. Ein riesiger Korpus von übersetzten Texten mit Milliarden von Wörtern in unterschiedlichsten Zusammenhängen ermöglicht Programmen, ohne jedes Sprachverständnis Begriffe zu vereindeutigen. Statistik ersetzt Sinnverstehen.
Da staunt der Mensch und schaut zu: Roboter nehmen dem Menschen viel Arbeit ab, nach den körperlichen Tätigkeiten könnten Maschinen auch die intellektuellen übernehmen. F.A.Z.-Foto / Daniel Pilar
In der KI-Forschung setzt sich ein neuer Trend durch, meint Frank Puppe von der Universität Würzburg: An die Stelle von »Wissen ist Macht« treten »Daten sind Macht« und »Hardware ist Macht«, statistische Lernverfahren verdrängen das Knowledge Engineering (»Explizites Wissen versus Black-Box-Ansätze in der KI«, in: Künstliche Intelligenz, online first 27. Oktober 2010). Damit kehrt die Forschung sich von der Doppelstrategie ab, durch das Bauen künstlicher intelligenter Systeme zugleich das Funktionieren des menschlichen Geistes besser verstehen zu wollen. Wer eine intelligente Maschine bauen will, muss sich offenbar nicht unbedingt an der menschlichen Intelligenz orientieren.
Forscher haben lange darüber gerätselt, wie sie das in jahrzehntelanger Berufspraxis gesammelte, doch niemals explizit gemachte Wissen, das den menschlichen Experten ausmacht, dem Computer zur Verfügung stellen könnten. Schachweltmeister Michail Botwinnik versuchte gar, einem Schachprogramm ein Gefühl für Positionen und Stellungen zu vermitteln. Heute kommen Schachprogramme ohne solche Anleihen aus. Schachcomputer spielen nicht wie Menschen und trotzdem besser. Sie kämmen in Augenblicken riesige Suchräume durch und generieren ihre Heuristiken selber. Ist der Datenkorpus, auf den ein System zugreifen kann, nur groß genug, kann Statistik an die Stelle des so schwer zu formalisierenden Allgemein- und Hintergrundwissens treten.
»Unmenschlich« nennt Puppe Such- und Planungsverfahren, die auf Techniken beruhen, die zwar in der Logistik, beim Militär oder in der Raumfahrt erfolgreich im Einsatz