Inselwelten: Eng umgrenzt im Grenzenlosen
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Buchvorschau
Inselwelten - Frankfurter Allgemeine Archiv
Inselwelten
Eng umgrenzt im Grenzenlosen
F.A.Z.-eBook 10
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher
eBook-Produktion: Rombach Druck- und Verlagshaus
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2012 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher.
Titelfoto: Die Insel Dokdo © F.A.Z.-Foto / Carsten Germis
ISBN: 978-3-89843-216-0
Vorwort
Von Hans Peter Trötscher
Mit Inseln verbinden wir mitunter eine Art eskapistische Robinson-Romantik, bei einem Inselaufenthalt lassen wir die rasant globalisierte Welt hinter uns. Denn Inseln sind überschaubar, ein eng umgrenzter Raum im umgebenden Grenzenlosen. Entwicklungen auf Inseln verlaufen meist anders als auf dem Festland. Ein großer Teil externer Einflüsse bleibt ausgegrenzt. Inselbewohner wehren sich gerne und häufig erfolgreich gegen Einflussnahme von außen. Das Resultat sind einzigartige Beispiele, die zeigen, wie es auf dem restlichen Globus auch hätte laufen können.
Oft stellt die Außenwelt eine existenzielle Gefahr für das Inselleben dar. Pflanzen und Tiere, die sich mit oder ohne menschliches Zutun auf einer vorher fremden Insel ausbreiten, zerstören die Einzigartigkeit genau so nachhaltig, wie der Mensch selbst. Mitunter wirken Inseln auch wie regelrechte Inkubatoren des Bösen, man denke an insulare Sträflingskolonien oder Zufluchtsorte von Meuterern und Piraten, wie das abgeschiedene Pitcairn, wo sich in der größten Abgeschiedenheit unter den Nachfahren der gestrandeten Bounty-Meuterer unfassbare Verbrechen abspielten, die die Insel noch heute prägen.
Deutschland
Sylt: Die Gedanken sind befreit
Sylt ist trotz Sansibar, Whiskystraße und Friesenkitsch immer eine Insel der Demut gewesen. Das hat sich gründlich geändert. Und doch gibt es noch genügend Platz für alle jene, denen der Wind die beste Wellness ist.
Von Judith Lembke
Nackt und gebrochen ragen die Speichen aus dem Abfalleimer. Von dem schützenden Nylontuch sind nur noch schwarze Fetzen übrig. Doch der Nordwind ist kein großmütiger Sieger: Längst hat der Schirm kapituliert, und trotzdem zerrt der Wind immer weiter an den Stoffresten, die sich hilflos flatternd seiner Macht beugen müssen.
Wir wissen nicht, wer den schwarzen Regenschirm in den Mülleimer an der Hörnumer Hafenmauer gesteckt hat, aber wir ahnen zwei Dinge: Zum einen war der Besitzer mit den Nerven am Ende, als er sich des kaputten Versagers entledigte. Darauf lässt die Mischung aus Kraft und Nachlässigkeit schließen, mit der er den Schirm in den Abfalleimer gestopft hat. Zum anderen muss er ein Neuling auf Sylt gewesen sein. Denn kein Stammgast käme auf die Idee, einen Schirm auf die Insel zu bringen, geschweige denn aufzuspannen, schon gar nicht bei so einem Nordwind.
Sylt-Touristen sind immer für ihre Demut bekannt gewesen, jedenfalls bisher. Groß geworden mit dem Satz, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung gebe, betritt der Gast unserer Erinnerung die Insel in seiner Allwetterjacke und mit der Gewissheit, dass er sie bis zu seiner Abreise nur noch zum Schlafen ausziehen wird. Bis dahin wird sie zu seiner zweiten Haut geworden sein, geduldet auch in den besseren Restaurants, sofern sie von der richtigen Marke ist. Selbst das Kopfhaar passt der demütige Stammgast den meteorologischen Gegebenheiten an: Streng zurückgebunden und mit viel Spray zu einem Pferdeschwanz fixiert, tragen das Haar selbst jene Damen, die es auf der Düsseldorfer Kö oder der Hamburger Waitzstrasse gerne sanft onduliert und hochgeföhnt haben. Die Zeit zwischen An- und Ausziehen seiner Jacke verbringt der wetterfest frisierte Sylt-Tourist auf dem Fahrrad, mit dem er immer gegen den Wind anstrampelt, in der Nordsee, in der achtzehn Grad Wassertemperatur hochsommerlicher Luxus sind, oder er lässt sich beim Wattwandern die Fußsohlen »massieren«. Die demütige Haltung zeigt der Tourist auch gegenüber seinen Gastgebern. Für das Privileg, auf der Insel Urlaub machen zu dürfen, nimmt er in der Hauptsaison winzige Zimmer zu gigantischen Preisen in Kauf. Und dass die Krabbensuppe manchmal eher nach Tüte als nach Nordsee schmeckt, obwohl der Kutter nur ein paar Meter entfernt im Hafen liegt, ist ihm gleichfalls keine Klage wert.
Doch in den vergangenen Jahren ist dieser Stammgast auf der Insel ebenso selten geworden wie die Dreizehenmöwe. Er wurde von einem neuen Touristentypus verdrängt, einem wie unserem Schirmbesitzer. Für ihn ist die Allwetterjacke kein Schicksal. Er bucht sein Hotel je nach Wetterbericht und reserviert das Ferienhaus nicht schon ein Jahr im voraus. Seine Alternativen zu Sylt sind nicht Föhr oder Amrum, sondern Ibiza und Sardinien. Und die veränderten Reisegewohnheiten hinterlassen ihre Spuren auf Sylt. Am deutlichsten sind sie an den Spitzen zu sehen, in List ganz im Norden und vor allem in Hörnum, am südlichen Zipfel der Insel.
Rolf Speth ist der Bürgermeister von Hörnum, eines Ortes, dessen Existenz von den meisten Sylt-Besuchern bis vor wenigen Jahren ignoriert wurde. Für die Porschefahrer und Austernschlürfer aus Kampen oder Keitum begann hinter der »Sansibar« in den Rantumer Dünen das Sylt der weißen VW Passat ohne Extras und der selbstgeschmierten Graubrotstullen. Die Familien aus Westerland oder Wennigstedt wiederum kamen vor allem an die Südspitze, um dort in ein Ausflugsschiff nach Amrum zu steigen. Hörnum war eine Enklave der Demütigen. »Wir hatten Gäste, die zu uns passten: einfache Leute, die keinen großen Luxus brauchten«, sagt Speth und klingt dabei fast ein bisschen wehmütig. Doch seitdem es in Hörnum einen Golfplatz, ein Luxushotel und eine Ferienanlage des Timeshare-Anbieters Hapimag gebe, sehe man hier auch immer mehr »SUVs oder wie diese Dinger heißen«.
Eines sagt der Bürgermeister des Tausend-Einwohner-Ortes allerdings nicht. Urlaub in Hörnum hieß nicht nur Abwesenheit von Luxus, sondern auch Anwesenheit von Tristesse. Seit den sechziger Jahren hatte die Bundeswehr dort einen Stützpunkt, im Ort lebten vor allem Soldatenfamilien. Als das Militär Anfang der neunziger Jahre abzog, verschwanden die Menschen, doch die Kasernen blieben, leere Gebäude, die im Laufe der Jahre immer mehr verkamen. Nicht alle Gäste zeigten sich leidensfähig. Die Besucherzahlen gingen zurück. Im Norden, in List, war die Situation ähnlich. Sylt drohte an den Rändern abzubrechen, noch bevor die Sturmfluten das schaffen würden.
Das wäre ein Jammer gewesen. Wer einmal um die Odde läuft, wird selbst ein bisschen demütig und versteht die Stammgäste, die dem Ort auch in den schwierigen Jahren die Treue hielten. Den linken Fuß im Meer, den rechten Fuß im Sand, umrunden wir die Südspitze der Insel. Grüner Seehafer, heller Sand, blaues Meer, ein Bild für den Seelenfrieden. Auf dem Meer kreisen Möwen um einen Austernkutter, der Wind trägt ihr Kreischen herüber, das einzige Geräusch neben dem Meeresrauschen. Wir sind fast ein bisschen traurig, als unsere kleine Wanderung zu Ende ist. Was vor ein paar Jahren noch fast drei Stunden dauerte, schaffen wir nun in einem Drittel der Zeit. Die Meeresströmung trägt den Sand von der Sylter Südspitze ab. »Hörnum schrumpft, Amrum wächst«, sagen die Einheimischen, und ihr Ton lässt darauf schließen, dass sie mit dem Strömungsverlauf überhaupt nicht einverstanden sind.
Im Hafen lassen wir uns von Krabben-Dieters Werbespruch überzeugen: »Sogar der Bauer auf dem Trekker, isst Dieters Krabben, die sind lecker.« Wir holen uns eine Portion und setzen uns zum Pulen an die Kaimauer. Der süße Duft von Heckenrosen mischt sich mit der Salzluft. Mit seinen Fischkuttern und Bootsschuppen hat der Hörnumer Hafen zum Glück gar nichts mit den Ferienort-Marinas gemein, in denen außer Segelyachten höchstens ein Museumsschiff liegt. Weit und breit sehen wir keine alten Friesenhäuser mit tief heruntergezogenen Reetdächern, keine Friesenwälle, keinen »La Martina«-Shop, keine Champagnerbar. Es macht den Reiz von Hörnum aus, dass Sylt hier nicht so aussieht wie im Fotokalender.
Das war die Chance des Ortes, und sie wurde genutzt. Seit zwei Jahren hat Hörnum einen Golfplatz und ein Fünf-Sterne-Hotel ohne Folklore-Schnickschnack. Während die Luxushotels in der Inselmitte wie das Landhotel Stricker und der Söl‘ringhof wirken, als hätten sie ihren Friesenkragen ein bisschen zu hoch geschlagen, um sich gegen den Nordwind oder vielleicht auch neugierige Blicke zu wappnen, ist das Hotel Budersand offen und seiner Umgebung zugewandt. Die großen, mit Holzlamellen verkleideten Fensterflächen holen viel Licht ins Innere, der quadratische Bau biedert sich der Dünenlandschaft nicht an, und dort, wo früher verlassene Kasernen standen, breitet sich jetzt ein Golfplatz aus. Hier sammelt sich die neue Sylt-Klientel – Menschen, die meist für ein paar Tage kommen und nicht für mehrere Wochen, die immer kurzfristiger buchen und bei der Reservierung nach dem Wetter fragen, die mit dem Flugzeug anreisen und nicht dem Autoreisezug aus Niebüll.
Hier finden wir die demütigen Sylt-Touristen unserer Erinnerung ganz bestimmt nicht. Deswegen fahren wir nach Norden, vorbei an »Sansibar«, auf deren Parkplatz sich eine Dame im Porsche Cayenne lautstark darüber beschwert, dass sie ganz hinten parken und die fünfzig Meter zum Restaurant zu Fuß zurücklegen muss. Nichts wie weiter. Da wir Familien als besonders leidensfähig in Erinnerung haben, halten wir am TUI Dorfhotel in Rantum. Nordseeurlaub war für einige Eltern eine willkommene Abhärtungsmaßnahme. Wie oft hörten wir am Strand von Westerland die Mahnung, sich nicht so anzustellen, wenn Fünfjährige über das sechzehn Grad kalte Wasser jammerten. Doch Kälte lehrt Demut, am Abend waren die Sprösslinge für die heiße Badewanne in der Ferienwohnung dankbar. Ein bisschen nach Zucht und Ordnung sieht auch das Dorfhotel aus, denn es unterscheidet sich im Baustil kaum von der Kaserne nebenan – die Anmutung ist ähnlich praktisch und lieblos, darüber können auch die aufgemalten Büsche an den Häuserwänden nicht hinwegtäuschen. Allerdings muss hier kein Kind zur Abhärtung ins kalte Meer gescheucht werden, stattdessen verspricht das Dorfhotel »Badespaß auf hohem Niveau« im eigenem Hallenbad. Und auch die Eltern müssen sich zur Entspannung nicht mehr die Füße vom Wattboden massieren lassen, sondern können dabei auf einer bequemen Liege Platz nehmen.
Wir entdecken die Demut dort, wo wir es am wenigsten erwartet hätten: in Kampen. Es hat etwas von Selbstunterwerfung, Millionen in ein Haus zu investieren, das sich von den anderen an der Straße höchstens in der Zahl der Fenster unterscheidet. Kein Wunder, dass wir uns in den Wohngebieten von Kampen immer wieder verirren: neben den Straßen rechts und links schmale Grünstreifen, dann Friesenwälle aus runden Findlingen als Grundstücksabgrenzung, dahinter die Häuser mit vielen Gauben und natürlich tief heruntergezogenen Krüppelwalmdächern aus Reet – fertig ist das Modell Friesentraum zum Monte-Carlo-Preis. In der Whiskystraße werfen wir einen Blick in die Auslage eines Maklerbüros. Er hat ein schönes Reetdachhaus am Ortsrand für neun Millionen Euro im Angebot.
Es ist verblüffend, wie viel Platz noch für Demut bleibt zwischen lauter korkenknallenden Autohausbesitzern und den dazugehörenden Gucci-Taschenträgerinnen. Es ist der Weg durch die Dünen zum roten Kliff, Friesenkitsch im Nacken und im Gesicht nur die Abendsonne am fahlen Himmel, der uns milde stimmt. Die Luft schmeckt nach Salz, im Seehafergras umschwirren sich zwei Zitronenfalter. Hier spielt es keine Rolle, welches Auto man fährt oder ob die Schuhe handgenäht sind, denn es läuft ohnehin jeder barfuß. Alle eint der Wunsch, dass diese Dünenlandschaft nie enden möge. Wir wollen immer weiterlaufen, denn mit jedem Schritt bleibt ein Gedanke zurück. Sylt räumt den Kopf auf. Wer diese Wirkung einmal gespürt hat, will immer wieder zurück – egal, zu welchem Preis.
Da unser Wunsch nach Unendlichkeit nicht erfüllt wird, fahren wir weiter nach Norden. Hinter List, am nördlichsten Zipfel der Insel, gibt es Stellen, an die nur Schafe gelangen und Windfreunde. Auf dem Ellenbogen, einer Halbinsel, die schmal und lang in die Nordsee ragt, sind die Straßen für Militärfahrzeuge ausgelegt, nicht für Sportwagen. Viele Jahre war der Norden ähnlich abgehängt wie der Süden, mit seiner sturmumtosten Weite viel schöner als die Inselmitte, aber dominiert vom Militär. Auch nach List kamen viele Touristen nur, um die Insel mit der Autofähre zu verlassen. Wer nach List fuhr, suchte Natur und Ruhe – oder nahm beides wegen der günstigen Preise in Kauf.
Irgendwann kam als weitere Attraktion dann die Fischbraterei Gosch hinzu, die sich zwar »nördlichste Fischbude Deutschlands« nennt, in Wirklichkeit aber die nördlichste Alternative zur Wiesngaudi ist. Im vergangenen Mai hat die Deutsche Seereederei dem Imbissbesitzer Gosch ein riesiges Geschenk gemacht. In Hördistanz zum Möwengeschrei des Lister Hafens hat sie das Arosa Grand Spa Resort eröffnet, hundertsiebenundsiebzig Zimmer und Suiten für Menschen, die im Urlaub nichts falsch machen wollen: ein bisschen Golf für Papa, ein großes Spa für Mama und den Rosinis Kinderclub für die Kleinen, alles genauso wie in den anderen drei Arosa-Resorts, nur dieses Mal mit Nordseepanorama. Und wer einmal keine Lust auf den hauseigenen Italiener oder die Sushi-Bar hat, geht zu Gosch, um dort Thai-Nudeln oder Scholle zu essen, die garantiert genauso schmecken wie in den Gosch-Filialen am Düsseldorfer Rheinufer oder am Frankfurter Flughafen.
Für die Demütigen, die unter Wellness keine Ayurveda-Massage, sondern das Wennigstedter Neujahrsbaden verstehen, ist im neuen List kein Platz mehr. Doch finden sie nirgendwo mehr Asyl auf der Insel, wie Kulturpessimisten seit der Eröffnung des TUI Dorfhotels und des Arosa Resorts lamentieren? Nein. Zwischen den windgeplagten Schirmbesitzern