Ein deutscher Herbst 1989: Eine Analyse des Umbruchs in der DDR
Von Yorck Wurms
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Yorck Wurms
Yorck Wurms hat in Südafrika u.a. für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, für die Europäische Kommission in Brüssel gearbeitet. Er lebt nun in Ferney-Voltaire in Frankreich und arbeitet im Bereich Migration.
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Buchvorschau
Ein deutscher Herbst 1989 - Yorck Wurms
1. Einleitung
1.1. Problemstellung
Niemand war auf den Umbruch in der DDR vorbereitet, weder in der DDR noch außerhalb. Das Bild, welches man sich in der Bundesrepublik vom anderen deutschen Staat gemacht hatte, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Wie wenig man sich in der Bundesrepublik mit der tatsächlichen Möglichkeit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beschäftigt hatte, zeigt die Benutzung des Begriffs Wiedervereinigung. 40 Jahre lang wurde er klaglos von fast allen gebraucht. Erst als das tatsächliche Nachdenken über die deutsche Frage einsetzte wurde klar welch sonderbaren Beigeschmack der Begriff der Wiedervereinigung hatte, denn wiederzuvereinigen gab es nur das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937.
So überraschend der deutsche Herbst kam, so in sich logisch war die Entwicklung. Es scheint, als hätte es nie eine Alternative zur Vereinigung gegeben. Diese wäre nur Anfang Oktober aufzuhalten gewesen, wenn es zu einer gewaltsamen Niederschlagung der Demonstrationen gekommen wäre.
Wie kam aber das bundesdeutsche DDR—Bild zustande? Politikern aller Parteien muß vorgehalten werden, daß sie ihre Kenntnis über den sozialistischen deutschen Staat in der Hauptsache über die Kontakte mit der Führung der DDR hatten. Es war nicht nur die SPD, die nach Fototerminen
mit Honecker strebte. Erwähnt sei nur der von Strauß vermittelte Milliarden—Kredit und der Besuch von Honecker 1987 in Bonn. Die DDR war in der Bundesrepublik in Vergessenheit geraten, sie war allenfalls noch gut genug, unsere Müllberge zu entsorgen. Die Sorge um die tatsächlichen Lebensumstände in der DDR war in der Bundesrepublik nicht groß.
Letztmalig wurde dies durch die Werbekampagne deutlich, die als der Übersiedlerstrom einsetzte von der Bundesregierung veranstaltet wurde. Die Übersiedler wurden als junge, arbeitswillige und gut qualifizierte Arbeitskräfte begrüßt, mit denen man das angeschlagene deutsche Sozialversicherungssystem sanieren konnte; an die Zurückgebliebenen dachte kaum jemand. Und was war mit den Übersiedlern, die nicht diesen Adjektiven entsprachen?
So wie wir die DDR vergessen hatten, so war im umgekehrten Verhältnis die Bundesrepublik immer in der DDR präsent. Das West—Fernsehen lieferte täglich Bilder vom reichen Bruder— land. Aber es war mit 3 Mio. Westbesuchen¹l von DDR—Bürgern bis zum August 1989 auch die konkrete Anschauung der Bundesrepublik. Zusätzlich berichteten über 5 Millionen bundesdeutsche Besucher 1988 in der DDR über die Lebensverhältnisse im westlichen Deutschland². Diese Vorstellungen vom Westen waren wie ein schleichendes Gift, welches die DDR von innen aushöhlte. Ab dem 9. November konnte sich jeder DDR—Bürger ein eigenes Bild von der Bundesrepublik machen, dies verstärkte das Streben nach der Einheit.
Die DDR war auch ein Staat, der in der Vergangenheit lebte. Das beschreibt vor allem die Wahrnehmung der Geschehnisse durch Honecker zu sehr war er dem kalten Krieg und den alten Parolen aus der Nachkriegszeit verhaftete und daher war er nicht in der Lage, die neue Situation wahrzunehmen und auf sie angemessen zu reagieren. Der Kapitalismus hatte für die meisten Menschen in der DDR seinen Schrecken verloren und taugte nicht mehr als Feindbild.
Die Rahmenbedingungen für die Veränderungen lieferte die UdSSR und dies in zweifacher Hinsicht. Erstens, weil sie sich nicht mehr wie früher in die inneren Angelegenheiten einmischte und zweitens, weil sie durch die Reformen unter Gorbatschow für viele Menschen die Hoffnung auf Veränderungen gab: Dies war der Antrieb für viele, auf Veränderungen hinzuwirken.
1.2. Vorgehensweise
Einen Forschungsstand zum Umbruch gibt es nicht. Eine Analyse wird zusätzlich dadurch erschwerte das auch die DDR—Forschung in der Bundesrepublik auf den Umbruch nicht vorbereitet war. Daher muß die Geschichte der DDR unter der Kenntnis ihres Zusammenbruches neu analysiert werden. Erst wenn dies geschehen ist, kann versucht werden, den Umbruch umfassend zu erklären.
Was vermag also diese Arbeit zu leisten? Sie hat viel geleistet, wenn sie die richtigen Fragen stellt und versucht, die tatsächlich wichtigen Geschehnisse zu beleuchten. Aus einer Vielzahl von Geschehnissen, Worten und Fakten wurde versucht, das m.E. Wesentliche herauszuarbeiten. Sie soll Hinweise auf die Sachverhalte geben, die einer genaueren Prüfung bedürfen. Sollte dies gelungen sein, hat sie ihren Zweck erfüllt.
Als Quellen dienen die Ausgaben der Zeitungen der Frankfurter Rundschau (FR), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und des Neuen Deutschland (ND) vom 1.8. - 23.12.1989. Dieser Zeitraum umfaßt den Beginn der Fluchtbewegung über Ungarn und endet mit der Öffnung des Brandenburger Tores. Die Auswahl der beiden Frankfurter Zeitungen soll dazu beitragen, daß sich die verschiedenen politischen Sichtweisen ausgleichen. Das ND wird bis Mitte Oktober dazu dienen, zu zeigen, wie die offizielle Lesart war. Im Laufe der Zeit kann das ND aber auch als Quelle für Fakten herangezogen werden.
Die Arbeit ist vom Aufbau chronologisch, es wird aber immer wieder versucht, in den einzelnen Unterpunkten sich einer systematischen Sichtweise zu bedienen. Insgesamt werden sechs Handlungsstränge verfolgt, die nicht getrennt voneinander zu sehen sind; sie sind Mosaiksteine, die zu einem Bild werden sollen. Es sei an dieser Stelle vermerkt, daß auf, eine Chronologie der zahlreichen Demonstrationen sowie der einzelnen spektakulären Fluchten fast gänzlich verzichtet wird, da sie kaum einen Erkenntniswert besitzen. Sie sind die Tatsachen, die, die ganze Zeit präsent sind.
Die Arbeit beginnt mit der Darstellung der Politik der Führung. Bis zur Ablösung Honeckers ist sie durch Lähmung gekennzeichnet, obwohl ihr das gesamte Ausmaß von Fluchtbewegung und der anwachsenden Opposition bekannt war. Nach dem Wechsel versuchte Krenz, die sozialistische DDR zu stabilisieren. Er war zu keiner fundamentalen Änderung der Politik in der Lage, diese wäre nötig gewesen, um u.U. Vertrauen bei der Bevölkerung zu gewinnen. Sie war dadurch gekennzeichnet, daß sie immer das nachvollzog, was faktisch schon entschieden war. Mit der Aufgabe des Führungsanspruches der SED wurde ab Mitte November die Führung von der Regierung übernommen. Aber auch Modrow gelang es nicht, die Ereignisse unter Kontrolle zu bringen, obwohl seine Politik eher dazu geeignet war, dies zu erreichen als die von Krenz.
Im zweiten und dritten Teil wird die Fluchtbewegung und die Oppositionsbewegung behandelt die beide, auch wenn sie unterschiedliche Stoßrichtungen hatten, zusammengehören. Beide entwickelten sich parallel und waren aufeinander angewiesen. Bis Anfang Oktober wachsen beide Bewegungen an.
Die Fluchtbewegung wurde dann mit der Aussetzung des visafreien Verkehrs in die CSSR am 3. Oktober kurzfristig eingedämmt. Die Opposition war bis zu diesem Zeitpunkt so weit angewachsen, so daß die Situation entschieden werden mußte. Die Entscheidung fiel am 11. Oktober, als sich die Maxime des Politbüros von Konfrontation zu Dialog veränderte. Die Fluchtbewegung blieb weiterhin bestehen. Die Opposition wurde in der Folgezeit von der stürmischen Entwicklung überholt. Ihren Höhepunkt hatte sie bei Kundgebung am 4. November in Ost—Berlin. Die Grenzöffnung läutete ihren Bedeutungsverlust ein. Mit dem 10-Punkte-Plan von Kohl wurde ihr die Möglichkeit genommen, gestalterisch tätig zu werden.Die Risse bei den Blockparteien vor der Ablösung Honeckers waren sehr klein. Sie profitierten von der Bresche, die die Opposition geschlagen hatte. Sie regten sich erst nach dem Sturz von Honecker, als es ungefährlich war. In der Folge war vor allem die problemlose Wendung der DDR—CDU erstaunlich.
Der sechste Gliederungspunkt beschäftigt sich mit der Politik in der Bundesrepublik. Bis zur Grenzöffnung ist sie von Zurückhaltung geprägt. Danach bestimmt vor allem die CDU das Geschehen mit ihrem Ziel der Einheit und dem daraus resultierend 10-Punkte-Plan Das Verhalten der SPD ist von fortwährenden innerparteilichen Auseinandersetzungen über die Zielsetzung gekennzeichnet, die dazu führten, daß sie ohne Einfluß auf die tatsächliche Entwicklung blieb.
Im letzten Abschnitt wird das Verhalten der Siegermächte analysiert. Es wird gefragt, wer welche Interessen hatte und wie versucht wurde, diese durchzusetzen. Andere Länder werden nicht betrachtete obwohl gerade das Verhalten von Polen einer eingehenden Analyse bedürfte. Im Rückblick sieht manches viel klarer aus vor allem die deutschlandpolitische Position der UdSSR.
¹ Vgl. Anwalt Vogel rät zum Verlassen der Ständigen Vertretung, In: FAZ, Nr.184, 11.8.1989, S.1
² Vgl. Der deutsch—deutsche Reiseverkehr hat stetig zugenommen, In: FAZ, Nr.199, 29.8.1989, S.4
2. Führung
2.1 Honecker contra Reinhold — Wie die DDR die Situation einschätzte
Die Führung unter Honecker unternahm nie einen Versuch, das Problem der Ungarnflüchtlinge und der Massendemonstrationen politisch zu lösen. Eine Ursache könnte die Erkrankung von Honecker gewesen sein, der am 18. August operiert wurde und erst am 25. September wieder in der Öffentlichkeit auftrat. Die Frage ist aber, wie wurde die Situation und deren Konsequenzen eingeschätzt. Situation meint die Lage in Ungarn und die Opposition in der DDR. Konsequenz bedeutet: Wie reagiert die DDR—Bevölkerung auf die neue Fluchtmöglichkeit und die selbstbewußter werdende Opposition.
Fünf Antworten sind m.E. möglich:
Erstens: die Situation wurde von der Führung insgesamt falsch eingeschätzt. Somit bestand kein Handlungsbedarf, dies wäre die These des Realitätsverlustes.
Zweitens: die Situation wurde richtig eingeschätzt, die Konsequenzen wurden aber falsch eingeschätzt. Die DDR-Führung wußte, daß DDR—Bürger über Ungarn fliehen würden, sie ging aber davon aus, daß es sich hierbei nur um einige tausend handeln würde. Da diese Bürger wohl der Opposition zuzurechnen waren, stellten sie keinen Verlust für die DDR dar. Vielmehr wurde durch die Abwanderung eine Stabilisierung erwartet. Voraussetzung für diese Sichtweise war, daß das Volk die DDR und den Sozialismus mehrheitlich befürworteten.
Drittens: die Situation und deren Konsequenzen wurden richtig eingeschätzt. Trotzdem ließ man den Dingen ihren Lauf. Ziel könnte es gewesen sein, bewußt eine krisenhafte Situation herbeizuführen. Die Sowjetunion, so die Überlegung, würde dann letztlich das Honecker—System stützen und langfristig stabilisieren. Voraussetzung für diese Annahme war, daß die Sowjetunion nicht dazu bereit gewesen wäre, die DDR aus ihrem Einflußbereich zu entlassen.
Viertens: es wurde auf das Scheitern Gorbatschows spekuliert und damit auf die Zurücknahme der Reformen. Doch selbst Hardliner Ligatschow erklärte bei seinem Besuch in der DDR, daß der Prozeß der Umgestaltung keine Modeerscheinung sei und daß es dazu keine Alternative gebe³. Dies könnte bedeuten, daß es für die DDR aus sowjetischer Sicht außer dem Beginn von Reformen keine Möglichkeiten gab und daß die UdSSR selbst bei einem Führungswechsel den Reformkurs beibehalten würde.
Fünftens: die Situation und deren Konsequenzen wurde richtig eingeschätzt, aber man sah keine andere Möglichkeit, die sozialistische DDR zu retten, als an dem administrativen Sozialismus festzuhalten. Diese Einschätzung entspräche der Reinhold—These.
Tatsächlich beschäftigte sich das Politbüro nicht mit der Frage der Flüchtlinge und Demonstrationen. Mittag, der das Politbüro während