Lesereise Westirland: Halbzeit auf dem Weg zur Ewigkeit
Von Nicole Quint
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Buchvorschau
Lesereise Westirland - Nicole Quint
IM NORDWESTEN
Liebe auf den ersten Guss
Up here it’s different
Sonntagsgottesdienst oder Montagsbingo – viel mehr bleibt einem nicht, um der Einsamkeit zu entkommen. Ist das nicht großartig? Es gibt viele abgelegene Orte in Irland. Nirgends sonst aber ist der Grad der Verlassenheit höher als im Norden Donegals. Dass Menschen dort eher nicht in Massen anzutreffen sind, hat sich auch unter Meeresbewohnern herumgesprochen. Auf einem Felsen, keine zehn Meter von einem Ufer der Fanad-Halbinsel entfernt, üben einige Robben während ihrer täglichen Yogastunde den halbmondförmigen Sonnengruß. Gebogen wie Croissants liegen sie da, völlig gelassen und blicken nur kurz auf, als das lauter werdende Knirschen der Kiesel unter meinen Schuhen ihnen mein Näherkommen signalisiert. Gleich darauf wieder Entwarnung und die Entspannung geht weiter. Schlechte Erfahrungen scheinen sie mit der Spezies Mensch noch nicht gemacht zu haben. Ich darf in der Nähe bleiben und ihnen durch das Fernglas auf die sonnenbeschienenen Glatzen schauen. Ein wohliges Robbenbrummen, Wellenplätschern und das Sirren von Seeschwalben im Formationsflug – mehr ist in der nächsten Stunde nicht zu hören.
Auf Dauer kann so ein schallgedämpftes Glück ein wenig menschenscheu, ganz sicher aber egoistisch machen. Wer teilt schon gern, wenn er gewohnt ist, ein exklusives Rendezvous mit Robben haben zu können, wenn er ungestört zu den Megalithgräbern im Ards Forest Park wandern oder mitten im Sommer ganz allein in einer der schönsten Sandbuchten des Landes müßiggehen kann? Niemand sonst ist da, nicht einmal die übliche Möwenmafia lässt sich blicken, nur ein paar Austernfischer hinterlassen tapsend Anwesenheitsnotizen im Sand. Der Segen des Alleinseins. Wie viele Seufzer des Vergnügens in Donegal wohl schon vom Wind fortgetragen wurden? Und wie viele Flüche, wenn plötzlich doch eine Horde Kinder lärmend durch die Dünen des Sheskinmore Nature Reserve trollt? Diese kleinen akustischen Stinker, die schlagartig verstummen, weil sie den Otter entdeckt haben, der nun auf Goldmedaillenkurs durch den kleinen See flitzt. Als die Kinder vor Begeisterung über viele metallicblaue Libellen erneut zu krähen beginnen, bin ich bereits hinter der nächsten Düne verschwunden und es umgibt mich wieder sonntägliche Stille.
Sheskinmore ist Teil einer großen Küstenlagune samt Marschland, Sumpfregionen und Stränden und gehört zu Irlands wichtigsten Naturschutzgebieten. Das Gras hat den Sand hier so fest im Griff, dass keine Düne mehr auf Wanderschaft gehen kann. Stattdessen haben sie sich ein dickes Fell aus Wildblumen wachsen lassen. Im Frühling schicken Orchideen ihr farbenfrohes Flimmern aus, im Herbst zieht Schafgarbe eine goldgelbe Decke über das Land. Dachse, Füchse, Frösche und Kiebitze sind im Sheskinmore-Reservat zu Hause, und auch mit Rostbinde, Landkärtchen und Waldbrettspiel kann man hier Bekanntschaft machen, quasi im Vorbeiflattern. Unter all den Schmetterlingsarten in Sheskinmore trägt aber der schmuddelige Skipper, im Deutschen Kronwicken-Dickkopf genannt, wohl den lustigsten Namen. Mit ausgebreiteten Flügeln liegt dieser unscheinbar graubraune Falter gern an den trockeneren Hängen, wo in direkter Nachbarschaft auch Eidechsen ein Sonnenbad nehmen.
Ein leichter Wind streichelt über das Gras, als ich den Dünenweg zum Ballinreavy-Strand hinabsteige und mich Augenblicke später fühle wie das Walross und der Zimmermann im Nonsens-Gedicht von Lewis Carroll: The Walrus and the Carpenter/ Were walking close at hand;/ They wept like anything to see/ Such quantities of sand. Unter einem hohen hellen Himmel ist nur noch Sand, Sand, Sand in Sicht. Life is a beach. Das Leben ist ein Strand, und der liegt so glatt geföhnt da, als wäre heute Schöpfungstag Nummer eins und ich der erste Mensch, der probeweise seine Spuren hinterlassen darf. So müsste die Welt immer sein. Ein Gedanke, den ich in Donegal mehrmals täglich habe. Warum sagt einem das eigentlich niemand vorher, wie sensationell es hier oben ist?
Vermutlich weil viele Iren das selbst lange vergessen hatten. Als Wissenschaftler vor einigen Jahren in einem Dogenpalast des 17. Jahrhunderts eine sehr detailgenaue Wandkarte entdeckten, auf der sogar einige kleine Gemeinden Donegals eingezeichnet waren, unkte man dort in den pubs: »Stellt euch vor, in Venedig kannte man uns schon vor vierhundert Jahren, in Dublin erst seit vorgestern.« Der Hauptgrund für diese Vernachlässigung ist mit einem Blick auf die Landkarte sofort zu erkennen. Geografisch ist Donegal fast vollständig vom Rest der Republik abgeschnitten. Nur ein dünner Küstenstreifen verbindet die Grafschaft noch mit dem Süden, seit es 1921 zur Teilung der Insel kam und neue Grenzen gezogen wurden. Südirland wurde bald danach zum unabhängigen Freistaat, die historische Provinz Ulster im Norden blieb jedoch Teil des Vereinigten Königreichs. Auf Donegal, das ursprünglich ebenfalls zu Ulster gehört hatte, verzichtete man. Es war schlicht zu katholisch für die Schaffung eines nordirischen Staates, in dem eine protestantische Bevölkerung dominieren sollte. Die geografische Isolation von der Republik ist ein Grund, warum Donegal sich kulturell, sozial und wirtschaftlich nach Osten, in Richtung Nordirland orientiert. Deshalb ist vieles dort bis heute pures Ulster geblieben und klingt auch so. Der typische Singsang lang gezogener Vokale ist im shopping centre in Letterkenny und an der Tankstelle von Portsalon ebenso zu hören wie im »The Squealing Pig«, dem pub des quietschenden Schweins in der Stadt Muff. Muff liegt unmittelbar an der Grenze zu Nordirland und ist der Startpunkt für den Wild Atlantic Way. Der liefert übrigens ein weiteres Indiz dafür, dass Donegal tatsächlich lange Zeit vergessen oder zumindest arg vernachlässigt wurde. Ursprünglich sollte die Grafschaft gar nicht in den Atlantikweg einbezogen werden und die Route nur zwischen Cork und Sligo verlaufen. Weil die Marketingmenschen vom Tourismusamt letztlich weiser entschieden haben als manch irischer Politiker, mäandert die Küstenstraße nun doch durch Donegal und führt zu neununddreißig landschaftlichen Höhepunkten, den sogenannten Discovery Points. In Muff merkt Mary in ihrer Imbissstube »The Fishy Muff« nichts von einem Touristenboom. »Für Donegal hat es sich aber ganz sicher gelohnt«, meint sie. »Vorher wurden die südlich gelegenen Grafschaften bevorzugt, allen voran Cork, Kerry und Clare mit den Cliffs of Moher. Jetzt wissen die Leute auch von Donegals vielen Sandstränden und den sensationellen Klippen von Slieve League, und alle im Land kriegen ihren gerechten Anteil ab.« Ein bisschen mehr Aufmerksamkeit ist Donegal wirklich zu wünschen.
So viele historische Umbrüche, so viel Kummer über die jahrzehntelange Vernachlässigung und nun auch noch die Angst vor den unberechenbaren Folgen, die der Brexit, Großbritanniens Austritt aus der EU, haben könnte – Donegal hat Liebeserklärungen dringender nötig als everybody’s darlings Cork und Kerry. Man muss nur erst einmal von dieser Liebe ergriffen werden. Wer aber lässt sich schon auf eine Romanze mit jemandem ein, der den Ruf hat, durch und durch nass zu machen? Vielen ist die Grafschaft im Norden der Republik Irland nur aus dem Wetterbericht bekannt. Wenn der Atlantik angefeuert von Stürmen der Stärke zwölf gegen die Küste prallt, nennen die Meteorologen immer denselben Namen: Malin Head – der nördlichste Zipfel Donegals auf der Halbinsel Inishowen. Ein von allen Wettern geprüfter Ort. Hier toben sich die berüchtigten Islandtiefs als Erstes aus und liefern ihre ungeheure Regenfracht ab, und hier brechen auch die gewaltigen Stürme herein, denen sich auf mehreren Tausend Kilometern offener See kein Hindernis entgegengestellt hat und die das Meer zum Stoff für Albträume machen. Manannán ist wütend, heißt es dann.
Manannán mac Lir, der keltische Gott des Meeres, soll in den Wassern vor Donegals Küste hausen. Wenn sein Geist bei besonders heftigem Unwetter freigesetzt wird, macht auch der Wild Atlantic Way seinem Namen alle Ehre. Eine höllisch schwarze Wolkenwand hat die Sonne aus dem Verkehr gezogen. Streifen gegabelter Blitze erhellen den Himmel in elektrischem Blau, gefolgt von dröhnenden Donnerschlägen. Atlantikwellen prügeln gegen die Küste, wütende Winde fegen über das